Fantasy Sammelband Riyala - Tochter der Edelsteinwelt Band 1 bis 5. Antje Ippensen
– Riyala im Körper des Falken fühlte, wie Nigels Pfeil das silbergraue Federkleid durchdrang und das mutige Vogelherz durchbohrte – genau in dieser Sekunde brach auch Nigel zusammen, in die Brust getroffen.
Mein Falke fällt (ich falle) wie ein Stein ... das ist Sterben ... Riyala erlitt zwiefache Qual, obgleich ihr eigener Körper in Sicherheit war. Und dann lag der Vogel mit ausgebreiteten Schwingen auf der Brust des jungen Mannes, und ihrer beider Blut vermischte sich.
Ein dunkler Strom des Lebenssaftes brach aus Nigels Mund, und doch flüsterte er noch fast unhörbar einen Namen, während seine Hände im Todeskampf den Pfeilschaft umfassten und zugleich die Falkenfedern berührten.
Zwei Namen, die jedoch nur einer Frau galten.
„ Zalana ... Riyala ...“
Niemand sonst hörte es ...
Erst jetzt sprang Sandirilia mit einem wilden Schmerzensschrei an die Seite des Gefallenen, und ein Chor von Klagelauten erhob sich ringsum.
Wie es Riyalas Seele gelang, zurückzukehren in ihren eigenen Körper, der halb erkaltet in der Schwarzen Turmzelle hing, wusste die junge Frau niemals zu sagen.
Und wozu kehrte sie überhaupt zurück? Nigel war tot, und auch sie sah keinen Grund mehr zu leben.
Aus ihrer erstarrten linken Hand rieselte mattgoldener Quarzsand zu Boden. Das Auge des Falken war zerstört.
Riyalas Schmerz war zu tief, als dass sie hätte weinen können. Tränenlos stand sie an der Wand, und wären die Ketten nicht gewesen, so hätte sie sich keinen Augenblick länger auf den Beinen halten können.
Wenn es mein Schicksal ist, hier elendiglich zu verschmachten, anstatt schnell zu sterben durch das Schwert des Scharfrichters, so sei es. Ich habe keinen schnellen Tod verdient ...
Schwarze Wirbel flackerten durch ihr Gehirn, hüllten ihr Bewusstsein vollständig ein; Riyala – Tochter der Matriarchin und des Heros von Co-Lha, Edelstein-Magierin, Geliebte des gefallenen Bauernführers Nigel Dha-Na und Hochverräterin – fiel in Ohnmacht.
*
Als sie wieder zu sich kam, dämmerte der Abend, und in den wachsenden Schatten verschwammen die Konturen der Zelle.
Riyala war nicht überrascht, den Edelstein-Magister vor sich stehen zu sehen.
Mit stumpfen, trockenen Augen blickte sie ihn an. Ihre Kehle schmerzte vor Durst.
Ich wusste, dass Ihr kommen würdet, dachte sie teilnahmslos.
Er nickte, und dann zog er eine Lederflasche aus den Falten seines Kaftans und setzte sie ihr an die Lippen. Zuerst wollte sie dieses Geschenk des Lebens zurückweisen, aber dann regte sich leise eine Spur von Überlebenswillen in ihr, und sie schlürfte etwas von dem köstlichen Nass.
Obgleich der Magister seine vertraute Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte wie beinahe immer, meinte sie doch zu erkennen, dass seine Augen jetzt von noch größerem Verständnis erfüllt waren ...
Sie wartete darauf, dass er ein Wort sprach, aber er stand nur schweigend da.
„ Seid Ihr gekommen, um mich zur Hinrichtung zu führen?“, fragte sie endlich bitter, mit heiserer Stimme. Insgeheim hoffte sie geradezu, dass es so wäre. Dann fände sie endlich Erlösung von ihrer Qual ...
„ Nein.“
„ Ist die Schlacht vorüber?“
„ Ja, sie ist vorbei.“ Er sah sie noch eindringlicher an. „Doch ich fürchte, außer mir hat dich alle Welt vergessen, Riyala Falken. Deine verbliebenen Anhänger wurden allesamt niedergemetzelt, und auch deine Eltern sind tot.“
Riyala hatte nicht geglaubt, dass sie noch etwas berühren könnte, aber diese Nachricht erschütterte sie.
„ Meine Eltern? Sie sind beide tot?“, stieß sie hervor.
„ Dein Vater fiel in der Schlacht, und deine Mutter wählte den Freitod, nachdem sie mitansehen musste, wie ihre Priesterinnen am Altar der Göttin abgeschlachtet wurden.“
Riyala keuchte vor Entsetzen.
„ Die Rebellen haben gesiegt. Sie plündern und verwüsten nun die ganze Stadt“, fügte der Magister emotionslos hinzu.
„ Gesiegt? Aber ... wie – wie war das möglich? Ich habe doch selbst gesehen, wie Nigel starb, und er ...“, sie schluckte trocken, „er war das Herz und der Kopf des Aufstandes.“
„ Er wurde zum Märtyrer und sein Tod zu einem Fanal, das alle Bauern und Gaukler befähigte, noch leidenschaftlicher zu kämpfen – bis sie gleichsam zu einem einzigen, riesigen Arm wurden, der ein gigantisches Schwert schwang.“
„ Doch wer nahm Nigels Platz ein? Wer führte sie denn an?“
„ Sandirilia. Und sie ist immer noch die Führerin.“
Ungläubig starrte Riyala ihn an.
„ Ich habe durch meinen Wahrheitsstein einen Blick in das Herz dieses Gauklermädchens getan“, erklärte er. „Sandirilia ist wahnsinnig vor Zorn und Schmerz – gegen ihre Leidenschaft konnte sich dein Vater nicht zur Wehr setzen. Das alte Co-Lha musste untergehen ... doch mit Sandirilia droht nun das Land noch tiefer in Chaos und Zerstörung zu versinken. Auch jetzt noch wütet sie auf barbarische Weise und brennt alles nieder. Unversehrt ist von der ganzen Mondburg praktisch nur noch dieser Turm, und die halbe Stadt gleicht einer lodernden Fackel ...“
„ Und all das ist meine Schuld“, flüsterte Riyala wie betäubt. „ICH habe das alles ausgelöst.“ Ihre Verzweiflung und ihr Selbsthass wuchsen ins Unermessliche.
Der alte Mann trat näher zu ihr und löste beiläufig ihre Ketten. Fürsorglich stützte er ihre schwankende Gestalt und half ihr, sich zu setzen. Er selbst ließ sich ebenfalls im Hexersitz auf dem Boden nieder.
Abwesend rieb sich Riyala die tauben, zerschundenen Hände. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, wieder in Gleichgültigkeit zu versinken, dem frischen Schmerz der Schuld zu entfliehen – aber ein anderer Teil ihres Wesens rang nach Erkenntnis.
Zum ersten Mal in ihrem Leben sprach sie mit ruhiger Überlegung, als sie ihren alten Lehrmeister fragte: „In Wahrheit habt Ihr mich gar nicht verraten, oder?“
Mit einem leisen, schmerzlichen Lächeln antwortete er: „Ich tat nur das, was du im Grunde wirklich wolltest.“
Riyala nickte langsam. Ja, genau das entsprach ihrer tiefsten, innersten Wahrheit ... Sie hatte mit all ihren Lügen nicht mehr weiterleben können und diesen Weg gewählt, um sich auf schmerzhafteste Weise daraus zu befreien.
„ Und nun habe ich alles verloren. Selbst meinen Falken und sein Auge ...“
„ ... dessen geheime Kraft dir Erkenntnis schenkte“, ergänzte der Magister.
Sie schwiegen.
Schließlich sprach der weise alte Magier: „Qual, Tod und Verlust sind nur Zeichen des Wandels – du löst dich vom Alten, um etwas Neues zu beginnen. Doch ich kenne dich gut, Riyala Falken – du wirst dich noch eine Zeitlang in Selbstvorwürfen und Schuld verzehren, ehe diese Wahrheit dich erreicht. – Ich wählte dich zu meiner Nachfolgerin, und anfangs dachte ich, du könntest deine Fähigkeiten rasch genug entwickeln, um Co-Lha zu retten. Ich glaubte, dies sei deine Bestimmung. Aber selbst mir bleibt vieles verborgen. Und du warst – und bist – noch nicht bereit. Nun kann ich dir nicht länger helfen. Für verzweifelte Menschen wie dich eröffnen sich manchmal andere Wege des Schicksals ... Sag mir, hast du je vom Magischen Schatten gehört?“
Sie schüttelte stumm den Kopf.
„ Die Legende erzählt, dass an diesem geheimnisvollen Ort ein Stein gewachsen ist, von dem alle magischen Kristalle unserer Welt abstammen. Vom Willen der Götter gelenkt, gebar der Urmutterstein diese wunderbaren Geschenke an uns ... Aber dieses heilige Artefakt ist noch mehr als das. Wer den Schattenstein findet, so heißt es, findet sich selbst und seine wahre Bestimmung.“