Auf der Suche nach dem Märchenprinzen. Denise B. Frei Lehmann
Mitte August und Charlottes Herzstillstand lag über acht Monate zurück, trat Viviennes Assistentin Ulla ins Büro ihrer Chefin, um Arbeitsverträge zur Unterschrift vorbeizubringen. Die dunkelhaarige, eher kleingewachsene, sympathische Frau mit grossen braunen Augen und sportlichem Kurzhaarschnitt, hatte vor kurzem ihren 28. Geburtstag gefeiert und arbeitete seit einem Jahr in der Personaladministration. Bevor sie das Büro wieder verliess, drehte sie sich nochmals um. „Gerne würde ich dich und Richard zusammen mit Kochs zu einem Abendessen in unser neues Haus einladen.“ „Mit mir kannst du nicht rechnen“ wimmelte Vivienne Ulla wirscher ab, als sie eigentlich beabsichtigte. „Warum nicht? Ich möchte aber, dass du dabei bist. Was soll ich allein mit unserem Chef und seiner Frau? Und wenn ich dich allein einlade und Herr Koch kommt dahinter, ist er beleidigt. Du musst kommen, bitte, bitte!“ flehte Ulla. „Ist ja schon gut“ beruhigte sie ihre Assistentin, die sie als zuverlässige und loyale Vertraute sehr schätzte. „Dann werden Richard und ich halt auch mit von der Partie sein. Obwohl ich ihn garantiert dazu überreden muss, denn er mag die beiden nun mal nicht.” „Vielen Dank, da fällt mir ein Stein vom Herzen“, meinte Ulla sichtlich erleichtert. Nach der mehr oder weniger aufgezwungenen Zusage verspürte Vivienne einmal mehr ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend und ahnte, dass sie die Einladung besser nicht angenommen hätte.
Wie nicht anders zu erwarten war, zeigte Richard alles andere als Freude über die Aussicht, einen ganzen Abend lang zusammen mit Kochs an einem Tisch zu sitzen. „Wenn es denn halt sein muss, bin ich dabei“ sagte er widerwillig zu. „Danke Richard, doch bedenke, dass du auf Ullas Sofa strengstes Schlaf- und Schnarchverbot hast. Ich hoffe sehr, ich kann mich dieses Mal auf dich verlassen.“ „Ich gelobe es“ scherzte er und schaute dabei Vivienne schelmisch an.
Am verabredeten Abend trafen alle pünktlich im neuen Haus von Ulla und ihrem Mann Werner ein. Die Gastgeber begrüssten ihre Gäste herzlich und Ulla zwinkerte ihrer Chefin kurz zu. Vivienne stellte bewundernd fest, dass das sympathische Paar seine Gastgeberrolle perfekt beherrschte. Der Tisch war festlich gedeckt und aus der Küche duftete es verführerisch. Zum Apéro gab es Champagner und feine Häppchen; im Hintergrund rieselte romantische Musik aus den Lautsprechern der Musikanlage. Aus Viviennes Sicht hätte die Stimmung besser nicht sein können, wenn ihr Elena Koch nicht immer wieder seltsame Blicke zugeworfen hätte, die sie zuerst nicht richtig einzuordnen wusste. Plötzlich bemerkte sie, dass einer ihrer BH-Träger an der rechten Schulter zu sehen war, weil sie ein ärmelfreies Sommerkleid trug. ‚Was soll das?‘ überlegte sich Vivienne ärgerlich. ‚Will die Frau nun wegen solch einer Bagatelle miese Stimmung machen?‘ Den ganzen Abend hinweg schaute die Direktorengattin immer wieder auf die Achsel und Vivienne war drauf und dran zur Toilette zu gehen und den BH auszuziehen. Doch dies wäre keine gute Idee gewesen, denn dann hätten sich ihre Brüste durch den dünnen Stoff des Kleides abgezeichnet. ‚Da musst Du nun durch‘ versuchte sie sich zu beruhigen und gab sich Mühe, der seltsamen Frau einfach zuzulächeln, während sie die Achsel mit dem verrutschten BH-Träger immer wieder aufs Neue fixierte.
Ulla brillierte derweil in ihrer Gastgeberrolle und reichte zum ausgezeichneten Essen köstlichen französischen Rotwein. Ihre Gäste liessen sich dies gerne gefallen und lauschten bei Kerzenschein den Klängen amerikanischer Schnulzen, die aus den Lautsprechern rieselten. Vivienne mochte die sanften Klänge und fühlte sich auf angenehme Weise berührt. Elena Koch sass ebenfalls mit verträumtem Blick da und unterliess es für den Moment, auf Viviennes Schultern zu starren. ‚Wenn jetzt der Märchenprinz daher geritten käme und mich küssen würde, hätte ich nichts dagegen‘ überlegte Vivienne. Ihr Herz war übervoll vor Liebe und Leidenschaft, die sie bis anhin nie mit dem richtigen Mann zu teilen vermochte. ‚Wie lange muss ich wohl noch warten?‘ überlegte sie mit Blick auf Richard, der wohl ihr guter Freund und Vertrauter war, jedoch von romantischen Liebesgefühlen nicht viel hielt und schon gar nichts davon verstand. Wohl liebte er sie auf seine Weise, doch seine wirkliche Leidenschaft galt seiner Setzerei. Als Sohn aus ärmlichem und kinderreichem Elternhaus war es für sein Selbstbewusstsein zwingend, irgendwann zu grossem Reichtum zu kommen. Mit Unbehagen beobachtete Vivienne dieses Greifen nach den Sternen, die ihrer Meinung nach für Richard einfach zu hoch hingen. Er setzte sich ehrgeizige Ziele, die es normalerweise Schritt für Schritt zu erreichen galt. Doch seiner Meinung nach hatte er keine Zeit dazu, sondern wollte alles möglichst sofort. Diese Einstellung und dieses fast schon fanatische Streben nach Reichtum war ein weiterer Grund, warum es zwischen ihnen beiden auf Dauer einfach nicht funktionieren konnte. Sie selbst war zwar ebenfalls ungeduldig, manchmal ganz schön verträumt, oft naiv, doch wenn es um Geld und Karriere ging, war sie Realistin und plante Schritt für Schritt.
Vivienne schaute in die Runde der Anwesenden und stellte fest, dass alle in Gedanken versunken der Musik lauschten. Plötzlich spürte sie eine Berührung an der linken Fussfessel. Im ersten Moment dachte sie, Richard würde einen Annährungsversuch starten, was sie allerdings mehr als überrascht hätte. Er sass ihr gegenüber und gab sich verkrampft Mühe, nicht vom heiss ersehnten Schlaf übermannt zu werden. Als er Viviennes Blick spürte, tat er so, als wäre er hellwach und grinste sie an.
Sie warf einen weiteren Blick in die Runde und bemerkte Konrad Kochs verschmitzten Gesichtsausdruck. Mit liebevollem Blick beobachtete er die heimlich Angebetete, in die er seit Wochen verliebt war. Zwar gab er sich alle Mühe, seine Gefühle im Zaun zu halten, doch Frau Zeller, wie er sie immer noch nannte, war für ihn zum Rettungsanker in der schlimmsten Zeit seines Lebens geworden. Vor Charlottes Herzstillstand empfand er ihr gegenüber Sympathie und eine gewisse Bewunderung, wie sie all die von ihrem Vorgänger hinterlassenen Personalprobleme in kürzester Zeit löste. Zudem hatte sie Humor, lachte gerne, manchmal aus Sicht von Rudolf Matter auch zu laut. Doch dies störte ihn überhaupt nicht und er liess sie gewähren. Schliesslich konnte er ihr nicht verbieten, laut zu lachen, nur weil es dem CEO nicht passte. Nun, da sie ihm im Kerzenschein vis-à-vis sass, wirkte sie auf ihn noch schöner und verführerischer als bei Tageslicht. Am liebsten hätte er sie in seine Arme genommen und entführt. Irgendwohin, weit weg, wo es nur sie beide gab, die sich in Liebe und Leidenschaft verlieren und ihn das Trauma um Charlottes Drama vergessen lassen würde. Während er den verbotenen Gedanken freien Lauf liess, konnte er sich entgegen jegliche Vernunft nicht zurückhalten, seine Angebetete wenigstens unter dem Tisch am Bein zu berühren. Er hoffte seit Wochen auf ein Zeichen, dass sie genauso für ihn empfand, wie er für sie. Doch die Hoffnung war bislang vergebens und darum musste er die Gelegenheit nutzen und ihr zu verstehen geben, wie es wirklich um ihn stand. Vivienne schaute in seine Augen und wurde sich bewusst: ‚So hat mich noch nie ein Mann angeschaut und dieser Mann hätte mich auch nie so anschauen dürfen. Schon gar nicht in Begleitung seiner Frau.‘
Elena Koch und Richard bemerkten zum Glück nichts von Konrads Flirtattacke. Ulla und ihr Mann waren in der Küche, um Dessert und Kaffee vorzubereiten. Bevor Ulla die Nachspeise servierte, meinte sie mit Blick auf ihre Gäste: „Nun wäre eine gute Gelegenheit, dass wir Euch unseren besonderen Weinkeller zeigen. Herrn Koch und Frau Zeller habe ich diesen bereits während des Aperitifs gezeigt, doch Frau Koch und Herr Bigler haben ihn noch nicht gesehen.“ Ulla verhielt sich förmlich, da sie nur mit Vivienne und Richard per Du war. Zum ungeschriebenen Gesetz der Firma Matter gehörte, dass die Direktoren sich mit keinem ihrer Mitarbeiter duzen sollten, auch nicht mit den engsten. Nicht mal innerhalb der Geschäftsleitung war man per Du, sondern man achtete auf Distanz, was einem konstruktiven Arbeitsklima nicht immer zuträglich war.
Richard und Elena Koch folgten Ulla in den Keller und Werner hantierte in der Küche herum, während Vivienne und ihr Chef weiter am Tisch sitzen blieben. Jetzt oder nie‘ überlegte Konrad, stand rasch auf und setzte sich neben Vivienne, um sie auf den Mund zu küssen. ‚Oh mein Gott, soll ich ihm jetzt eine runterhauen?‘ war ihr erster Gedanke. Warum musste ausgerechnet ihr verheirateter Chef sie küssen, den sie bis anhin nicht besonders mochte, obwohl sie in letzter Zeit eine unerklärliche Verbindung spürte. „Sie haben jetzt grad eine Grenze überschritten, die nur in einer Katastrophe enden kann“ flüsterte sie ihm energisch zu. Er schüttelte lächelnd den Kopf und küsste sie nochmals, dieses Mal um einiges intensiver. ‚Fühlte sich so der Kuss des Märchenprinzen an?‘ Vivienne kam nicht dazu, ihre Frage zu beantworten, denn Werner brachte das Dessert aus der Küche und Ulla kam mit Elena Koch und Richard aus dem Weinkeller zurück. Konrad sass wie ein braver Schuljunge wieder auf seinem Platz und niemand ahnte, was sich wenige Minuten