Entenbootweltbürger und andere Erzählungen aus Südkorea. Park Min-gyu
bitte traurig? Sie werden auf der ganzen Welt niemanden finden, der weiß, was Sie wissen wollen.“
„Wirklich? So ein Jammer.“
Immer in dieser Art, es war wirklich ein Jammer. Am Ende fing auch ich an, ihm aus dem Weg zu gehen. Und jedes Mal nach so einer Unterhaltung kam unweigerlich ein Ruf vom Prokuristen. Es war nichts dabei, „Jawohl“ zu rufen und zu ihm zu rennen, aber wenn er dann mit der Frage „Was hat denn der Abteilungsleiter Son gerade gewollt?“ näher an mich ranrückte und mir den Oberschenkel tätschelte, also da wären andere an meiner Stelle sicher komplett ausgerastet. Wie ich viel später erfuhr, war er als schwuler Unhold schon lange berüchtigt.
Auch wenn man es unter den Teppich kehren möchte:
Die Welt steht Kopf. Da verwandelte sich ein Mensch zusehends in einen Waschbären, da ließ ein schwuler Prokurist das ganze Personal unter seiner Fuchtel tanzen. Und dann gab es noch einen Rocksänger, der sich aus Furcht vor der Macht dieses Prokuristen gottergeben von demselben den Oberschenkel betatschen ließ. Schlimmer konnte es doch nicht mehr kommen.
Dieser ganze Stress war letztendlich schuld an dem, was bald darauf geschah. Ich hatte einen Filmriss und fand erst wieder zu mir, als ich irgendwo in einem U-Bahnhof am kalten, übel riechenden Boden lag. Am Abend davor hatte es ein Abschiedsessen für den Abteilungsleiter Son gegeben. Dass ich einen Filmriss hatte, war mir davor noch nie passiert, und in einem U-Bahnhof hatte ich vorher auch noch nie geschlafen. Um mich herum lagen in kleinen Grüppchen die Penner und Obdachlosen. Es war in den frühen Morgenstunden, auf beiden Seiten des langen unterirdischen Gangs versperrten massive Rollgitter die Stiegenaufgänge.
An die kalte Wand gelehnt, versuchte ich, einen klaren Kopf zu bekommen. Bis zur zweiten Bar konnte ich mich an alles gut erinnern. Als wir dann auseinandergingen, war mir die Verantwortung für die sichere Heimkehr des Abteilungsleiters Son zugefallen. Aus welchem Grund ich in der U-Bahn gelandet war, konnte ich mir daher zusammenreimen, denn Son wohnte weit weg, in Incheon. Auf dem Weg zur Station waren wir, auch daran konnte ich mich noch vage erinnern, in ein Kneipenzelt eingekehrt, auf eine allerletzte Runde Schnaps. Und dann war der Film gerissen. Keine weitere Erinnerung. Mattscheibe. Ich blickte mich um, aber vom Abteilungsleiter Son keine Spur.
„He, alles in Ordnung?“
Total überrascht drehte ich mich um. Ein Mann, den ich mein Lebtag noch nie gesehen hatte, starrte mich an. Sah überhaupt nach einer ziemlichen Neugierdsnase aus. Mitte Vierzig, ein Penner. „Ach so, jaja.“ Ich senkte meinen Kopf und wurde rot. „Die Jugend ist wirklich etwas Schönes. Ich meine, als Junger, da kannst du saufen, was du willst, und gleich drauf sieht man dir überhaupt nichts mehr an. Ach ja, deiner Geldbörse sollte nichts zugestoßen sein. Aber schau besser gleich mal nach.“ Erschrocken griff ich in die Innentasche meines Sakkos und ertastete die Börse. Wahrhaftig, sie war dort wohlbehalten an ihrem Platz.
„Keine Bange, wir rühren eben nie einen an, der in Begleitung eines Waschbären zu uns kommt.“
„Was? Eines Waschbären?“
„Weißt du das nicht? Der, der dich gestern gestützt und herbegleitet hat, das war ein Waschbär.“
„Aha, ach so ... Und wo ist der dann hin?“
„Es war ein Waschbär, also wird er wohl in den Untergrund gegangen sein.“
„Was? In den Untergrund?“
„Ja, unter die Erde. Dort, in den Tunnel, wo die U-Bahn fährt.“
„Aber, hören Sie mal, er ist doch in Wahrheit ein Mensch ...“
„Das weiß ich selber auch. Nichtsdestoweniger hat er sich schon fast vollständig in einen Waschbären verwandelt. Bei dem Grad an Mutation muss man in den Untergrund.“
„Mir ist das alles ein Buch mit sieben Siegeln.“
„Hat er nicht auch vor Level 23 kapituliert?“
„Wie kommt es, dass Sie das wissen?“
„Hab ich also recht? Das hat noch jeden zum Waschbären mutieren lassen.“
„Ich dachte, das sei eine Krankheit.“
„Du meinst die Waschbärentollwut? Nein, das ist ein Märchen.“
„Na so was!“
„Schau, das musst du eben noch lernen: Die Welt ist ein ganz anderer Ort, als du denkst.“
„Was für ein Ort ist sie denn?“
„Level 23. Das ist der wahre Name unserer Welt.“
„Bitte keine blöden Kommentare“
„Bitte keine blöden Kommentare. Gestern hab ich in einer Station der U-Bahn geschlafen.“ ‒ „Hahaha! Wieso denn das?“ Es war eine ruhige Nacht am Angelplatz. Weil wir die einzigen waren, die dort ‒ gegen eine Gebühr ‒ angelten, brauchten wir uns keine Zurückhaltung auferlegen und konnten nach Herzenslust miteinander quatschen. Es war eine Ewigkeit her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten, und geangelt hatten wir beide auch schon seit einer Ewigkeit nicht mehr. Die Schaumstoffschwimmer am Ende unserer Angelschnüre machten ewig lang keinen Mucks.
„Soweit also meine Geschichte.“
„Schau einer an.“ B nickte mit dem Kopf, als er das sagte. „Wenn man sich das so anhört, muss man schon sagen: Alltäglich ist das nicht.“ ‒ „Eben darum mache ich mir große Sorgen.“ ‒ „Scheint auf jeden Fall ein Problem zu sein, bei dem es sich lohnt, tiefer drüber nachzudenken.“ Als wollte er nun sogleich ein paar höchst tiefsinnige Überlegungen anstellen, steckte sich B erst mal eine Zigarette an. Ich hatte meinerseits gerade eine fertig geraucht, warf den Stummel weg und machte mich daran, den Köder nochmals durchzukneten. Die Schaumstoffschwimmer mit ihrem jeweiligen Stift obenauf rührten sich nach wie vor keinen Millimeter und sahen aus wie ins Wasser eingeschlagene lange Nägel.
So verrosten die noch,
die rosten durch. Wenn man Freundschaft mit einem eisernen Band vergleichen kann, so waren B und ich schon so lange befreundet, dass das Band bereits ein wenig Rost angesetzt hatte. B war zwar zwei Jahre älter als ich, aber irgendwie waren wir trotzdem die besten Kumpel geworden. Ich war Studienanfänger, als wir uns kennenlernten, bei einer Orientierungsveranstaltung für Studienanfänger. Da stellte sich einer ans Rednerpult, keine Ahnung, ob es ein Professor oder nur ein Verwaltungsmensch war, und hielt eine langwierige Ansprache. Komischerweise war ich damals ständig auf alles angefressen. Die Rede selber war eigentlich letztlich völlig harmlos, aber trotzdem schrie ich plötzlich:
„Kusch, blöder Arsch!“
Mit einem Mal brach das Publikum in ein einziges wildes Gelächter aus, und das Ganze artete zum Tohuwabohu aus. Gegen Ende der Veranstaltung suchte einer nach mir. „Wer war das mit dem blöden Arsch?“ Ein paar Leute wiesen mit ihren Blicken zu mir, da kam er auf mich zu und meinte: „Wollen wir eine Band gründen?“
Das war also B.
Danach gründeten wir eine Band, die zumindest uniintern sehr berühmt war. Wir gaben uns den recht nichtssagenden offiziellen Namen Sam’s Sons, aber vielsagenderweise kannte man uns eigentlich nur als die Hurensöhne von der Kusch-blöder-Arsch-Band. Wenn B von der Bühne aus auf unser vor Begeisterung außer Rand und Band geratenes studentisches Publikum blickte, platzte er oft schier vor Lachen: „Schau dir das an. So eine Pöbelei zur rechten Zeit ist Goldes wert.“ Es war insgesamt eine gute Zeit. Mit ein bisschen Schimpfen und Fluchen konnte man schon ein kleiner Rockstar werden. Ich musste nur wild genug auf mein Instrument eindreschen, dann rasten alle vor Begeisterung. Im Rückblick kommt mir das alles gar nicht wahr vor.
Wer weiß, vielleicht lag es dran, dass er Philosophie studierte, aber jedenfalls war B einer, der sich über alles gründlich Gedanken machte. Er wusste viel, zumindest viel mehr als ich, und hatte