Europa - Tragödie eines Mondes. Uwe Roth
er immer wieder zusammenstieß. Entsetzt musste er dabei mitansehen, wie diese, mit samt Teilen der von ihm errichteten Muschelwänden, aus ihrem festen Gebäudeverbund gerissen wurden. Langsam ergriff ihn ein immer größer werdendes Schwindelgefühl, das durch seine taumelnden Bewegungen verursacht wurde. Das Trümmerteil, dass ihn dann schließlich endgültig weiter nach unten stieß, kam so urplötzlich auf ihn zu, dass er sich nicht dagegen wehren konnte. Der Schlag, den er dadurch erhielt, trug noch mehr zu einer beginnenden Ohnmacht bei. Daher bekam er nicht mit, wie er nun doch nach unten gerissen und zwischen zwei Dachkonstruktionen festgekeilt wurde. Im Unterbewusstsein bekam er nur noch mit, wie urplötzlich das Grollen aufhörte und sich eine unheimliche Stille über die Stadt legte. Die Welle schien außerdem in sich zusammen zu fallen. Ehe er vollends in die Ohnmacht glitt, bekam Xiron nur dunkel mit, wie die anderen mitgerissenen Maborier und die unzähligen Trümmerteile plötzlich über den schönen, kunstvoll gestalteten Dächern der Altstadt zum Stehen kamen und langsam auf die Stadt hinabsanken.
Als Xiron wieder aus seiner Ohnmacht erwachte, konnte er nicht sagen, wieviel Zeit vergangen war. Aber es musste eine lange Zeit vergangen sein, denn um ihn herum schien wieder Ruhe eingekehrt zu sein. Mit Entsetzen sah er sich um. In seiner unmittelbaren Umgebung, die er einsehen konnte, trieben mehrere Maborier leblos herum. Trümmerteile lagen auf den Dächern der Wohneinheiten, vermengt mit unzähligen, zerborstenen Korallengestängen, deren bucklige Oberfläche unzählige Risse aufwiesen. Trotz der extremen Festigkeit der Muschelmauern wurden zahlreiche dieser Wohneinheiten von den Trümmerteilen eingerissen. Überall wo er hinsah, sah er nur Zerstörung und Verwüstung. Und dazwischen trieben immer wieder leblose, nicht mehr metallisch glänzende, sondern all ihrer Farbe beraubter Leiber herum. Er versuchte, sich zu orientieren und drehte deshalb seinen schmalen, gelenkigen Körper. Dabei durchschoss ihm ein so heftiger Schmerz, dass er sofort in der Bewegung innehielt. Dieser heftige, stechende Schmerz schien von seinen Flossenbeinen zu kommen. Erst jetzt erinnerte er sich daran, dass er während dieser Katastrophe eingeklemmt wurde. Langsam versuchte er, nach unten zu seinen eingeklemmten Flossenbeinen zu greifen, die aber zwischen den zertrümmerten Muscheldächern unerreichbar waren. Egal wie heftig er seinen schlanken Körper hin und her bewegte. Seine Flossenbeine blieben eingeklemmt. Er verzog seinen schmalen, langen Mund zu einer schmerzverzerrten Grimasse.
Zwischen den schweren Muschelplatten quoll etwas von seinem blauen Blut hervor. Xiron nahm an, dass die Verletzung nicht schwerwiegend war. Wenn er aber keine Hilfe erhalten würde, könnte diese kleine Wunde seinen Tod bedeuten. Denn ohne eine schnelle Versorgung seiner Wunde, würde sich sein blaues Blut unweigerlich ins Lebenswasser ergießen. Weiter weg, in der Ferne, konnte er den zerschmetterten Lastengleiter erkennen, der mehrere Wohneinheiten unter sich begraben hatte. Er fragte sich, ob der Kapitän oder dessen Mannschaft diese Katastrophe unverletzt überstanden hatte. Aber er ging, nachdem er die enormen Schäden am Lastengleiter sehen konnte, davon aus, dass wohl niemand überlebt hatte. Noch weiter entfernt lag die Muscheldecke, die ebenfalls ein Bild der Verwüstung hinterließ.
Erst zögerlich, schließlich aber immer klarer, bemerkte er die seltsamen schwarzen Klumpen, die sich auf den Trümmerteilen befanden. Ehe er über die Herkunft dieser Klumpen spekulieren konnte, fielen einige von ihnen von oben an ihm vorbei und legten sich sanft auf die sich vor ihm befindlichen Trümmerteile. Xiron kam das so seltsam vor, dass er verwundert seinen Blick nach oben richtete. Er sah, wie sich ein stetiger Strom von diesem seltsamen Material seinen Weg hinab von dem unendlichen Oben suchte und sich auf den Trümmerteilen niederlegte. Erst nur wenige, schließlich aber immer zahlreicher werdend, bedeckten sie die Trümmerteile. Das Grauen um ihn herum wurde langsam von diesen schwarzen Klumpen bedeckt.
Soweit es sein begrenzter Blick erlaubte, sah er, wie dieses seltsame Phänomen die Stadt in Beschlag nahm. Langsam richtete er seinen Blick nun wieder nach oben, in das unergründliche Oben. Dort, wo sich in unendlicher Ferne der Schleier oder das Oben befinden musste. So weit wie er nach oben blicken konnte, sah er, wie aus der Dunkelheit des Schleiers diese schwarzen Klumpen ihren Weg hinab in die Stadt suchten. Unaufhörlich fielen unzählige von diesen Klumpen an ihm vorbei. Er konnte kleinere, nur wenige Zentimeter große Brocken ausmachen. Aber auch große Brocken, von mehreren 20 bis 40 Zentimetern, fielen auf die Stadt.
„Was ist das?“, sagte er nur so zu sich selbst und versuchte, seinen lädierten Körper so zu drehen, dass er über die Trümmerteile hinweg schauen konnte. So sehr er auch seinen schlanken Hals in die Höhe reckte, die unzähligen Trümmerteile versperrten ihm dennoch den Blick. Trotz der Schmerzen die er dabei erlitt, zwang er dennoch seinen Körper dazu, ihn immer weiter nach oben zu recken. Als er nun doch über den Rand einiger der Trümmer schauen konnte, sah er, wie über der gesamten Stadt diese schwarzen, seltsamen Brocken aus dem Schleier herabfielen. Es war ein fantastischer Anblick, stellte er fest, wenn er nur nicht so grauenvolle Folgen hätte. Aber diese Folgen konnten Xiron und die wenigen übrigen Überlebenden nicht lange genießen. Der Befall war so intensiv, dass er und die Übrigen, die ebenfalls dieses Schauspiel verwundert mitverfolgten, vollends von dem schwarzen Material begraben wurden. Langsam, aber erbarmungslos, wurden sie so in ein schwarzes Grab eingebettet, dass der Beginn einer noch viel größeren Katastrophe werden sollte. Unentwegt legte sich nun ein schwarzer, schleimiger Film auf Darimar. Über mehrere Zyklen hinweg regnete es diese schwarzen Klumpen und machte von nun an diese einst so schöne Stadt unbewohnbar.
1. Die Unterwasserwelt von Maborien
Nur einige Schwimmstunden von Darimar entfernt, befand sich eine der größten Städte Maboriens namens Lorkett. Mit vielen in die Höhe ragenden Gebäuden, von denen sicherlich auch einige durch die Flossenhände von Xirons Team errichtet worden waren. Über eine weite Ebene erstreckte sich diese Stadt, die von einem hohen Hang begrenzt wurde. Halbrunde Gebilde, deren Korallengeäst sich fest in diesem Hang eingrub und somit besonders den Strömungswidrigkeiten enormen Widerstand leisteten. Mit hunderten von Durchlässen, die in die Dachkonstruktionen der Wohneinheiten so eingefasst wurden, dass diese ins unendliche Oben zeigten. Neben diesen Durchlässen der Dachkonstruktionen zierten ebenfalls Unmengen von ihnen die dicken Muschelwände, die es den Bewohnern von Lorkett ermöglichten, direkt von ihrer Wohnung hinaus zu schwimmen, um in den Trubel der Großstadt einzutauchen. Wie übereinander geschichtete Pilze, mit ihren weit nach außen reichenden Köpfen, lagen diese Unterwassergebäude eines neben dem anderen.
Manche überlappten sich, andere lagen teilweise in den Felswänden des Hanges verborgen, die die Stadt begrenzte. Andere ragten über mehrere Etagen in die Höhe. Die einzelnen Etagen wurden von weitverzweigten, runzligen Korallenarmen gehalten, die außerhalb sowie zwischen den einzelnen Wohneinheiten ihren natürlichen Wuchs vollzogen. Dieses Gitternetz aus Korallenarmen hielt die Wohneinheiten fest umklammert. Die schirmartigen Dächer der Wohneinheiten, die weit über die Außenwände der einzelnen Etagen hinauslugten, überspannten überwiegend die Korallenarme und verwuchsen in den Ecken bereits mit diesen.
So bildeten die Gebäude mit dem Korallenkonstrukt eine feste Einheit. Diese Bauweise zog sich über mehrere Etagen hinauf. Mal waren es nur drei Etagen, während gleich nebenan vier bis sechs Etagen der angrenzenden Gebäude in die Höhe ragten. Mehrere Dutzend dieser Gebäude waren so in Gruppen zusammengefasst und bildeten eine Gemeinschaft, die von Schwimmschneisen und Flitzerstrecken getrennt wurde. Unzählige Gemeinschaften von diesen Wohneinheiten bildeten diese Stadt. Zwischen diesen Wohnsiedlungen reihten sich ausgiebige Anpflanzungen an, die sich in der stetigen, gleichmäßigen Strömung dieser Unterwasserwelt in eine Richtung bogen. Zwischen den Gebäuden, am Grund, wuchsen unzählige leuchtende Kristalle in einem hellen Grün. Aus Spalten dieser Kristalle wuchsen die verschiedensten Pflanzen, mit denen die Kristalle eine symbiotische Beziehung eingingen. Darunter eine besonders breitflächige, wuchernde Art, die von dem grünen Licht der Kristalle regelrecht durchleuchtet wurde. Deren schachtelartige Struktur streute anschließend das Licht zu strahlenförmigen Gebilden, die sternförmig das umgebende Wasser erleuchteten.
Diese gegenseitige Symbiose stellten die hiesigen Wissenschaftler vor ein großes Rätsel. Man hatte Versuche angestellt, diese Pflanzen ohne die Kristalle anzupflanzen, was nicht gelang. Ebenso verhielt es sich mit den Kristallen. Entfernte man die Pflanzen mit den Wurzeln aus den Rissen der Kristalle, verloren diese schnell ihre Leuchtfähigkeit. Man konnte noch nicht herausfinden, was die beiden verband. Über viele Zeitzyklen hinweg, bildeten diese Kristalle