Wer A sagt, sollte auch weitergehen. Winfried Niebes
vom Tellerwäscher zum Millionär fanden nicht nur wegen günstiger Zeitpunkte oder aus Zufall statt. Ideenreichtum führte ebenso zum Erfolg wie Gelegenheiten mit riskantem Einsatz zu nutzen.
Eine andere Antwort von Vater zu den eventuellen Fragen zur damaligen Zeit summt sehr schwach in meinen Ohren: „Du redest mit deinem jugendlichen Unverstand über längst vergangene Zeiten. Wir wären sofort vom nächsten hitlertreuen Offizier erschossen oder von der Gestapo verhaftet worden. Mit Meuterern und Fahnenflüchtigen wurde kurzer Prozess gemacht. Als einfacher Soldat hatten wir erhebliche Sorge vor Spionen in unserer Truppe.“
Anscheinend überzeugte mich seine Aussage. Mein Versuch zu einem weiten Rückblick in seine Jugendzeit kann nur dem Charakter eines Ratespiels gleichkommen. Mir schwant, dass er Ende der 1930er Jahre sein äußerst schweres Leben zu Hause möglicherweise verändern wollte. Vielleicht verfiel er wie unzählige Menschen, angestachelt durch Figuren wie Goebbels, Göring, Himmler, Heß und Speer mit ihren propagandistischen Fähigkeiten, die eine große Zukunft für Deutschland prophezeiten, in Blindheit und hoffnungsvollen Glauben an bessere Zeiten.
Die Forschungsgruppe Wahlen erstellte im Jahr 1996 eine Umfrage zum Wissen der Deutschen über die Verfolgung der Juden und deren Ermordung in den Gaskammern. Ob meine Eltern irgendwelche Kenntnisse darüber hatten?
Mit besonderem Interesse, aufkommendem Zorn, Wut und Entsetzen nahm ich ausgiebige Darstellungen im Prümer Landboten zur Flüchtlingsgeschichte der Juden im Eifelraum während der NS-Zeit auf. Der umfangreiche Artikel verdeutlicht in der Eifelgeschichte die Parallele mit der im 21. Jahrhundert nicht zu übersehenden „Flüchtlingskrise“ mit Not, Verfolgung und Verschleppung. In der Eifel mit ihrer grünen Grenze zu Belgien entwickelten sich Fluchtmöglichkeiten über die ehemalige Bahnstrecke, die „Vennbahn“, zwischen Aachen und Ulflingen (frz.: Trois- vierges) in Luxemburg. Bahnanschluss bestand zwischen Prüm und Jünkerath. Neben dem für manche Grenzbewohner einträglichen Schmuggelgeschäft mit Kaffee und Zigaretten wurde der Menschenschmuggel durch hilfsbereite Menschen, welche ein hohes Risiko auf sich nahmen, organisiert. Politiker forderten bereits im Jahr 1933 eine verstärkte Kontrolle durch SA-Männer. Die Pogromnacht im November 1938 verstärkte bei der jüdischen Bevölkerung den dringenden Wunsch, mit Schleusern nach Belgien und in andere Länder zu fliehen. Berichtet wird über die Flucht eines kranken jüdischen Mädchens aus der Eifel bis nach Liverpool.
Wenn ich über die verzweifelte Flucht unbegleiteter Judenkinder lese, muss der damals dringende Appell des englischen Premierministers Lord Baldwin um die Wende zum Jahrzehnt 2019/2020 ohne Abänderung wiederholt werden: „Ich bitte Euch, den Opfern dieser Katastrophe beizustehen, die keine Naturkatastrophe ist, kein Erdbeben und keine Überschwemmung, sondern eine Katastrophe vom Ausbruch von Unmenschlichkeit der Menschen gegen ihre Mitmenschen.“ Im Grenz-Echo (damals ein Publikationsmedium) wurde 1939 über das Problem der jüdischen Flüchtlinge berichtet. Besonders dokumentiert las ich in dem umfangreichen Beitrag von der großen Aufnahmebereitschaft – im Gegensatz zu anderen Nationen – der belgischen Bevölkerung. In Schüller, nur zwanzig bis fünfzig Kilometer vom deutsch-belgischen Grenzgebiet Losheimergraben oder Winterspelt entfernt, müssen doch Informationen über das damalige Geschehen bekannt geworden sein.
Hat hier denn niemand die diskriminierenden Zeitungsartikel der gleichgeschalteten NS-Presse gelesen? Die erschütternden Szenen der Flüchtenden in der Winterzeit ab Dezember 1938 im deutsch-belgischen Grenzgebiet mit schier unüberschaubaren Wäldern und Mooren der Eifel und Ardennen können nach meinem Dafürhalten den Dorfbewohnern auf dem Berg bei Jünkerath nicht verborgen geblieben sein. Der Ort war doch nicht von der Außenwelt abgetrennt, sodass entweder durch Zeitungen oder zumindest „der stillen Post“ das Geschehen publik werden musste. Sollte Vater von alldem nie etwas gehört haben?
Seine mögliche Kenntnis zur damaligen Situation verbleibt für mich dauerhaft ein Geheimnis. Selbst wenn zu den Menschen auf irgendeine Art Informationen gelangt sein sollten, will ich gerne annehmen, dass diese längst nicht alles toleriert oder gewollt haben. Vielleicht wollten oder mussten sie in der Nachkriegszeit wegen anderer Sorgen manches mit aller Gewalt verdrängen?
Nun lese ich bei Wikipedia, dass bei Befragungen der Alliierten ab 1945 viele Deutsche stereotyp antworteten, von den NSMassenmorden nichts gewusst zu haben, daher verstehe ich vielleicht Vaters „Ausflüchte“. Damals galt dies den Beobachtern als Schutzbehauptung, die eine befürchtete Bestrafung abwehren sollte oder als psychisch selbstheilende Verdrängung. Im Frühjahr 2020 warfen die Medien die Frage auf, weshalb die deutschen Bischöfe nicht gegen die NS-Herrschaft protestierten. Die Kirchenzeitung widmete dem Thema einen großen Artikel mit einer Diskussion zur Frage: „Wann müssen wir Gott mehr gehorchen als den Menschen?“ Der Historiker Christoph Kösters antwortet dort ausführlich zu dieser grundsätzlichen Frage. Mir scheint, es gab bei den Kirchenvertretern erheblich unterschiedlich Auffassungen zum richtigen Weg. Jedoch setzten viele Priester ein persönliches Zeichen gegen das herrschende Regime, ansonsten hätten wohl kaum mehr als vierhundert Priester im Konzentrationslager Dachau ihr Leben lassen müssen.
Leider musste ich im Laufe der letzten Jahre erfahren, dass es in der Bundesrepublik der Sechzigerjahre gang und gäbe war, die früheren Zeit totzuschweigen. Eine Aufarbeitung der schrecklichsten Zeit des 20. Jahrhunderts unterblieb. Da viele Männer mit profunden Verwaltungs- und juristischen Kenntnissen als Soldat ihr Leben ließen, erfolgte der Einsatz früherer Nazis in Behörden und wo ebenfalls die früheren Akteure zum Aufbau der vom Krieg heimgesuchten Strukturen fehlten, schien eine willkommene Gelegenheit zu sein. Sie ermöglichte das eigene Verheimlichen. Ich konnte nicht begreifen, dass Kommunisten Nazis Unterschlupf in Brot und Arbeit brachten.
Doch auch zu anderen Zeiten, an anderen Orten sind solche kollektiven Verdrängungen zu beobachten. Eine Rundfunksendung des Deutschlandfunks am 05. Oktober 2019 verdeutlichte mir dreißig Jahre nach der Wende das Funktionieren der aktiven Verdrängung von ungeheuerlichen Geschehnissen. Wieso ist es möglich, dass manche Bürger in Torgau zu dem grausamen, menschenverachtenden und rechtswidrigen Jugendwerkhof nichts hören oder nicht darüber diskutieren wollen? Die Journalisten stellten ein ablehnendes oder schweigendes Weitergehen fest. Manch einer will heute weder Informationen über den Missbrauch an heranwachsenden Mädchen durch den damaligen Direktor dieses „Kindergefängnisses“ hören noch darüber etwas wissen wollen. Wie darf ich das deuten? Leben jene jetzt nur notgedrungen, da sie hier halt leben, im neuen rechtsstaatlichen Staatsgefüge und trauern dem abgelösten System nach?
Gleichfalls könnte ich oft aus den mir bekannten jugendlichen Erfahrungen meiner Eltern im Hinblick auf die im aktuellen Jahrhundert eingetretenen weltweiten politischen Verhältnisse müde und kraftlos werden. Wie wird das enden, wenn sogar junge Menschen mit Nazi-Symbolen auf der Straße hetzen oder sogenannte Reichsbürger unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung aus den Angeln heben wollen? Wie hoch ist die Gefahr eines neuen, eines deutschen jungen Hitlers? „Der Geist des Flügels wird lebendig sein, in dieser AFD …“ ist am 30. April 2020 in einem Bericht des Deutschlandfunks über eine Rede von Björn Höcke zu hören. Selbst wenn die Flügelauflösung erfolgen sollte, sind Menschen mit dieser Gesinnung im Staat und können zukünftig großes Unheil anrichten.
Bei allen Problemen, weltweit, sollten wir Wohlbefinden spüren und heilfroh sein, in der Bundesrepublik Deutschland leben zu dürfen. Unsere Demokratie steht (noch) auf festem Fundament. Eine gesteigerte Hoffnung beseelt mich, dass die Menschen in „meinem“ Deutschland die Zeichen der Zeit früh genug erkennen werden und vielleicht kurz vor Toresschluss jeglichen Radikalismus in der Wahlkabine abzuwenden wissen.
Vielleicht habe ich aber auch deshalb so wenig gefragt, weil ich des Themas überdrüssig war. Jahrzehnte mochte ich absolut nichts über die Naziherrschaft hören und sehen. Eine gewisse Portion Bedauern erreicht mich nun, die vor mehr als zwanzig Jahren von ARTE in mehreren Teilen ausgestrahlte Dokumentation von Guido Knopp20 seinerzeit völlig außer Acht gelassen zu haben.
Unweigerlich ergreift mich der Gedanke, aus unerklärlichen Gesichtspunkten die Kriegszeiten lieber im Schrank der Geschichte verschlossen zu haben. Recht lange Zeit benötigte ich, um mich für die Geschehnisse der 30er und 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts zu interessieren. Aber es ist nie zu spät – erst nach dem Tod bleibt alles im Dunkel. Nunmehr rumort es intensiv in meinem Gehirn