Wer A sagt, sollte auch weitergehen. Winfried Niebes

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können.

      Damals zählte die Rheinstadt noch keine Million Einwohner. Ein Jahrzehnt später wurde im Zuge der kommunalen Neugliederung durch politische Entscheidungen ein großes kommunales Gebilde konstruiert; trotz heftiger Gegenwehr vieler.

      So saß ich mit meinem Koffer auf den roten Kunststoffsitzen im überquellenden Abteil und war bis in die Haarspitzen angespannt und aufgeregt wegen der auf mich zukommenden neuen, unbekannten und völlig fremden Umgebung und vermutlich anderen Arbeitswelt. Dreiundzwanzig Jahre war ich alt, hatte eben den Abschied meines Vaters vom Sohn erlebt.

      Ja, er weinte auf dem Bahnsteig – ich sah vor mir seine unmännlichen Tränen auf den vom Bluthochdruck geröteten Wangen kullern. Lange mochte er nicht, dass ich es sehe, winkte nochmals, drehte sich rasch um und verschwand schnell aus meinen Augen. Er ahnte sicher, was ich noch nicht wissen konnte, dass meine Reise durch die Lande und kommenden Zeiten begonnen hatte.

      Eine besondere Anspannung beherrschte in den nächsten drei bis vier Stunden bis zur Ankunft in der Kreisstadt Gevelsberg den ersten Akt meines jugendlichen Abenteuers. Vom Telefon meiner Eltern aus hatte ich bereits in der Jugendherberge ein Zimmer bestellt. Von dort beabsichtigte ich, mit dem Zug oder Bus Ennepetal zu erreichen.

      „Was wird mich erwarten? Wie sind die Menschen in Westfalen? Tatsächlich stur, wie so dahergeredet wird?“

      Ja, das waren meine bestimmenden Gedanken, als die Dampflok schnaufend und Massen von dickquellendem grauem Qualm aus dem Schornstein prustend den Aufstieg hoch Richtung Schmidtheim schaffen musste.

      Dieser Ort ist wie mein ehemaliger Wohnort bereits sehr alt. Die Römerstraße von der Mosel quer durch die Eifel bis zum Rhein berührt Schmidtheimer Gemeindegebiet, nicht weit entfernt finden sich Reste einer römischen Bebauung. Die Franken besiedelten nach und nach die fruchtbare Blankenheimer Kalkmulde, zu der Schmidtheim gehört. Die Orte Dahlem und Baasem wurden vermutlich im 7. Jahrhundert als fränkische Siedlung gegründet. Während meiner Volksschulzeit zeigte ich besondere Aufmerksamkeit zu Themen der eigenen Region sowie insgesamt zum Rheinischen Schiefergebirge; aber die deutschen Landschaften weckten meine Neugierde. Allerdings sind mir Lehrinhalte zu Bodenschätzen und Geologie fremd geblieben und ich musste mich jetzt im Schrifttum informieren. Ich belas mich zur Verarbeitung von Eisen in der Eifel und lernte über die Verhüttungsanlagen im fünften Jahrhundert v.Chr. während der Eisenzeit. Danke sagen darf die Eifel den Römern, welche nicht nur den Weinanbau nach Mitteleuropa „beförderten“, sondern dieses Mittelgebirge zu einem bedeutenden Wirtschaftsraum entwickelten.

       Daher ist es nachvollziehbar, dass infolge Eisenerzvorkommen, der Verhüttung sowie der Bearbeitung des Eisens dem heutigen Schmidtheim als Siedlung irgendwann der Name „Schmiedeheim“ zukam.

      Es war ein warmer Endsommertag. Das Fenster auf der rechten Seite hatte ich geöffnet, um unterhalb der Bahnstecke in Glaadt meiner Schwester zuwinken zu können. Das Haus und der große Garten waren wunderbar einsehbar. Die teilweise bereits herbstlich gefärbten Blätter an den vorbeihuschenden Bäumen hätte ich in der engen Schlucht ab dem Ortsteil Glaadt bei geöffnetem Fenster fast greifen können. Allerdings stand mir nicht der Sinn nach Blättern. Die Reize des nahenden Herbstes interessierten mich heute nicht. Bisher hatte ich in der heimischen Idylle die tausendfache Farbenpracht genossen, sodass mir der Herbstduft sogar auf irgendeine Weise in meine Nasenflügel kroch. Wie gut hatte ich in Erinnerung, wenn nach sonnendurchfluteten Tagen im letzten Herbst die heftigen von Westen herannahenden Stürme an den hohen Giebelwänden heulten und vorbeirauschten. Keinen Hund wollte man an solchen Tagen vor die Tür schicken, zumal noch einhergehende Regengüsse auf das karge und felsige Erdreich prasselten. Wie dagegen würden meine Tage in diesem Herbst aussehen? Ich wusste es nicht. Heute galt es für mich, loszulassen.

      Nach einigen Kurven bergan sah ich den dicken schwarzen Qualm aus dem Schornstein der Lok steigen. Unbedingt musste ich nun meinen Kopf zurückziehen, das Fenster schließen, damit der beißende Ruß nicht in meine Augen dringen konnte. Äußerlich gelassen beobachtete ich die vorbeiziehenden und sich auflösenden schwarzen Rauchschwaden, es beschäftigte mich ein Gedankengewirr.

      Um die Steigung ab Jünkerath von vierhundertdreißig auf eine Meereshöhe von fünfhunderteinundvierzig Metern zu bewältigen, musste das große Feuerloch mit einer Menge Steinkohle oder Koks gefüttert werden, damit volle Kraft entwickelt wurde. Die feuerrote Glut bescherte dem Heizer ordentliche Schweißausbrüche. Ich erinnere mich, dass mein Vater, Heizer auf Dampfloks, des Öfteren beim Abendessen über die zu schaufelnde Menge erzählte. Wie das so ist, als Kind gelangen die Worte in die Ohren und vielleicht verbleiben ein paar rudimentäre Reste für das Langzeitgedächtnis.

      Mein Zug, aus Trier oder Saarbrücken in Blankenheim eingetroffen, sollte mich zunächst in die rheinische Hochburg des Karnevals bringen, wo ich in einen anderen Zug umsteigen musste. Die Station „Nirgendwo“ stellte für mich „Ennepetal in Irgendwo“ dar. Deren geografische Lage hatte ich nach Bewerbungszusage nur im Atlas auf der Karte ausspähen können.

      Doch zunächst sollte mich mein Reiseweg nach kurzem Aufenthalt in das westfälische Gevelsberg führen, wo eine Übernachtung vonnöten war, da ich mein Ziel an diesem Tag nicht mehr erreichen konnte. Der Name der Stadt löst bei mir heute noch einen leicht bitteren Nebengeschmack aus.

      In der Zentrale der Jugendherberge wurde mir die zweite Etage mit Nummer siebzehn genannt. Gespannt wie ein Flitzebogen schleppte ich meinen Koffer und eine Umhängetasche – damals gab es sogenannte Campingbeutel – in das genannte Zimmer. Viel später erfuhr ich im Sachsenland, dass dieses Wort zum typischen DDR-Wortschatz gehörte; gemeint war dort ein kleiner Rucksack. Als ich in den Raum schritt, bemerkte ich erschrocken, dass bereits ein fremder Mann auf einem zweiten Bett seinen Koffer auspackte und den neben ihm stehenden schmalen Kleiderschrank befüllte. Meine Unerfahrenheit hatte mich bei der Buchung nicht auf die Idee gebracht, speziell ein Einzelzimmer zu bestellen. Sofort musste ich mich auf die neue Situation einstellen. Den Koffer entleerte ich rasch auf dem Bett in Türnähe; ebenso die Umhängetasche mit dem Rasierapparat und einigen Waschutensilien. Er hatte für sich das Bett unmittelbar an der Fensterfront auserwählt. Wir sprachen über dies und jenes. „Gute Nacht“, wünschten wir uns gegenseitig und der Schlaf hätte einsetzen dürfen. Mein Nachbar schlief, während ich noch grübelnd über die gemeinsame Nacht mit offenen Augen an die Decke blickte. Der Mond schien durch die dünnen Gardienen, sodass die Lampe in der Zimmermitte kleine Schatten an die Decke warf. Jetzt schien mein mehrjähriges Privileg, allein schlafen zu dürfen, zu enden. Irgendwann hatte sich der Mond hinter den Wolken versteckt. Ich hätte keine Gestalt vor meinem Bett gesehen; so stockdunkel war es im Raum. Es war jedoch nicht mucksmäuschenstill. Mein Nebenmann schien Waldarbeiter zu sein. Einige Festmeter des harten Eichenholzes hatte der Ärmste sägen müssen. Nichtstun war angesagt, weder Schlafen noch Umherwandern erschien als Möglichkeit. Am Morgen begrüßte jener mich fröhlich, er war schließlich im Gegensatz zu mir ausgeschlafen und munter. Mein für ihn unerwartetes Stöhnen aus meinem Munde über sehr unruhigen Schlaf hörte er sich an. Ob er, selbst noch mit schläfrigem Gesicht, meine müden Augen erblickte, habe ich nicht nachgefragt. Selbstverständlich haben Schnarcher kein Verschulden, für mich bedeutete es eine Qual.

      „Ich kann die nächste Nacht bei allerbestem Willen hier nicht bleiben“, sagte ich ihm, „ich muss sehen, was möglich wird. Meine wenigen Habseligkeiten packe ich rasch und versuche, den nächsten Zug oder Bus zu erreichen.“

      Mein Bettnachbar ist mir im Laufe der Jahrzehnte nie mehr begegnet. Obwohl ein chinesisches Sprichwort lautet: „Sei freundlich, wenn du jemanden das erste Mal triffst, du triffst ihn ein zweites Mal.“ Die Peinlichkeit stelle ich mir vor, wenn auf dem Weg zur Vorstellung böse Worte auf der Straße fallen und dann stehst du vor dem möglichen künftigen Chef. Große Hoffnung keimte in mir, am ersten Arbeitstag Hilfe zu einem ruhigen Bett zu erhalten.

      Sofort nach Ankunft im Rathaus in Ennepetal führte mich jemand aus der Personalabteilung in die Tiefbauabteilung, meine künftigen Arbeitsumgebung. Dort lernte ich eine von Gestalt kleine und nach dem ersten Eindruck nicht überhebliche, freundliche Person kennen, meinen künftigen Abteilungsleiter. Ein weiterer Kollege, der für mich mittelalterlich erscheinende Stellvertreter aus Ostfriesland, fühlte sich hier in


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