Der letzte Dollar. Markus J. J. Jenni

Der letzte Dollar - Markus J. J. Jenni


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Maria neben Tom vorbei zu ihrem Platz ging, berührten sich ihrer Hände. Wie ein feiner elektrischer Impuls durchströmte Tom dabei eine intensive warme Energie, hinauf zum Kopf und wieder hinunter bis zu den Zehenspitzen. «Was war denn das?», fragte er sich im Stillen. Beide lächelten sich zu. Dann setzten sie sich hin. Maria schlug ihre hübschen Beine übereinander und beschäftigte sich mit den Kopfhörern, die sie dann über ihre Ohren stülpte.

      Mit einem verstohlenen Blick auf Maria nahm Tom die besondere Ausstrahlung seiner Nachbarin wahr. Wer war diese Frau? Er hatte das Gefühl, als wenn ein Engel die Erde berühren würde. Die Engel in Rilkes Gedichten waren Boten aus einer anderen Welt: federleicht schwebend und von magischer Kraft.

      Im Raum befanden sich knapp 200 Personen. Echte Pflanzen, kleine Bäume und in allen Farben blühende Blumen schmückten den Raum. Dadurch entstand eine angenehme Wohlfühlatmosphäre. Im Hintergrund ertönte leise Musik aus dem Klavierkonzert Nr. 21 von Wolfgang Amadeus Mozart.

      Die Musik wurde unterbrochen.

      Auf einem Monitor erschien ein Foto der fünfzehnjährigen Greta Thunberg aus Stockholm, als sie ihren „Appell an die Welt“ vortrug.

       Foto: Imago/K. Grzegorz

      Erwachsene, rettet uns! Greta Thunberg redet allen ins Gewissen.

      Auf dem Video sprach die junge Frau, Greta Thunberg, über den Bildschirm zu den Erwachsenen. Sie trug ihre Botschaft in einem ausgezeichneten Englisch vor. Es handelte sich um die komplette Rede an die Weltpolitik beim Klimagipfel 2018 (Zitat):

       „Mein Name ist Greta Thunberg. Ich bin 15 Jahre alt und komme aus Schweden. Ich spreche im Auftrag von Climate Justice Now. Viele Menschen glauben, dass Schweden nur ein kleines Land ist und es nicht wichtig sei, was wir tun. Ich aber habe gelernt, dass man niemals zu klein ist, um einen grossen Unterschied machen zu können. Wenn ein paar Kinder es schaffen, Schlagzeilen auf der ganzen Welt zu bekommen, indem sie einfach nicht zur Schule gehen, dann stellen Sie sich mal vor, was wir alles erreichen könnten, wenn wir es wirklich wollten. Aber um das zu tun, müssen wir Klartext reden, egal, wie unangenehm das auch ist.

      Sie reden nur deswegen vom ewigen Wirtschaftswachstum, weil Sie Angst haben, unpopulär zu sein. Sie sprechen immer nur davon weiterzumachen, mit denselben schlechten Ideen, die uns in diese Misere gebracht haben. Dabei wäre es das einzig Sinnvolle, die Notbremse zu ziehen. Sie sind nicht erwachsen genug, um das so zu formulieren. Selbst diese Bürde überlassen Sie uns Kindern. Mir geht es nicht darum, bekannt zu sein. Mir geht es um Klimagerechtigkeit und um einen lebenswerten Planeten. Unsere Zivilisation wird für die Chancen einer kleinen Gruppe von Menschen geopfert, die immer mehr Geld verdienen will. Unsere Biosphäre wird geopfert, damit reiche Menschen in Ländern wie meinem in Luxus leben können. Es sind die Leiden der Vielen, die für den Luxus der Wenigen bezahlen.

       2078 werde ich meinen 75. Geburtstag feiern. Wenn ich Kinder habe, werden sie vielleicht den Tag mit mir verbringen. Vielleicht werden sie mich nach Ihnen fragen. Vielleicht werden sie fragen, warum Sie nichts unternommen haben, obwohl noch Zeit dazu war. Sie sagen, dass Sie Ihre Kinder mehr als alles andere lieben, aber gleichzeitig stehlen Sie ihnen ihre Zukunft vor den Augen weg. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Sie beginnen, sich auf das zu konzentrieren, was getan werden muss und nicht was politisch möglich ist, wird es keine Hoffnung geben.

       Wir können eine Krise nicht lösen, ohne sie als eine Krise zu behandeln. Wir müssen die fossilen Brennstoffe im Boden lassen. Wir müssen den Fokus auf Gerechtigkeit lenken. Wenn es unmöglich ist, Lösungen im bestehenden System zu finden, sollten wir das System an sich ändern. Wir sind nicht hierhergekommen, um vor Weltpolitikern darum zu betteln, dass sie sich kümmern. Sie haben uns in der Vergangenheit ignoriert und Sie werden uns wieder ignorieren. Uns gehen langsam die Ausreden aus, uns läuft die Zeit davon! Wir sind hierhergekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass ein Wandel kommen wird, egal, ob Sie es wollen oder nicht. Die wirkliche Macht gehört den Menschen. Vielen Dank.“

      Es war still im Raum. Man hätte eine Nadel auf einen Teppichboden fallen hören können. Das Bild auf dem Monitor erlosch. Einige der Anwesenden applaudierten.

      Jetzt trat eine sympathische ältere Frau auf die Bühne. Adrett im westlichen Stil, aber einfach gekleidet. Ihr schneeweisses langes und glänzendes Haar passte gut zu ihrer gesunden rot-braunen Haut. Sie war Indianerin, Audrey Shenandoah (Ogananda).

      Man wusste im Saal, dass die Begrüssung durch jemand erfolgen würde, der der Welt tatsächlich etwas zu sagen hatte.

      Audrey Shenandoah blieb einen Moment ruhig auf der Bühne stehen. Sie schaute zu den Anwesenden und zu den vielen Pflanzen im Raum und lächelte.

      Während sie so dastand und in das Publikum blickte schien es, als würde ein helles Licht von ihr ausgehen und den ganzen Raum ausfüllen. So blieb sie einfach ruhig vor dem Mikrofon stehen. Irgendjemand begann zu klatschen. Dann folgten auch andere, bis schliesslich alle mit ihrem wohlwollenden Applaus die Referentin willkommen hiessen. Dieser Applaus dauerte fast drei Minuten. Dabei hatte Audrey Shenandoah noch kein einziges Wort gesprochen. Aber die Energie, die sie ausstrahlte, erzeugte bei allen Teilnehmenden eine Art intensives Gefühl von Geborgenheit. Man fühlte sich eingebettet in dieses warme Licht und konnte dabei die Aussenwelt schnell und vollkommen ausblenden. Alles, was jetzt nicht hierhergehörte, war wie aufgelöst. Die Aufmerksamkeit und auch die Konzentrationskraft war bei allen Teilnehmern deutlich erhöht. Dann begann Audrey Shenandoah mit einer sanften, aber klaren und eindringlichen Stimme zu sprechen (Zitat):

      „Guten Tag, sehr geehrte Damen und Herren. Oder sollte ich vielleicht besser Brüder und Schwestern sagen, da wir ja alle auf dem gleichen Planeten geboren worden sind?“ Die Leute schmunzelten.

      „Zuerst will ich danken für einen weiteren Tag des Lebens hier auf dieser Erde, einen weiteren Tag, an dem wir die mitfühlende Güte unseres Schöpfers geniessen können. Ich will, wie wir das bei meinem Volk immer tun, diese Konferenz mit Worten der Würdigung, des Respekts und des Dankes für unsere Mitmenschen beginnen. Wir lassen unsere Gedanken zusammenkommen, damit wir eines Sinnes sind. Wir richten unsere Worte an unsere Mutter Erde, die alles Leben nährt. Wir wenden uns den kürzesten Gräsern dicht am Busen unserer Mutter Erde zu; wir denken mit Dankbarkeit und Respekt an alles Pflanzenleben, die Wälder, alle Wasser der Erde, die Fische, die Tiere auf dem Land, die Vögel und die Vier Winde. Einmütig richten wir unsere Würdigung, Respekt und Dank nach oben zur Welt des Himmels: zur Grossmutter Mond, die eine direkte Beziehung zu allen weiblichen Lebewesen hat, zur Sonne und den Sternen und zu unseren Geistwesen der Himmelswelt. Sie folgen immer noch den ursprünglichen Weisungen in diesem grossen Kreis des Lebens.

      Einmütig erbieten wir dem heiligen Kreis des Lebens unsere Würdigung, Respekt und Dankbarkeit. Wir, die Menschen auf diesem Planeten, dürfen nicht vergessen, in Demut die Gaben zu würdigen, von denen wir so reichlich in unserem täglichen Leben Gebrauch machen. Ich überbringe Ihnen die allerbesten Grüsse von meinem Volk, den Haudenosaunee. Sie stellten für mich ein ‚Bündelvon Grüssen zusammen, bevor ich von zu Hause wegfuhr, so wie das immer getan wird, wenn jemand im Auftrag der Haudenosaunee in ein anderes Land reist.

       Sie sagten: ‚An die Häuptlinge, die Führung der vielen Ländern, übermitteln die Häuptlinge der Haudenosaunee herzliche Grüsse und grossen Respekt. Möget Ihr Harmonie finden. Allen spirituellen Führern und Amtsinhabern ebenso herzliche Grüsse von denen, die bei den Haudenosaunee solche Aufgaben wahrnehmen. Möge Frieden sein, wenn wir uns treffen. An die Frauen in dieser Versammlung – die Mütter der Nationen – ein herzlicher Gruss der Anerkennung und des Respekts, denn sie haben eine ganz besondere und heilige Mission auf der Erde. Und an die Kinder der Länder, die hier nicht versammelt sind, richten wir beste Grüsse von den Kindern unseres Heimatlandes.

       Diese Bündel von Grüssen und Anerkennung und Respekt übergebe ich hiermit allen hier Versammelten. Die Grüsse bekräftigen die gegenseitige Verbundenheit von uns Menschen und unsere Beziehung zur Umwelt und zum Universum. Wir haben


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