Wer A sagt, sollte auch weitergehen. Winfried Niebes
aus meiner Sicht nicht mehr benötigte Bild. Aufräumen kann doch nicht früh genug starten. Fast vergessen hatte ich denselben Fritz. Anfang der 1960er Jahre war er zwei Wochen bei uns zu Hause gewesen.
Damals hatten wir eine gemeinsame Radtour im hügeligen Eifelland unternommen. Die Erinnerung daran brachte seine Gehirnzellen beim Betrachten einiger Bilder in Aufruhr. Er, aus dem nördlichen Ruhrgebiet, der Kohleregion Marl-Hüls kommend, hatte keine Raderfahrung in einer hügeligen Landschaft. Wir Eifler stuften Radfahrer aus einer Tiefebene als unkonditionierte Flachlandtiroler ein. Zur damaligen Zeit hatte ich erheblich bessere Kondition als später. Das mag seine Erinnerungen an die schönen Seiten des kleinen Eifelfleckens etwas getrübt haben. Allerdings spielte das Thema der etwas unerquicklichen Radtour nunmehr keine weitere Rolle.
Frühlingstreffen
Einige Monate später: Fritz hatte meine Kindheitserinnerungen bereits gelesen und sagte mir in einem Telefonat: „Winfried, wir müssen uns mal treffen.“
Das war für mich eine willkommene Aussage.
„Weißt du was, überlege bitte, ob du während einer meiner geplanten Buchlesungen in die Eifel kommen möchtest.“
Einige Tage später las ich mit Freude seine Mail, dass er und seine Frau die Fahrt planen wollten. Prompt teilte ich meine Termine mit und schlug ein Treffen in Gerolstein vor. Mein Jugendfreund brach mit seiner Frau für ein Wochenende zu unserem Treffen auf die gut erhaltene, ehemalige Wasserburg aus dem 13. Jahrhundert in Lissingen bei Gerolstein auf. Helle, überschwängliche Freude überwältigte uns. Es war beinahe nicht fassbar, dass wir uns nach so vielen Jahren jetzt in der Eifel herzlich umarmen konnten. Niemand wird bezweifeln, dass wir uns nach Jahrzehnten nicht erkannten; aber seine Frau hatte ich ohnehin noch nie gesehen. Während dieser Tage schwelgten wir in alten Erlebnissen. Gleichermaßen sprudelten jeweils – teilweise unerfreuliche – familiäre Erlebnisse wie kleine quirlende Strudel in der am Bahnhof entlangfließenden Kyll aus unserem Inneren. Ein gutes Gefühl, diese oder jene Situation auszutauschen – irgendwie waren wir auf gleiche Weise erschüttert über erlebten Unfrieden in unseren beiden Familien, möglicherweise aus Missgunst oder uns nicht bekanntgewordenen Ursachen. Das ist sehr bitter, aber ein kleiner Trost verbleibt: „Unter jedem Dach ein Ach“, wie ich es einmal von einem klugen Menschen vernommen habe. Jedenfalls trübten unsere Geschichten nicht unsere Freude über unser Wiedersehen nach so langer Zeit. Am letzten Abend im Hotel Müllischs Hof in Dohm-Lammersdorf sollte ich Alleinunterhalter werden. Ich freute mich, dass sie ein Hotel in der Nähe von Gerolstein gebucht hatten, welches sogar auf dem Heimweg meiner Frau und mir in die Westeifel lag – dort belegten wir in dem kleinen Ortsflecken Sellerich in der Westeifel eine wunderbar ausgestattete Ferienwohnung. Das Ziel lag etwa im Dreieck meiner Leseorte Schönecken, Gerolstein, Birgel und Schüller.
Fritz war riesig neugierig und forderte mich auf: „Nun musst du mir heute wenigstens im Eiltempo über deine vergangenen Jahre erzählen. Du Unruhegeist hast ja vor, in deinem nächsten Buch alles ausführlich zu beschreiben.“
„Gut, wir haben noch Zeit, ehe ihr euch vor eurer morgigen Heimfahrt ausruhen wollt.“
Seine Erlebnisse hatte ich mit offenen Ohren bereits am Vortag beim gemütlichen Beisammensein aufnehmen dürfen. In den vergangenen Monaten war selbstverständlich der Kontakt gepflegt worden mit unseren Berichten und Bildern über Urlaube oder zu Fußballerlebnissen auf Schalke oder meiner Favoritenmannschaft Rote Bullen Leipzig, sodass er die lange Wartezeit bis zur Fertigstellung des Buches verschmerzen würde. Nun nehme ich endlich meine versprochene Erzählung wieder auf.
Wohin sind all die Jahre, Tage, Stunden …
Diese Frage, welche der Rundfunkmoderator Jo Hanns Rösler5 in seinem Buch stellte, konnte ich nicht vergessen. Viele seiner heiteren Geschichten aus Lausbubenzeiten las ich während meiner Rentner-Lesesunden im Altenheim vor.
„Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten,
schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.
Bald wirst du müde durchs Leben schreiten,
um dich wird‘s einsam sein, im Herzen leer.“
Wer kennt nicht die Eingangszeilen der alten Volksweise? Ich denke, diese werden mehrfach zu hören sein – gleich, in welcher Epoche wir Menschen uns befinden.
War damals, in der Jugendzeit, wirklich alles schöner, besser und angenehmer? Gleich einer Binsenweisheit stelle ich fest, es ist nicht alles anders, jedoch sehr vieles, aber gemeinhin nicht besser. Stünde jemand sehr nahe bei mir, könnte er das Rattern meiner Gehirnwindungen vernehmen. Ach ja, im Gegensatz zur neuesten Entwicklung mit der Revolution der Elektronik und Informationstechnik bedeutete das jugendliche Leben ab Mitte bis zum Ende des 20. Jahrhunderts etwas mehr Ruhe und womöglich mehr Chancen zur Entfaltung eigener Ideen – ohne technische Abhängigkeit.
Im Jahr 1964 war ich, das Dorfkind der Eifel, noch längst nicht volljährig, erst achtzehn Lenze alt. Zum damaligen Zeitpunkt wurde man erst mit einundzwanzig Jahren im Sinne des Gesetzes als erwachsen angenommen. Ein Rückblick auf die rechtliche Lage in den 1960er Jahren wird so manchen Jugendlichen des einundzwanzigsten Jahrhunderts in ungläubiges und unfassbares Erstaunen versetzen. Die Volljährigkeit wurde als Großjährigkeit, Majorennität oder Mündigkeit bezeichnet und erst mit Vollendung des einundzwanzigsten Lebensjahres6 erreicht, das muss der Jugend im einundzwanzigsten Jahrhundert wie „aus der Klamottenkiste“ erscheinen. Gewiss, die Erreichung der Volljährigkeit mit Vollendung des achtzehnten Lebensjahres ist nun lange her. Dennoch erinnere ich mich, wie erleichtert ich damals war, diese Hürde absolviert zu haben. Wenn ich bedenke, dass in der Zeit bis 1865 ein junger Mensch sogar erst mit fünfundzwanzig in den Erwachsenenkreis aufgenommen wurde, und ab 1876 die Grenze bei einundzwanzig Jahren lag, gab es zu diesem Rechtszustand eine sehr lange gesetzliche Sendepause. Erst die Ära der sozialliberalen Regierungszeit unter Bundeskanzler Helmut Schmidt brachte im Jahr 1975 durch eine neue Gesetzgebung des Deutschen Bundestags eine Änderung. Ein einfacher und klarer Satz in § 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB): „Die Volljährigkeit tritt mit der Vollendung des 18. Lebensjahres ein.“ Nicht außer Acht zu lassen waren gewisse Pflichten von staatsbürgerlicher Bedeutung, nämlich die Möglichkeit zum aktiven und passiven Wahlrecht. Doch hatte die neue Gesetzgebung für mich keine Bedeutung mehr.
Mit achtzehn Jahren flog mir allerdings von heute auf morgen eine völlig neue, bislang unbekannte Zwanglosigkeit zu. Ein unbekanntes Gefühl, gleich der Volljährigkeit und einem ungeahnten Maß an Unabhängigkeit erfasste meinen Geist und Körper. Meine Freizeit gestaltete sich in Windeseile ohne elterliche Kontrolle, ohne Zeitvorgabe. Sogar die früher üblichen, ständig bohrenden Fragen zur nächtlichen Heimkehr drangen nicht mehr in meine Ohren. Ohne Gewissensbisse und Scheu berichtete ich daher von meinen abendlich-nächtlichen Erlebnissen während einer auswärtigen Kirmes oder über verschiedene Sportfeste in einem der Nachbardörfer. Denke ich an mein völlig neues Wirkungsfeld ohne Kontrolle, kommen mir Erinnerungen an frühere Besuche in Hamburg während meiner Kinderzeit. Manch einem mögen die verlockenden erotischen Möglichkeiten in den Sinn kommen, die beispielsweise die „Große Freiheit“, die Seitenstraße der Reeperbahn, beginnend am Beatles-Platz, im Hamburger Stadtteil St. Pauli, bot. Man bedenke, dass dieses Vergnügungsviertel bereits im Jahr 16107 angelegt worden war.
Ich dagegen lebte in einem den meisten Menschen unbekannten Weiler mit bester Weitsicht und gerade mal etwas mehr als dreihundert Seelen – in allen Aspekten das genaue Gegenteil von Welt. Könnten heutige junge Menschen sich ein Leben dort ohne Handy mit WhatsApp, Telegram oder Facebook, zudem ohne genügend Penunzen vorstellen? Ich denke, die Reize der Stadt hätten ein höheres Gewicht auf ihrer Bedürfnisskala. Bei ihnen könnte sich das Gefühl, eingeengt zu sein, stark etablieren oder die Angst aufkommen, das Leben zu verpassen. Der Rückblick in meine Jugendzeit ab dem achtzehnten bis zum dreiundzwanzigsten Lebensjahr lässt sehr viele unterschiedliche Bilder vor meinen Augen erscheinen.
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