Europa - Tragödie eines Mondes. Uwe Roth
Atara den schlanken Flitzer in Richtung der senkrechten Eisbarriere. Hinweg über zerklüftete, schroffe Felsen, in deren Gräben und Spalten sich nur vereinzelte Niedriglebensformen tummelten. Geschockt von diesem massiven Rückgang des Lebens so nahe der Eisbarriere, drosselte sie die Geschwindigkeit des Flitzers, um das Ausmaß der Zerstörung genauer betrachten zu können.
„Sieh dir das an, Atara!“, forderte sie ihren Kollegen auf. Atara, der neben ihr ebenfalls die gravierenden Auswirkungen der Eisbarriere registrierte, vermochte nicht zu urteilen, ob sich die Niedriglebensformen nur vor ihnen versteckten, oder ob der Rückgang des pulsierenden Lebens an den niedrigeren Temperaturen lag. Die Hysterie um die Barriere ging ihm viel zu weit. Es stimmte, es gab einige Berichte von eingeschlossenen Städten, die aber allesamt durch die Medien dramatisiert wurden. In den nächsten Stunden würde er sich ja selbst von den Ausmaßen der Barriere überzeugen können.
„Du nimmst das alles viel zu ernst, Maru. Wenn wir mit unserem Flitzer über dieses Gebiet hinweg sind, quillt das Leben wieder aus allen Ritzen dieser Felsen“, versuchte er Maru zu besänftigen.
„Meinst du?“, fragte sie skeptisch.
„Ich denke schon. Du wirst sehen, wenn wir unseren Auftrag erledigt haben und hier wieder entlangflitzen, wird das Leben in diesen Felsspalten zurückgekehrt sein“, versicherte er ihr. Sie glaubte Atara zwar nicht so recht, aber dennoch umschloss sie das Ruder entkrampfter und steuerte den Flitzer wieder schneller und entspannter ihrem Auftragsort entgegen.
So weit weg von den belebten Städten Maboriens hatte sie sich noch nie befunden. Immer wieder lagen unendlich weite Entfernungen zwischen den vereinzelten Siedlungen, die sie mit ihrem Flitzer zurücklegen mussten. Dieser Auftrag sollte sie bis zu der nördlichsten Siedlung Maboriens bringen, die bereits von den Bewohnern evakuiert wurde, da ihnen die Barriere bedrohlich nahe kam. Sie sollten sich davon überzeugen, dass wirklich niemand zurückgelassen wurde. Nachdem sie die letzte Siedlung, die sie von der nördlichsten Siedlung Maboriens trennte, hinter sich gelassen hatten und sich der spärlich bewohnten letzten nördlichsten Siedlung immer mehr näherten, musste auch Atara erkennen, dass das Leben hier rapide abnahm. Der Flitzer, der etwas größer war, als die Flitzer, in denen nur ein Maborier Platz fand, schoss unentwegt über sterbende Gegenden. Sie sollten sich davon überzeugen, dass auch wirklich niemand zurückgelassen wurde oder sich etwa Plünderer dort aufhielten. Unter ihnen wurden die ersten Wohneinheiten der Siedlung sichtbar, die nur spärlich von einigen Kristallen erhellt wurden. Maru griff zum Schalter, der die Scheinwerfer einschaltete, um das wenige Licht, dass die immer kraftloseren Leuchtkristalle abgaben, zu unterstützen. In diesem Mix aus natürlicher Kristallbeleuchtung und künstlicher Flitzerbestrahlung erkannte sie nun das gesamte Ausmaß, dass die voranschreitende Kälte dieser Umgebung antat. Flächenweise versiegte hier die natürliche Beleuchtung ihrer Welt. Sie schossen über leere Wohnsiedlungen hinweg, deren Korallenkonstrukte bereits ihre natürliche, runzlige Außenhaut eingebüßt hatten. Entsetzt betrachteten die beiden Sicherheitsmaborier die glatten, mit unzähligen Rissen versetzten, tieferen Strukturen der Korallenarme. Auch wenn sie, im Gegensatz zu den großen Metropolen Maboriens, hier nur ein oder höchstens zweistöckige Bauwerke tragen mussten, zeigten sich an einigen Stellen der freigelegten Knochenstruktur der Korallenarme sogar so starke Beschädigungen, dass einige von ihnen unter der Last der Gebäude brachen und ganze Wohnkomplexe mit sich rissen. Zwischen zerborstenen Korallengestängen lagen daher Trümmer auseinandergerissener Wohngebäude. Deren runde, aus kleinen zusammengefügten Muschelplatten bestehenden Außenwände, schimmerten daher nur vereinzelt im Licht der schwächer werdenden Kristallbeleuchtung. Zahlreiche von ihnen steckten tief im lockeren Sand, der sich in Streifen zwischen dem felsigen Untergrund schlängelte. Wie Inseln lugten schroffe, hochauftürmende Felsformationen aus diesem sandigen Boden, auf dessen festem Untergrund einst die Siedler hier ihre Behausungen errichteten. Mit samt an den Korallenarmen befestigten, zersplitterten Muschelplatten, versanken nun langsam komplette Gebäudereste im sandigen Morast und rissen an ihnen festhängende Gebäudereste mit sich. Es war noch gar nicht so lange her, dass hier Kinder gespielt hatten, die übereinander schwammen, um sich gegenseitig zu fangen. Oder sie schossen durch die Spielröhren, die mit kleinen Pumpen dafür sorgten, dass eine schwache Strömung in ihnen herrschte, damit die Kinder wie schnelle Niedriglebensformen durch sie hindurchsausen konnten. Einige wurden sogar mit einem höheren Druck versorgt, damit die größeren, mutigeren Kinder ebenfalls ihren Spaß hatten.
Nun spielte hier kein Kind mehr. Die Pumpen wurden schon vor einiger Zeit abgestellt und vom Stromnetz getrennt. Nachdem die Nachricht bekannt geworden war, dass das Fortschreiten der Barriere rapide zunahm, wurden die Siedlungen augenblicklich evakuiert. Sogar die sonst so üppige Fauna konnte hier nicht mehr gedeihen, da das Wasser hier schon merklich kühler wurde. Die üppige Pflanzenwelt, die zwischen den Gebäuden einst spross, wich nun einer trostlosen, regungslosen Sandwüste.
Nur schemenhaft tauchte aus dem mit grünen Algen verseuchten Wasser nun etwas auf, dass Atara und Maru entsetzt staunen ließ. Maru drosselte zaghaft die Geschwindigkeit des Flitzers, der sich einer spiegelartigen, nach allen Seiten hin ausstreckenden Wand näherte. Je näher sie dieser Erscheinung kamen und die Dichte der Algen die Sicht auf diese Erscheinung immer weniger behinderte, desto gewaltiger erhob sich diese Wand aus Eis vor ihnen in die Höhe. Da aber die begrenzte Sicht durch das Cockpitfenster dadurch immer weiter abnahm, mussten sich Maru und Atara vorbeugen, um die in die Höhe ragende Barriere in ihrem gesamten Ausmaß sehen zu können. „Sie reicht bis in den Schleier, Maru“, stellte Atara entsetzt fest. Geschockt von der doch offensichtlichen Gewaltigkeit der Barriere, die bis in das unendliche Oben reichte, wich jede noch so geartete Gelassenheit aus seinem Wesen, das er bis hierher an den Tag legte. Während sie sich diesem Spiegel immer weiter näherten, wurde dieser Spiegel mehr und mehr durchsichtig. Sie konnten riesige Farnengewächse am hinteren Grund ausmachen, die wie erstarrt nicht mehr im Strom der ständigen Strömungen tanzten. Jegliches Leben schien hinter dieser Eiswand wie erstarrt zu sein. Von der verlassenen Siedlung, deren Zentrum sie nun erreichten, steckte der nördlichste Bereich bereits vollständig in dieser Barriere. Eine Vakuumbahn, die wahrscheinlich aus den großen Metropolen Maboriens kam, verschwand in der Eiswand und setzte ihren Weg, bedingt durch die optische Krümmung des Eises, versetzt innerhalb der Barriere fort, um im entlegensten Bahnhofs Maboriens zu enden. Maru und Atara konnten ihre Augen von diesem so phänomenalen Schauspiel, das gleichzeitig so entsetzlich wirkte, nicht fortreißen. Daher riss Maru das Ruder nur zögerlich nach links, als sie die kaum sichtbaren Ausbuchtungen sah, die die Barriere begleiteten.
„Was ist Maru?“, fragte Atara, der wie aus einer Starre erwachte. Im gleichen Augenblick erkannte auch er, wieso sie so abrupt die Richtung änderte. Überall konnte er seltsame, beulenartige Aufwölbungen an der Barriere erkennen, die weit von der Barriere ins noch nicht gefrorene Wasser reichten. Da die Barriere fast völlig durchsichtig war, waren ihnen diese Ausbuchtungen erst nicht aufgefallen. Aber nun schienen sie die gesamte Fläche der äußeren Barriere zu bedecken. Ohne Atara zu antworten, versuchte Maru diesen Ausbuchtungen auszuweichen. Mit äußerster Kraft umschloss sie das Ruder und drückte es bis zur äußersten linken Seite. Der Flitzer vollzog eine scharfe Linkskurve, die ihn trotzdem immer näher an diese Ausbuchtungen heranführte. Die Maschinen im Innern heulten derweil immer lauter auf, so sehr, dass Maru glaubte, dass sie jeden Moment zerbersten würden. Entsetzt sah sie wieder zur Barriere, auf der inzwischen das Spiegelbild des Flitzers deutlich zu erkennen war. Dem Spiegelbild immer näher kommend betrachtete sie, nun noch entsetzter, sich selbst neben Atara sitzend und immer detailgetreuer in ihrem Flitzer über eine glatte Fläche, die sich zwischen diesen Ausbuchtungen ausbreitete, hinweg huschend. Aber bevor sie ihr eigenes Spiegelbild endlich dazu bewegte, den Flitzer noch weiter von der Barriere zu entfernen, endete die glatte Fläche und ging wieder zu gewaltigen Ausbuchtungen über, durch deren Furchen sie versuchte, ihren Flitzer hindurch zu steuern, um doch noch ausreichend Abstand zu ihr zu gewinnen. Dennoch streifte sie einen Teil der Ausbuchtungen, die inzwischen zu langgezogenen, spitzen Ausläufern mutierten. Nur kurz vernahm sie das dumpfe, knirschende Geräusch, das von außen zu ihnen drang, ihnen aber einen gehörigen Schrecken einjagte. Trotz dieses Geräusches konnte Maru nun den Flitzer von der Barriere wegsteuern und somit einen ausreichenden Abstand zu ihr gewinnen, um erschöpft das Geschehen resümieren zu können. Mit der nötigen Eile, aber dennoch bedächtig, steuerte sie den Flitzer