Europa - Tragödie eines Mondes. Uwe Roth
sie davon, dass nicht nur die Maborier existierten, sondern, dass offensichtlich im Oben mehr existierte, als man allgemein annahm. Dieses Artefakt beinhaltete Schriftzeichen, die Zeru auf keinem der bisher gefundenen entdecken konnte. Sie unterschieden sich so dermaßen von den Schriftzeichen ihrer vergangenen Vorfahren, dass sie zu der Erkenntnis gelangte, dass sie nicht von Maboriern geschrieben sein konnten. Nicht nur die Schriftzeichen auf diesem Artefakt überzeugten sie von der Andersartigkeit der Erschaffer dieses Artefaktes. Es war die Form dieses Gegenstandes und dessen Fundort oder, besser gesagt, dessen Lage. Es steckte regelrecht im Grund der einstigen Stadt.
Sie untersuchte die Ruinen der Stadt schon seit vielen Zyklen. In jedem noch so entlegenen Winkel stöberte sie nach Anzeichen der Maborier, die einst hier gelebt und ihre Hinterlassenschaften zurückgelassen hatten. Unzählige Gegenstände, die die alten Schriftzeichen enthielten, hatte sie schon aufspüren können.
Sie hatte dadurch schon so viel Wissen über diese einstige Sprache erlangt, dass sie deren Leben und Kultur nachbilden konnte. Aber dann stieß sie auf dieses seltsame Ding. Es steckte senkrecht im Boden dieser vergangenen Stadt. Ein seltsam silbern glänzendes, längliches Ding, das nach unten hin spitz zulief. So, wie es aussah, nahm Zeru an, dass es nur ein Bruchstück eines größeren Gegenstandes sein musste. Aber das erstaunlichste an dem Artefakt bildeten die kleinen Schriftzeichen, die sich an der Innenwand des Gegenstandes befanden. Diese Schriftzeichen hatten nichts mit den Schriftzeichen dieser verlassenen Stadt zu tun. Im Gegenteil, sie sahen völlig anders aus. Sie hatten mit den Schriftzeichen der Maborier nichts gemein.
Nicht der Maborier der Vergangenheit, noch der Maborier der Gegenwart. Davon war Zeru überzeugt.
Sollten die vielen unheimlichen Geschichten um den Schleier völlig anders sein? Sie wusste nicht mehr, was es war, dass sie dazu bewegt hatte, damals nach oben zu blicken, nach oben in den Schleier. Ob es Eingebung gewesen war oder nicht. Sie war fest davon überzeugt, dass dieses Artefakt nur von oben, aus dem Schleier stammen konnte. Für sie war das der Beweis, dass dort oben intelligente Lebewesen existierten.
Nur Professor Bereu schenkte ihr die gebührende Aufmerksamkeit. Der Professor galt als sehr eigensinnig und Querdenker, also fast genauso wie sie. Die Gremien mussten ihn dulden, da er mehr als einmal mit seinen Forschungen das Leben der Maborier vor einigen Katastrophen bewahren konnte. Er erforschte schon seit vielen Zeitzyklen das Oben. Mit einem fähigen Team von Wissenschaftlern baute er eine Forschungsstation auf, die mit riesigen Antennen den oberen Schleier abhorchten. Erst die Veröffentlichung ihrer Arbeiten brachte Professor Bereu dazu, Zeru in sein Team aufzunehmen. Von dem Oben erhoffte sie weitere Erkenntnisse, mit deren Hilfe sie Rückschlüsse zu ihrer, zu der Vergangenheit der Maborier, erlangen würde. Auch wenn sie von den Gremien dafür argwöhnisch beobachtet wurde. Das interessierte sie nicht im Geringsten. Sollten sie doch mit ihren alten Vorstellungen von der Einzigartigkeit der Maborier hausieren gehen. Sie würde sich nie davon beeinflussen lassen. Für sie stand fest, dass dort oben weit mehr existierte als nur der undurchdringbare Schleier.
All ihre Unentschlossenheit beiseite schiebend schwamm sie zu Professor Bereu.
„Hallo Zeru, schön dich zu sehen. Die in den letzten Zyklen empfangenen Daten stehen zur Analyse bereit!“, sagte er zu Zeru.
„Das ist wunderbar. Werde sie mir gleich vornehmen. Ich bin froh, weiter an den Daten arbeiten zu können.“ Seitdem Zeru an diesem speziellen Projekt arbeitete, konnte sie an nichts Anderes mehr denken.
Mit voller Hingabe arbeitete sie mit ihren Kollegen die anfallenden Daten der Empfangsanlage ab. So begaben sich die beiden zu den Beobachtungsinstrumenten.
Schon seit vielen Zeitzyklen beobachteten sie nun den oberen Schleier ihrer Welt. Diese Welt war, soviel wie sie wussten, rund 5 Mrd. Zeitzyklen alt. Im Kern ihrer Welt herrschte so eine ungeheure Hitze, dass das Leben hier ungehindert gedeihen konnte. Viele Forscher spekulierten darüber, wieso ihr Kern so warm war, niemand konnte es sich so richtig erklären. Manche nahmen an, dass irgendeine größere Kraft den Kern wie einen Gummiball drückte und wieder losließ. Seismologische Messungen zeigten gewisse Abweichungen in den einzelnen Zyklen, zwischen der Lebensaktivität und der Ruhephase der Maborier. In einer Hälfte der Zyklen zeichneten die Seismologen mehr Aktivität in den Tiefen ihrer Welt auf als in der anderen Hälfte. Auch die Uhr ihres Zyklusses hatte sich nach diesem Rhythmus gestellt. Ein Zyklus bei ihnen entsprach eben diesem Dehnungsrhythmus. In grauer Vorzeit richteten sich schon ihre Vorfahren nach diesem Rhythmus, dessen Ursachen nun von der Wissenschaft erklärt werden konnte. Durch diesen Dehnungsrhythmus entstanden im Innern ihrer Welt Reibungskräfte, die für die Erwärmung ihrer Welt verantwortlich sein mussten. Andere nahmen an, dass der Kern aus einem hochenergetischen Material bestand, das diese Wärme abgab. Egal, wie dieser Rhythmus entstand. Seit der Befallskatastrophe hatte irgendetwas diesen Rhythmus durcheinander gebracht. Die Abstände zwischen diesen Dehnungsphasen wurden ständig größer. Und seitdem sanken die Temperaturen in ihrer Welt, zwar bis jetzt nur minimal. Fest stand aber auch, dass die Temperaturen, umso höher man aufstieg, auch abnahmen. Dieses Leben begrenzte sich nur auf die unteren 2000 Meter. In 3000 Metern Höhe musste man schon Schutzanzüge gegen die niedrigen Temperaturen und den enormen Druckabfall tragen. Ab 4000 Metern war es für die Bewohner dieser Welt unmöglich zu existieren. Messungen ergaben eine ungefähre Höhe von 100 Kilometern. Man wusste daher nicht genau, wie es dort oben aussah. Deshalb gab es diese Forschungseinrichtung, in der Zeru und andere arbeiteten, um etwas von dieser oberen Welt zu erfahren. Die Maborier lebten somit auf dem Grund einer mit Wasser gefüllten Welt. Oberhalb dieser 100 Kilometer fing der Bereich des ewigen Eises an, von dem die Maborier aber nichts ahnten. Dieser Panzer aus Eis umgab ihre gesamte Welt. Da aber dieser Panzer aus Eis von dem dichten, unüberwindbaren Schleier vor den Maboriern verborgen blieb, pflanzte sich der Begriff des Schleiers oder des Obens in den Sprachgebrauch der Wesen dieser Welt ein. Nur in alten Erzählungen, die trotz der Verweigerung der Vergangenheit überliefert wurden, gab es immer wieder Berichte von unheimlichen Wesen, die dort oben ihr Unwesen trieben. Schon aus diesem Grund verpönte man die Beschäftigung mit diesen Dingen. Man fürchtete sich zu sehr vor dem, was dort oben sein könnte. Immer wieder wurde ihre Welt von leichten bis schweren Beben erschüttert. Diese Beben existierten schon vor vielen ihrer Zeitzyklen. Von Nord nach Süd rollten diese Seebeben über ihre Wohneinheiten hinweg. Meistens handelte es sich nur um leichte Beben, die die Röhren ihrer Vakuumbahnen schaukeln ließen, mehr aber nicht. Das wurde gar nicht mehr wahrgenommen. Zwischen den einzelnen Beben lagen manchmal unglaublich lange Zeitzyklen, bis sie wieder in kurz aufeinander folgenden Zyklen auftraten. Jetzt gab es eine sehr lange Phase der Ruhe, in der nur kleine Beben registriert wurden. Mehrere Generationen von Maboriern kannten größere Beben nur aus alten Erzählungen. Aber das Beben, welches sich vor zwei Zeitzyklen ereignet hatte, war anders als alle anderen gewesen. Kurze Zeit nach diesem Beben gab es schließlich diesen merkwürdigen Befall einer Stadt in der Nähe von Lorkett, wo unbekannte Gesteinsbrocken auf die Dächer der Stadt Darimar herabregneten. Die Seismologen stellten fest, dass dieses Beben nicht aus dem Inneren ihrer Welt kam, sondern vom Oben, dem sogenannten Schleier. Zeru erinnerte sich sehr deutlich an diesen Zyklus. Sie trat damals ihre Arbeit in dem Institut von Professor Bereu erst vor wenigen Zyklen an. Auch wenn sie unter ihren neuen Kollegen sehr angesehen war, hielt sie sich doch in dieser Zeit immer noch im Hintergrund. Sie saßen gerade an ihren Instrumenten, als ein schwerer Schlag durch das gesamte Gebäude fuhr. Sämtliche Einrichtungsgegenstände wurden erschüttert. Eigentlich hätte es eine gewaltige Katastrophe werden können. Aber da der Lebensraum dieser Wesen rundherum abgedichtet war, wurde die Schockwelle nur von einem Punkt des Mondes auf die andere Seite des Mondes getragen. Die Auswirkungen auf der Mondoberfläche erwiesen sich als viel verheerender, als es sich die Maborier vorstellen konnten. Da sie aber nichts von der Mondoberfläche wussten, brauchten sie sich auch keine Gedanken darübermachen.
„Professor, was war das denn?“, fragte Zeru damals den Professor, der wie sie keine Erklärung für dieses Ereignis hatte. Sie sah sich erschrocken um. Sämtliche Gegenstände, die sich, der Schwerkraft folgend, im Laufe der Zeit auf den unterschiedlichsten Regalen abgesenkt hatten, trieben nun daraufhin losgelöst im Raum herum. Wie sie später erfuhr, kroch anschließend diese gewaltige Welle durch Maborien, die nicht nur Darimar verwüstete, sondern unzählige andere Ortschaften Maboriens. Glücklicherweise wurde die Region um Lorkett von dieser Welle verschont. „Das