Wer A sagt, sollte auch weitergehen. Winfried Niebes
so heißt es in einer alten Redewendung. „Vielleicht wärest du gar nicht geboren, wenn das Kriegsgeschehen anders verlaufen wäre“, sprach ich schon manches Mal zu mir. Jegliche Handlung verändert eine Situation mehr oder wenig gravierend. Zu philosophieren wäre über alle Wenn und Aber bis in Urzeiten zurück.
Im Spiegel sehe ich mich während meiner Jugend in der zweiten Hälfte der 1960-er Jahre. Heute wird häufig argumentiert, das Ziel der damals Jungen, der 68er-Generation, sei eine kolossale Änderung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse gewesen. Die Notstandsgesetzgebung und vieles als undemokratisch Angenommene der damaligen Großen Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger8 bildete das Fundament für umfangreiche und heftige Proteste. Ob nach der Corona-Pandemie über Notstandsgesetze und ein beschlussfähiges „Notparlament“ diskutiert werden wird?
Nebenbei bemerkt: Ich sehe heute noch die positiven Nachwirkungen der von Karl Schiller in bester Abstimmung mit FranzJosef Strauß verfassten „Konzertierten Aktion“ sowie des Stabilitätsgesetzes mit dem haushaltswirtschaftlich wichtigen „magischen Viereck“9: hoher Beschäftigungsstand, stabiles Preisniveau, stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum und außenwirtschaftliches Gleichgewicht als wirtschaftspolitisch bedeutendes Instrument. Sehr gut erinnere ich mich an die damaligen, teilweise radikal ausufernden Studentenkrawalle in Köln. Es fanden nicht nur friedliche Demonstrationen statt. Im Gegenteil: Anlass zu heftigen schadenverursachenden Handlungen bildeten die Fahrpreiserhöhungen der Verkehrsbetriebe.
Ich erinnere mich, dass während meiner Beschäftigung im Stadtkyller Rathaus etwa Ende der 60er-Jahre ein dortiger Beamter sehr gut mit einem Ärztepaar aus einem amtszugehörigen Ort befreundet war. Gegen dessen studierenden Sohn sollte ein Strafverfahren eingeleitet und womöglich anschließend Schadensersatzerstattung an die Verkehrsbetriebe gefordert werden. Dieser Beamte wurde, soweit ich mich entsinne, gebeten, sich hilfreich einzusetzen. Über dessen Aktionen oder einen Strafprozess gelangte alsdann nichts weiter zu mir. Vorstellen kann ich mir nicht, wie er das hätte bewerkstelligen sollen als relativ unbedeutende Person im Hinblick auf die dortige Justiz. Allenfalls wäre eine Erklärung zum Leumund des Delinquenten zu schreiben gewesen.
Während meiner späteren Kölner Zeit in den Siebzigerjahren habe ich derart krasse Krawalle durch studentische Akteure nicht erlebt. Ich beteiligte mich ebenso bei friedlich ablaufenden Demonstrationen gegen Fahrpreiserhöhungen.
Nicht wenigen Revoluzzern der 68er-Generation boten sich beste Chancen, aufgrund ihrer Ausbildung und Karrieremöglichkeiten mit wachsendem Wohlstand in der noch jungen Demokratie ab Ende der 1980er Jahre in dem entstandenen Selbstbedienungsladen in Politik und Verbänden10 sich versorgen können. Es sind nicht wenige, die nach beruflichem Aufstieg in entsprechenden Positionen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik und der organisierten Zukunftssicherung an den Hebeln der Macht einen finanziell gut abgesicherten Ruhestand mit prächtigen Versorgungsbezügen erzielten. Die nächste Generation steuerte zum Teil in eine neue Altersarmut, sogar teilweise durch eigenes Verschulden. „Ich habe keinen Bock auf Schule oder irgendeine Ausbildung“ sind seit eh und je zu hörende Sprüche.
Nach meinem Dafürhalten stellt Joschka Fischer (eigentlich Joseph Martin Fischer) ein Beispiel für obige Thesen dar. Er engagierte sich in der Studentenbewegung, einer linksgerichteten gesellschaftskritischen politischen Bewegung. Diese entstand parallel zu solchen in den USA und Westeuropa, welche letztendlich als 68er-Bewegung zusammengefasst werden kann. Zudem ist seine Hingabe in der außerparlamentarischen Organisation, der APO, welche im Parteiensystem kein Sprachrohr hatte und auch gar nicht haben wollte, bekannt. Mit einundzwanzig Jahren nahm er an einer Sitzung der Palästinensischen Befreiungsorganisation in Algier teil.
Als junger Mann hegte ich damals außergewöhnliches Misstrauen gegen die APO und die Linksradikalen; jene waren noch in den Siebzigerjahren an meiner Alma Mater sehr aktiv. Fischers Mitgliedschaft in der linksradikalen und militanten Gruppe Revolutionärer Kampf bis zum Jahr 1975 verstärkte meine entsprechende Abneigung umso mehr. Straßenschlachten und Kämpfe gegen die Polizei waren keine Seltenheit. Ohne Zweifel ist Fischer jemand, der über Turnschuhauftritte mit der Bezeichnung „Turnschuhminister“ als hessischer Minister für Furore und Medieninteresse sorgte und als Außenminister während der Regierungszeit von 1998 bis 2005 Anerkennung erlangte.
Während meiner fast grenzenlosen Freiheitsphase zeigte ich mich in keiner Hinsicht wie ein Halbstarker, wie jene damals in den Medien beschrieben wurden. Es gab einen Film „Die Halbstarken“ im Jahr 1956, den ich ebenso nicht gesehen habe wie den bereits 1955 mit James Dean gedrehten Film „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Im Gegensatz zu APO und linksorientierten Studentenorganisationen werden in diesem Streifen ausdrücklich die Probleme der „stillen Generation“ thematisiert.
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Sturm- und Drangzeit
Der Name unserer Dorfkneipe „Zur alten Kapelle“ gehörte bei uns nicht zum gewöhnlichen Sprachgebrauch. Für uns lautete die Formel recht simpel: „Wir treffen uns bei Anneliese.“ Der Name stellte einen wichtigen Bezugsort dar. Bekannt war uns, dass die alte Kapelle bereits in den Jahren nach 1850 profaniert und irgendwann zu einer Bäckerei und Schänke mit Tanzsaal umgestaltet worden war. Dort konnte sich jeder im Geiste im ehemaligen Chorraum einen Altar an der halbrunden, nach Osten ausgerichteten Wand vorstellen.
Sehr häufig war die schmale, sandsteinfarbene Fensterbank links der Haustüre unser Treffpunkt. Entweder kamen wir zu Fuß oder der eine oder andere kam mit seinem Fahrzeug zur unorganisierten Versammlung. Hin und wieder wurde die nächste Tour oder der kommende Tag bis ins Detail beratschlagt, wenn für den gleichen Abend keine Idee gezündet hatte.
Bitburger11 Pils floss immer aus dem Zapfhahn. Wenn ein neues Fass aus dem Keller geholt und angeschlagen war, musste manchmal gedrängt werden, erst mal ein paar gefüllte Gläser wegzukippen. Ich weiß noch zu gut, dass manch einer das trübe Wasser im Spülbecken eigenhändig mit frischem Quellwasser auffüllte. Die Wirtin wollte sicherlich Kosten sparen. Gegen den Hunger hatte sie reichlich eigenhändig produzierte Frikadellen auf einer weißen Platte und Soleier in einem großen Glas, direkt vorne links auf der Theke, vorbereitet. Nach so vielen Jahren möchte ich nicht verleugnen, dass wir bei Anneliese oft von Durst geplagt waren. Die Uhrzeit vergaß ich des Öfteren und klebte am Biertresen fest, meistens natürlich nicht alleine. Frühschoppenzeit schloss sich nach dem sonntäglichen Hochamt in der gegenüberliegenden, jetzt bereits einhundert Jahre stehenden, St.-Paulus-Kirche an. Die ebene Fensterbank fungierte nicht als einziger Treffpunkt. Eine ähnlich praktische Sitzgelegenheit mit rundherum mehr Freifläche bot sich am Lebensmittelgeschäft gegenüber an. Nach manchen Wochen unserer Fernsterbankbelagerung hörten wir die klaren, klagenden Worte der Geschäftsfrau Helma: „Müsst ihr eigentlich tagtäglich hier hocken und das Schaufenster blockieren? Es gibt hier so viele Plätze, um sich zu treffen, um ausreichend zu quatschen.“
Viele Jahre lebe ich seit Oktober 1970 mit einem Unbehagen im Herzen. Ich war zu einem Wochenendbesuch zu Hause. Meine Eltern feierten ihre Silberne Hochzeit. Dessen ungeachtet saß ich mit meinem Freund Winfried bereits tags zuvor in der Kneipe. Bei bestem Willen ist mir völlig unklar, wieso ich mit ihm und einer Kiste Bier die ganze Nacht im Lokal hockte bzw. einschlummerte (ob es so war, habe ich vergessen – es ist nur dunkel im Gedächtnis). Irgendwie schliefen wir mit dem Kopf auf einem der Tische im menschenleeren Gastraum. Anneliese hatte uns allein gelassen und sich zur Mitternacht zum Schlafen begeben. Jedenfalls kam ich erst Sonntagnachmittag nach Hause geschlichen. Das Wohnzimmer war gut gefüllt mit vielen Gästen, vor allem die Kegelfreunde meiner Eltern waren dort.
Der Josef mit der Dreschmaschine meinte: „Da kommt der verlorene Sohn.“
Meine Antwort und mein Verhalten liegen völlig verborgen in den Milliarden meiner Gehirnzellen. Die menschliche Größe meiner Eltern erfuhr ich, da sie mir keinerlei Vorhaltungen machten. Die weiteren Stunden sind vollumfänglich aus meinem Gedächtnis gefallen, ebenso zu welchem Zeitpunkt ich zurück nach Köln reiste.
Bis heute vergaß ich nicht die verschiedentlich sorgenvollen