Wer A sagt, sollte auch weitergehen. Winfried Niebes
nie vergessene Begebenheit lässt mich auf eine Tanzveranstaltung in Schüller zurückblicken. Die Kinder der wohlbetuchten Familie Scheibler, eine Dynastie mit bedeutenden Persönlichkeiten der Textil- und Chemiebranche (Chemische Werke im Stadtteil Kalk), wurden bei ihren Aufenthalten im Dorf von einem Kindermädchen betreut. Ende der 1960er Jahre versuchte ich, das nette Mädel für mich zu gewinnen. Aber irgendeine schüchterne Blockade stoppte mich in meinem Feuer. Mein Mut reichte nur zu einem Tanz während der Kirmes. Schön ist die Erinnerung, wie sie sich führen ließ und in meinen Armen mit mir im Walzertakt über das glatte Parkett dahinschwebte. Mein Blut stockte, sodass ich keinen Redestoff entwickeln konnte. Für mich bestand die Lösung in der Suche nach einem passenden Auflockerungsmittel. Im ersten Raum links vor dem großen Saal war die Theke. Was macht man dann? Meine einzige Idee verwirklichte ich sofort, meinen Mut mit zu vielen Gläschen Doornkaat aufzubauen. Unmittelbar vom Tanzsaal aus gelangte man durch eine Tür zum Tresen. Hier stand ich nun und bestellte mir das erste Gläschen Doornkaat, dann noch eins und so fort. Deren Menge schien zu viel für mich zu sein, zudem stellte sich der erhoffte Mut nicht ein. Das Gegenteil kam auf mich zu: Eine derart große Müdigkeit überfiel meinen jungen Körper, dass ich draußen an der Schulhofmauer im kühlen Oktoberwind stehend mit einem Schläfchen die Umgebung vergaß. Der Abend gestaltete sich völlig anders als geplant und erwartet. Der fünf Jahre ältere und forschere Joseph nutzte die Gunst der Stunde und ich schaute in die Röhre.
Mein Freund Peter vermisste mich nach kurzer Zeit und kam mit meiner Patin Maria nach draußen. Sie hakten sich bei mir ein, um mich zu stützen, und lenkten ihre Schritte zu mir nach Hause.
Dort angekommen, war ich hellwach und flüsterte ihnen zu: „Seid leise, ich möchte die Eltern nicht wecken.“
Manch einer wird nun deren leichte Aufregung, anders ausgedrückt, Erbostheit, verstehen.
„Wir schleppen dich hierin und jetzt ist nichts gewesen?“
Mit erstaunten Riesenaugen schauten sie zu, wie meine rechte Hand mit ruhiger und bedächtiger Führung des Schlüssels überaus vorsichtig am Schließblech entlang das Schlüsselloch erreichte und die Haustür sich öffnete. Übrigens hatte ich diese Übung samt und sonders parat, wenn ich nachts sehr spät nach Hause kam. Völlig ohne irgendwie in Sorge zu sein, erzählte ich den Eltern meistens am nächsten Tag den Zeitpunkt meiner Heimkehr. Anfangs waren sie zwar wenig begeistert und äußerten die Sorge, dass ich zu wenig schlafe. Denn: Nicht wie die heutige Jugend es häufig pflegt, schlief ich bis zum Mittagsessen. Spätestens zehn Uhr war ich aus den Federn gekrochen, auch nach nur fünf Stunden Schlaf. Mit der Zeit gewöhnten sie sich an meine Rückkehrzeiten. Häufig kam ich, ohne irgendeinen Happen verspeist zu haben, des Nachts ins elterliche Heim. Meine Beine führten mich mit Gelüsten schnurstracks zum Kühlschrank und ruck, zuck schnappte ich mir ein paar Scheiben Käse oder griff nach herrlich duftenden frischen Wurstscheiben. Hin und wieder erinnere ich mich heutzutage an diese Gewohnheit und stille eine kleine Sehnsucht nach fester Nahrung ebenso mit nur ein oder zwei Scheiben Käse oder Schinken.
Eine sonderbare Episode darf ich den Lesern nicht vorenthalten. Peter und ich gingen hin und wieder während einer Veranstaltung zu mir nach Hause und nippten einen winzig kleinen Schluck aus der Tosca-Parfümflasche meiner Mutter – das sollte nach seiner Meinung gegen rasches Betrinken wirken. Später haben er und ich noch oft darüber gelacht.
Tanzen, oh ja, das war meine große Leidenschaft. Einen Tanzkursus zu absolvieren war weder für mich noch für meine Schwestern jemals eine echte Überlegung. Die Kursgebühr wäre eine schöne Stange Geld für meine Eltern gewesen, die sie nicht verfügbar hatten. Die Kunst der üblicherweise von der Musikkapelle auf der Bühne gespielten Tänze wie Tango, Foxtrott oder English Waltz, manchem als Langsamer Walzer bekannt, brachten mir örtliche Frauen bei. Überwiegend nicht älter als vierzig Jahre, hübsch und meistens verheiratet. Mit dem Doppelschritt zum Wiener Walzer bestanden trotz mehrmaliger Versuche gelegentlich einige Schwierigkeiten. Jedoch fiel der Groschen im elterlichen Wohnzimmer während einer Übungsstunde mit meinem Vater. Alsdann drehte ich meine Tanzpartnerin links- oder rechtsherum wie ein Wirbelwind. Sobald die Musiker ihre Instrumente nach kurzer Pause in die Hand nahmen, schoss ich, ehe der Aufruf zum Tanz erschallte, zu dem von mir erspähten auserwählten Mädel. Manchmal genügte es, ihr quer durch den Saal zuzuwinken. Da ich immer sehr zeitig anwesend war, hatte ich reichlich Gelegenheit, meinen Sitzplatz an einem Tisch mit Bühnenblick zu besetzen. Damals galt es, den Modetanz Twist im 4/4-Takt auf das Parkett zu legen. Das gab mir eine hervorragende Gelegenheit, wild zu sein. Es gelang mir, mich mit behänder Beweglichkeit rückwärts fast bis zum Boden abzusenken. Das reinlich gebohnerte Holz verhinderte mit seiner Glätte nicht, dass ich ausrutschte und mit dem Hinterkopf den Boden küsste. Das war nicht peinlich. Flugs hoch und schon ging das tolle Treiben weiter.
Wir Jugendlichen kannten uns aufgrund der unterschiedlichen Festivitäten in den Nachbardörfern und mussten uns einander nicht erst vorstellen. Es geschah bei uns zu irgendeiner Veranstaltung, dass ein Jünkerather, bereits über Mitte zwanzig, zu mir meinte, als ich ihn mit nass geschwitztem Gesicht draußen in der frischen Luft traf: He, Winfried, du wirst noch ruhiger werden. Wenn du mal fünfundzwanzig bist, dann lässt der Eifer nach.“
Maskenball in Schüller, nicht Venedig
„Was soll das denn sein?“, mag sich jemand aus SchleswigHolstein, welcher unsere einzigartige jährliche Tradition nicht kennt, fragen.
Im Winter Karneval feiern, womöglich in dünnem Kostüm? „Da holt man sich de Peps“, war eine dörfliche Entsprechung zu „Du holst dir eine Erkältung“.
Karneval bedeutete für alle Dörfler ein besonderes und spannendes Ereignis. Ein Mensch schlüpft während der närrischen Tage, innerhalb der sogenannten fünften Jahreszeit (Fastelovend) in ein anderes Kostüm. In allen möglichen Variationen sich zu verbergen oder sich möglichst für alle Übrigen im Tanzsaal unerkennbar zu machen, war oberstes Ziel dieser Tage. Nur zu Rosenmontag existierte die Chance, das herrliche Spektakel zu erleben und zu genießen. Gewiss hatten nicht alle besonderes Interesse oder die Gabe, in eine andere Haut zu schlüpfen. Als freudig, spannend und äußerst reizvoll erlebte ich, dass ständig ein geheimnisvoller Vamp auf mich zukam und mit mir das Tanzbein schwingen wollte. Nun war ich das Opfer, aber gerne. Es bedeute für mich, in Ruhe abzuwarten. Sie wird wiederkommen. Nun fehlte mir jegliche Kenntnis über diese heimliche Gestalt. Keinen Muckser konnte ich aus ihrem Munde hören; ansonsten hätte ihre Stimme sie vielleicht verraten. So wurde der Abend Stunde um Stunde zum Zerreißen spannender. Endlich, die Glocke lässt ihren Gong zwölf Mal schlagen. Es ist Mitternacht. Nun müssen alle Hüllen fallen – ich meine nur die Gesichtsmasken. Meine Verführerin erwies sich als die Tochter eines damals noch gut betuchten Unternehmers aus Jünkerath. Eine schlanke Schönheit, mit etwas kleinen runden Pausbacken, natürlich Wangen. Unsere Oma hatte auf das Wort Backen eine passende Antwort parat: „Auf den Backen sitzt du. Links und rechts deiner Nase sind die Wangen.“ (Die Backen willst du packen, die Wangen willst du küssen!)
So erinnere ich mich zu vielen Gegebenheiten an meine alte, freundliche Großmutter, welche vor Vollendung des neunzigsten Lebensjahres nicht mehr alles klar verstehen und wiedergeben konnte. Demenz oder Alzheimer waren noch unbekannte Worte.
Zurück zu meiner Femme fatal dieses Abends. Das reinste Vergnügen fühlte ich im Inneren wie heiße Flammen, sie während der wirbelnden Walzerschritte fest in meinen Amen. Wie eine Feder im Wind ließ sie sich auf der Tanzfläche bei einem flotten Foxtrott führen. Meine Freude übermächtigte mich, dass ich am liebsten aus vollem Halse jubilieren wollte: „Hurra, sie gehört jetzt mir.“ Ab und zu waren eine Pause und kleine Abkühlung angesagt. Eiligst, um nur ja nichts zu verpassen, huschte ich zu einer kurzen Verschnaufpause durch die breite Türe des Gebäudes hinaus. Der kühle Wind säuselte um mein erhitztes Gesicht, ich spürte die Wohltat und eilte mit ebenso raschem Schritt in den Tanzsaal zurück. Im ersten Moment glaubte ich, nicht atmen zu können angesichts des nach meinem Gefühl fehlenden Sauerstoffs. Besonders traf das für den kleinen Schankraum zu, gefüllt mit trunkfreudigen Frauen und Männern. Das laute Gelächter über die Witze schallte immer wieder unüberhörbar bis in den schweißgeschwängerten Saal. Ich hoffte, an der belagerten Theke noch eine kleine Lücke in zweiter oder dritter Reihe für mich und