Fantasy Sammelband Riyala - Tochter der Edelsteinwelt Band 1 bis 5. Antje Ippensen
Wiedersehen mit dem Geliebten, mochte es auch das letzte sein ...
Urplötzlich kamen Klarheit und Ruhe über sie. Ihre vier Edelsteine ... Oh ja, sie konnte das Falken-Auge nicht zum Reisen benutzen. Dafür hatte ihr alter Lehrmeister gesorgt.
Doch weshalb hatte er nicht auch zugestimmt, ihr sämtliche Steine einfach abzunehmen? Er hatte zwar ebenfalls veranlasst, dass man sie auf diese Weise ankettete, so dass sie keinen der vier Steine berühren konnte, aber ...
Auf einmal dachte sie ohne Hass an den seltsamen alten Mann, der sie verraten hatte. Sie erinnerte sich, wie er einmal zu ihr sagte: „Vieles kann verhindert, eingekerkert, in Bande gelegt werden – nicht aber die höhere Kraft in uns. Sie wird immer frei sein.“
Ich folge dieser Wahrheit, dachte sie und wurde noch ruhiger ... ihr Geist wanderte zu jenem stillen, mystischen „Ort der Energie“, der für jeden Menschen anders aussah. Für sie war es ein kleiner saphirblauer See, der von funkelnden Edelsteinen umgeben war – wie die Fassung eines Perlenringes. Aus dem klaren Wasser dieses imaginären Teiches konnte sie so viel kostbares Nass schöpfen, wie sie wollte.
Dann stellte sie sich so intensiv wie möglich – mit geschlossenen Augen – das Edelsteinkästchen in ihrer Jackentasche vor. In Gedanken öffnete sie es und berührte das Falken-Auge, hob es empor ...
Sie spürte, wie sich eine ganz neue, andersartige Kraft in ihr entfaltete – ja, sie konnte zaubern, trotz der Fesseln! Und wie zur Ermutigung hörte sie plötzlich den rauen, sehnsuchtsvollen Ruf ihres Falken. Er klang so nah, als ob er über dem Schwarzen Turm kreiste und genau wüsste, dass seine Herrin hier gefangen saß.
Lächelnd öffnete Riyala ihre Augen – und sah den goldenen Stein mit dem schwarzen Fleck direkt vor sich in der Luft schweben.
Habe wirklich ich das vollbracht?, dachte sie staunend.
Der Kristall zitterte leicht, wie eine Flaumfeder im Wind.
Ja, das ist meine Kraft!
Sie versuchte ihn allein durch ihre Gedanken näher heranzuziehen ... und auch das gelang. Er bewegte sich.
In diesem magischen Moment kam ihr die Erleuchtung, einem Geistesblitz gleich: Sie wusste jetzt, welchen verborgenen Zauber der Stein neben der Reisemagie noch in sich trug.
Ein weiterer Gedanke genügte, und sie umschloss das Falken-Auge mit ihrer linken Hand. Sofort spürte sie die Ketten nicht mehr ... prickelnde Energieströme erfüllten ihr ganzes Sein, und ihr Geist war frei.
Ihr Körper hing nach wie vor in Fesseln an der schwarzen Zellenwand, aber Riyala schoss durch die Turmwand hindurch, fand ihren Falken, schlüpfte in ihn hinein und flog jetzt mit ihm durch die Luft, wie sie es sich so oft erträumt hatte; sie war in ihm, sah durch seine Augen und fühlte sich ihm und seiner fremdartigen Falkenseele ganz nah.
Das Schlachtfeld vor den Toren der Stadt! Der Kampf war bereits in vollem Gange. Wenn es überhaupt Verhandlungen zwischen dem Heros und dem Bauernführer gegeben hatte, so waren sie rasch gescheitert.
Bei der Großen Göttin – wie hatte Nigel es nur geschafft, so viele Bauern um sich zu scharen?! Es mussten Zehntausende sein, eine einzige Flut von brüllenden Menschen, die zu allem entschlossen war. Ausgemergelte Leiber, aber zäh und vom Rausch des Angriffs beflügelt. Viele Männer waren nur mit Holzlatten oder Steinen bewaffnet, aber alle folgten dem jungen Bauernsohn, der zugleich ein Krieger war.
Mit den scharfen Raubvogelaugen machte Riyala seine schlanke Gestalt und seinen wild flatternden Haarschopf rasch aus und kreiste über ihm. Es bereitete ihrem Geist gar keine Mühe, ihren Falken zu lenken.
An Nigels Seite aber sah sie Sandirilia, wie eine Kriegerin gekleidet und mit Schwert und Schild bewaffnet. Sie schien die einzige Frau weit und breit zu sein; mit den geschärften Sinnen ihres Falken nahm Riyala wahr, dass ihr ein ähnlicher Respekt gezollt wurde wie Nigel ... Und nun wurde ihr bewusst, dass auch viele aus dem Fahrenden Volk Seite an Seite mit dem Landvolk kämpften.
Auch sämtliche Geräusche, Rufe, Worte erreichten kristallklar Riyalas Geist.
„ Die Katapulte zum Tor!“, schrie der junge Rebellenführer. Sein Gesicht mit der kühnen Hakennase war angespannt, ja verbissen; in seinen Augen brannte das wilde Feuer der Revolution. Dies war Nigels große Stunde.
Riyalas Falke schraubte sich wieder höher – sie wollte nicht, dass man auf den vermeintlichen Unglücksvogel aufmerksam wurde.
Überall war Chaos, Aufruhr, loderten Brände, quollen Rauchschwaden in den Himmel empor ... Bestürzt erkannte Riyala, dass auch innerhalb der Stadtmauern Kämpfe ausgebrochen waren – und es war kaum zu glauben, aber unter den Stadtbewohnern gab es immer noch Riyala-Anhänger, die ihrerseits die co-lhanischen Wachen angriffen und somit indirekt zu Verbündeten der Bauernrebellen wurden.
„ Freiheit für Riyala!“, schrien diese Menschen. „Die Tochter der Hoffnung darf nicht sterben!“ Sie glaubten offenbar, dass Riyala das Opfer einer Hof-Intrige geworden war. Einige von hnen stürzten sich auf das bereits halbfertig gezimmerte Schafott im Hof des Schwarzen Turms und zertrümmerten es.
Und dann liefen auch noch Teile der Truppen zu Nigels Aufständischen über! Sie lieferten sich wilde Gefechte mit den loyalen Soldaten des Regentenpaares und ließen sich dann an Seilen die Mauer hinab. Das waren zweifellos Männer, die außerhalb der Stadt Verwandte hatten. – Riyala frohlockte innerlich. Aus ihrer Vogelperspektive sah es bereits so aus, als würde die Verteidigungslinie ihres Vaters zusammenbrechen. Sie entdeckte den Heros auf einer Mauerzinne, gedeckt von Leibwächtern, scharfe Befehle erteilend. Die brenzlige Lage am Stadttor, wo ununterbrochen brennende Schwefelbrocken durch die Luft zischten, brachte ihn dazu, einen Ausfall mit seinen Elitekriegern zu riskieren – wohl in der Hoffnung, sich dadurch eine Atempause zu verschaffen.
Doch damit hatte Nigel gerechnet. Er zog seine Leute zusammen, und obwohl von den Tortürmen her unaufhörlich heißes Pech und kochender Schwefel geschüttet wurde, Pfeile und Speere hageldicht flogen, gelang es ihm, die Hundertschaft Elitesoldaten unmittelbar nach dem Ausfall abzufangen und zum Kampf zu stellen.
Riyala beeilte sich, wieder in Nigels Nähe zu kommen. Sie sah, wie er mit seiner Kampfgefährtin Sandirilia ein kurzes Lächeln tauschte – ein kameradschaftliches Lächeln, wie ihr schien, mehr nicht. Nach all den Fehlern, die sie gemacht hatte, wollte Riyala nun nicht auch noch Eifersucht auf sich laden – zudem bewunderte sie Sandirilias Mut. Woher nahm die unterernährte junge Gauklerin nur die Kraft, ein Schwert zu führen? Und sie machte ihre Sache sogar gut.
Binnen kurzem waren sie, Nigel und Dutzende von Bauern in heftige Nahkämpfe verwickelt. Jetzt würde die Schlacht möglicherweise eine entscheidende Wendung nehmen – denn das Tor stand offen, und immer mehr Aufständische strömten herbei.
Auch der Heros erkannte die Gefahr und zog noch mehr Verteidiger zusammen. Er selbst eilte auf der Mauer entlang in Richtung Haupttor; seine blutrote Helmfeder wehte, die Rüstung blitzte im grellen Sonnenlicht. Seine Hand wies in Nigels Richtung.
„ Tötet ihn!“
Riyalas Hass auf den Vater nahm ungeahnte Ausmaße an.
„ Nigel! Vorsicht!“, wollte sie unwillkürlich warnend schreien – doch statt dessen öffnete sich der Schnabel ihres Falken, und ein rauer, durchdringender Schrei brach hervor.
Nigel, der sich soeben durch mehrere wuchtige Attacken freigekämpft hatte, zuckte zusammen. Er war abgelenkt, legte den Kopf in den Nacken ... und griff nach Pfeil und Bogen. Sein zu dem Falken emporgewandtes Gesicht verfinsterte sich. Erinnerte er sich an das letzte Zusammensein mit der Geliebten, die ihn verraten hatte? Schoss ihm jetzt wieder sein eigenes Wort vom „Unglücksvogel“ durch den Kopf?
Entsetzt erkannte Riyala, wie sich ihre gute Absicht ins Gegenteil verkehrte.
Und dann überstürzten sich die Geschehnisse so rasend schnell, dass sie unaufhaltsam in tödliches Verderben führten.
Ein gut gezielter schwarzer Pfeil zischte in jenem Moment auf Nigel zu, in dem dieser sein