Magierin der Liebe. Monika Auer
meiner Mutter vollends in den Abgrund. Ich bin ein Kind. Wie soll ich begreifen, warum sie regelmäßig wie eine wild gewordene Tarantel über mich herfällt? Sie tut so, als sei ich die Bedrohung in unserer Familie. Und dabei bin ich es, die vom Papa bedroht wird. Ich brauche dringend Schutz von meiner Mama. Ich sehne mich schrecklich nach ihrer Fürsorge und Liebe.
Was bloß mache ich in ihren Augen falsch? Sogar ihre Aufsicht über meine ersten Schulaufgaben endet für mich in schlimmster Demütigung.
„Bist du zu blöd zum Rechnen?“, faucht sie mich aggressiv an.
Dann verpasst sie mir mit ihrer harten Faust mehrere Kopfnüsse bis der Schmerz wie ein donnernder Zug durch mich hindurchfährt. Ich soll das Einmaleins lösen, aber sie fühlt sich von meiner Konzentrationsschwäche provoziert. Sie weiß nicht, dass diese ein eindeutiges Stresssymptom aufgrund des sexuellen Missbrauchs ist. Ein stummer Hilfeschrei, den meine Mama nicht hört oder hören will. Sie bleibt unbarmherzig, erhebt abermals drohend ihre Faust, während sie brüllt:
„Noch mal. Und jetzt richtig.“
Seit meinem zweiten Lebensjahr missbraucht mich Papa sexuell. Ich habe mich nie getraut, Mama davon zu erzählen. Ich hätte sonst ins Heim zurückgemusst. Aber meine mittlere Schwester verplapperte sich eines Tages. Da war sie gerade mal 3-jährig. Er hat es auch bei ihr versucht. Angeblich war das der Grund für die Scheidung - Inzest. Trotzdem ändert sich für mich danach nichts Wesentliches. Der sexuelle Missbrauch bleibt vorerst in meinem Leben ein fester Bestandteil, da mein Vater auf sein Besuchsrecht insistiert. In diesem Fall unterstützt ihn sogar das Gesetz. Niemand unterstützt mich, schützt mich vor meinem sexuell perversen Vater. Meine Mutter schon gar nicht. Ich darf nicht mehr darüber reden. Seit der Scheidung wird alles tot geschwiegen. Dafür lässt meine Mutter ihre Unzulänglichkeit und Überforderung an mir aus. Sie bedient sich dabei der schwarzen Pädagogik. Eine Erziehungsmethode, die emotionale und körperliche Gewalt gegenüber Kindern geradezu propagiert und meine Mama regelrecht dazu verführt, sich selbst zu erhöhen.
Ich glaube, sie rächt sich unbewusst an mir für ihr verkorkstes Leben. Ich bin ihr auserkorener Sündenbock. Ich bin Mamas Giftmüllcontainer. Mal sind es verbale Demütigungen. Mal heftige Schläge mit einem Kochlöffel, den sie auf meinem nackten Kinderpopo herabsausen lässt. Manchmal bricht er dabei. Dann greift sie zur Hundeleine.
Egal, was ich tue. Es ist falsch. Ich ziehe mich weiter in mich zurück. Im Gegensatz zu meinen Schwestern werde ich zunehmend introvertierter.
„Schau deine Geschwister an, die sind viel offener. Ich möchte gar nicht wissen, was du denkst. Du denkst bestimmt nur Schlechtes“, wirft sie mir ständig vor.
„Schau mich nicht so an. Du hast hässliche Augen“, faucht sie oft böse, als sei ich der Teufel in Person.
Während andere Kinder vergnügt auf ihrer Blumenwiese spielen dürfen, muss ich mich auf meiner vorsehen. Sie ist mit Tretminen verseucht. Kriegsgebiet. Mache ich eine falsche Bewegung, geht eine Bombe unter mir hoch.
Wenn ich lebe, sterbe ich. Ich sitze in einer Existenzfalle, die mich innerlich erstarren lässt. Freeze. Weder Kampf noch Flucht sind möglich.
Ich werde ganz still - mucksmäuschenstill. Verzweifelter Versuch eines kleinen Mädchens, sich durch einen Totstellreflex vor der Auslöschung seiner Existenz zu bewahren. Es gibt aber kein Entrinnen. Meine narzisstische Mutter ersinnt unaufhörlich Vorwände für einen Streit. Und jedes Mal verliere ich diesen ungleichen Machtkampf, wenn sie mich mit Schimpf und Schande auf mein Zimmer verbannt. Dieses liegt zwei Stockwerke über der elterlichen Wohnung, also außerhalb. Es befindet sich neben einem dunklen Dachboden, wo in meiner kindlichen Fantasie böse Geister leben.
Meine beiden Schwestern hingegen teilen sich innerhalb der kleinen Dreizimmerwohnung das Kinderzimmer mit Balkon. Ihnen geht es gut. Sie sind integriert und werden von der Mama beschützt.
Hoch oben unterm Dach sitze ich öfters des Nachts mutterseelenallein in meinem Gefühlschaos. Meine Geschwister besuchen mich selten in meinem Turmzimmer. Isolationshaft. Ich fühle mich einsam und verloren. Und da ist auch noch die harte Gipsschale, in die ich mich jede Nacht hineinlegen soll, wegen meiner krummen Wirbelsäule. Sie verstärkt das Gefühl, in einem Gefängnis zu sein und eine Zwangsjacke zu tragen.
Ein Abgrund öffnet sich in mir, und das, obwohl ich erst sieben Jahre alt bin. „Mama, wieso hasst du mich? Du fehlst mir“, schluchze ich in mein Kissen.
Mein Herzmuskel krampft. Es tut richtig weh in meiner Brust. Schuldgefühle übermannen mich. Bestimmt hat sie einen Grund, mich abzulehnen. Ich bin das böse Kind, die Schande unserer Familie. Vielleicht verdiene ich ihre Strafe. Ich schluchze ins Kissen, bis es nass ist. Dann hebe ich mein Gesicht. Mit tränenerstickter Stimme frage ich laut in den Raum hinein, der so still ist wie ein Friedhof:
„Mama, was soll ich machen, damit du mich wieder lieb hast?“
Anschließend schlage ich einige Male meinen Hinterkopf so heftig an die Zimmerwand, bis ein stechender Kopfschmerz den schrillen Herzschmerz ablöst.
(9) „Hospitalismus kommt überall dort vor, wo Menschen zu wenig oder negative emotionale Beziehungen erhalten. Es ist auch in Familien anzutreffen, in denen die Eltern mit der Pflege der Kinder überfordert sind oder diese aus irgendwelchen Gründen ablehnen und sie deshalb schwerer physischer und psychischer Vernachlässigung oder Misshandlung ausgesetzt sind. “
Ich fange an, mich selbst zu bestrafen. Täterintrojekt.
Wenn ich mich nicht verletze, sitze ich am Kinderschreibtisch. Dieser befindet sich direkt unterhalb des schrägen Dachfensters. Lustlos mache ich Hausaufgaben, die in der ersten Klasse eigentlich leicht sind. Doch ich leide an massiver Konzentrationsstörung. Immer wieder schweife ich mit meiner Aufmerksamkeit ab. Meist starre ich mit leeren Augen aus dem Fenster, vor dem sich ein evangelischer Kirchturm aus dunklem Sandstein aufbaut. Gleich einem Fingerzeig hebt er sich drohend gegen einen lichtgrauen Himmel ab. Seine viereckige Uhr aus goldfarbenen Ziffern springt mir mahnend ins Gesicht.
Ich bin so jung, und bereits in Zeit und Emotion gefangen.
Der Anblick des dunkelbraunen Kirchturms ängstigt mich. Ich öffne das schräge Dachfenster und schaue nach dem anderen Kirchturm. Der gehört einer katholischen Kirche, die sich ebenso in der Nähe unseres Mietshauses befindet. Aus hellbraunem Sandstein erbaut wirkt ihr Turm weniger bedrohlich. Ich lehne mich mit meinem kindlichen Oberkörper weit aus dem Dachfenster, um auf ihn eine bessere Sicht zu bekommen. Ich bin umzingelt von Gotteshäusern. Trotzdem fühle ich mich wie ein verlorenes Schaf. Was für eine Ironie. Noch bevor ich meinen Oberkörper ins Zimmer zurückziehe, überfluten mich Ohnmacht und Trauer. Da lösen die negativen Gefühle auch schon einen spontanen Klartraum aus.
Ich verliere die Balance und falle aus dem Fenster. Mein Körper rollt das Dach hinunter, an der Regenrinne vorbei, die ihn nicht aufhalten kann. Ich stürze in die Tiefe. Ich spüre den Aufschlag auf dem grauen Asphalt, direkt vor der Haustür meiner Mutter. Danach fühle ich nichts mehr. Ich bin eine Wolke, die aus erhabener Distanz alles Weitere beobachtet. Ich sehe Mama herbeieilen. Besorgt beugt sie sich über meinen leblosen Körper. Als sie begreift, dass ich tot bin, weint sie. Ja sie stimmt regelrecht ein Klagelied an. So wünsche ich es mir. Dass meine Mutter endlich Gefühle für mich zeigt.
(10) „Sich als Kind unerwünscht zu fühlen, führt dazu, dass einem als Erwachsener immer wieder das Herz gebrochen wird.“
Ich bin bereit, für die Zuneigung meiner Mutter zu sterben. Ich sehne mich wahnsinnig nach ihrer Liebe. Aber sie erfüllt sich nicht. Auch spüre ich keine Liebe durch Gott. Gibt es ihn überhaupt? Ich kann nicht aufhören, in meiner seelischen Not meine Gebete an ihn zu richten.
„Lieber Gott, bitte hilf mir. Ich bereue meine Sünden“, bete ich fleißig. „Bitte lass Mama mich lieb haben. Bitte, lass Papa mich anders lieb haben.“
Insgeheim wünsche ich mir, dass sich meine Eltern ändern. Alles ist ein Missverständnis. Ich bin ein gutes Kind.
Doch meine Gebete verhallen. Gott hört mich nicht. Und der Terror