Das Geheimnis des wahren Evangeliums - Band 1. Johanne T. G. Joan
erregt. Msgr Mondeo trug den Schlüssel stets bei sich oder bewahrte ihn unter Verschluss in einem Safe in seinem Arbeitszimmer.
Immer wieder stellte sich Carlucci die Frage, was für ein Geheimnis sich wohl hinter der dicken eichenen Türe verbergen möge.
Hin und wieder, anlässlich hoher Besuche, wurde der Raum aufgeschlossen und den Gästen, Kardinälen, Staatsmänner oder anderen interessierten Persönlichkeiten vorgeführt.
Ohne seine große Neugierde preiszugeben, riskierte er bei solchen Anlässen einen Blick durch die offene Tür und stellte fest, dass der kleine Raum ausschließlich Stapel von Schriftstücken, die in Regalen untergebracht waren, enthielt. Auf die Frage, warum ausgerechnet diese Schriften unter Verschluss gehalten wurden, zu denen ausschließlich der Präfekt und höhere Geistliche Zugang hatten, wurde ihm nie eine befriedigende Antwort gegeben, denn gerade bei religiösen Dokumenten, die für das Volk schlechthin geschrieben wurden, dürfte es keine Geheimniskrämerei geben. Der Angestellte Giovanni Carlucci arbeitete sehr hart, denn er hatte sich fest vorgenommen, eines Tages der Nachfolger des jetzigen Präfekten zu werden. Und so kam es dann auch. Als Msgr. Mondeo einige Jahre später pensioniert wurde, übertrug man Carlucci nach den üblichen Formalitäten das Präfekt-Amt der Geheimarchive.
Vor seinem Abschied führte Msgr. Mondeo Carlucci in die Aufgabe eines Präfekten ein und machte ihn auf seine Pflichten sowie Verantwortungen aufmerksam. Der Geheimraum würde gnostische Fälschungen beinhalten, Unterlagen, die für den Fall, dass sie veröffentlicht werden würden, eine Gefahr für die Kirche bedeuten könnten, rechtfertigte Msgr. Mono die Geheimhaltung der Schriften und ermahnte den frischgebackenen Präfekten, den Schlüssel wie sein Augenapfel zu hüten und niemals aus der Hand zu geben.
Nachdem der pensionierte Präfekt sein Arbeitszimmer geräumt hatte, verabschiedete er sich und wünschte dem Neuling und den anderen Mitarbeitern alles Gute.
Als Carlucci das leergeräumte Arbeitszimmer des Msgr. Mondeo betrat, lief er geradewegs zu dem Safe, in dem der Schlüssel zum Geheimraum aufbewahrt war und beeilte sich ihn zu öffnen. Der Schlüssel lag dort. Er nahm ihn und ließ sich in seinen neuen Präfekt-Sessel fallen. Er fühlte sich wie einer, der den Einzahlungsschein, auf dem sechs richtige im Lotto angekreuzt sind, in der Hand hält. Eine ganze Weile betrachtete der neue Präfekt das glänzende Metallstück von allen Seiten in seiner Hand und überlegte, wie viele Jahre er diesen Moment herbeigesehnt hatte. Der Geheimraum war ihm zu einer Fiktion geworden. Immer wieder war er im Traum in ihn eingebrochen und entdeckte dort Schätze aller Arten. Es war Freitagabend, das ganze Personal war nach Hause gegangen. Er zögerte und beschloss dennoch, jetzt noch einen Blick in die Geheimkammer zu werfen.
Er eilte den langen Gang entlang, der zu dem Raum führte. Endlich stand er vor der eichenen Türe und, obwohl er von nun an befugt war, den Raum zu betreten, kam er sich wie ein Einbrecher vor; seine Träume holten ihn ein. Er redete sich gut zu und versuchte sich zu beruhigen, dennoch war seine Aufregung so groß, dass er den Schlag seines pochenden Herzens bis zur Halsschlagader hämmern hörte. Ein Kribbeln im ganzen Körper gab ihm das Gefühl, plötzlich schwerelos zu sein. Wie ein Dieb steckte er vorsichtig den Schlüssel ins Schloss und sah sich beim leisen Öffnen der schweren Türe instinktiv um. Der Raum war dunkel und hatte keine Fenster. Er schaltete das Licht ein.
Die Luft in dem Raum roch stickig und zeugte vom hohen Alter seines Inhaltes. Er konnte ein gleichmäßiges Summen der Klimaanlage wahrnehmen, die zum Schutz der wertvollen Manuskripte die Luftfeuchtigkeit im Raum aufrechterhielt.
Wie ein Eingeweihter in die heilige Schatzkammer betrat er ehrfürchtig den relativ kleinen Raum. Seine Augen überflogen grob die Überschriften der Manuskripte in den Regalen und er stellte fest, dass die meisten Werke in Hebräisch, einige in Aramäisch und vereinzelte in Griechisch verfasst waren.3 Ein mächtiges Buch lag auf einem kleinen Tisch. Er öffnete es. Es war der Katalog, in dem alle Werke, die in diesem Raum vorkamen, klassifiziert waren. Es setzte sich auf den Stuhl und begann das Verzeichnis zu studieren.
Die Zeit verging schnell; er schaute auf die Uhr; beinahe hätte er eine wichtige Verabredung am Freitagabend mit seinem alten Studienfreund Gilberto, mit dem er sich einmal im Monat traf verpasst. Er beeilte sich, den Raum zu verlassen und die Tür hinter sich zu schließen. Den Schlüssel setzte er an seinem gewohnten Platz zurück. Morgen würde er den Inhalt des Raums genauer unter die Lupe nehmen.
2 Das Evangelium der Essener: „Die Entdeckung des Friedensevangelium der Essener“, S. 337–345.
3 Ebenda.
4. Kapitel
Der Wirt begrüßte den Geistlichen mit einem überzogenen Bückling und begleitete den Gast zu seinem Tisch, an dem bereits sein Freund Gilberto saß. Seit Jahren trafen sich die alten Bekannten einmal im Monat in einem luxuriösen Restaurant in Rom, um sich auszutauschen und gepflegt zu speisen. Die Männer kannten sich seit ihrer Studienzeit an der Sorbonne in Paris. Damals gehörten sie zu einer Art Bande mit sieben Studenten und Studentinnen aus Deutschland, Italien, England und Frankreich, die hin und wieder die Gegend in der französischen Hauptstadt mit schrägen Sachen, die knapp an die Rechtswidrigkeit grenzten, unsicher machten. Diese jugendlichen Tollkühnheiten hatten sie offensichtlich zu einer Einheit zusammengeschweißt, denn bis zu dem heutigen Tag hielten sie einen regelmäßigen Kontakt zueinander.
Gilberto war schlank und hochgewachsen, sein dunkelbraunes Haar war gelockt und seine Wangen rosig. Stets sah er gesund aus.
„Ich gratuliere zu deiner Ernennung zum Präfekten der Geheimarchive“, rief Gilberto dem Neuankömmling zu und stand auf, um seinem Freund die Hand zu reichen.
„Danke, ich arbeite mich gerade in meine neue Funktion ein und hätte deshalb beinahe unsere Verabredung verpasst. Hast du schon bestellt?“
„Nein, ich bin auch gerade angekommen.“
Carlucci schlug die Speisekarte auf, die vor ihm auf dem Tisch lag und sagte:
„Mein Magen knurrt bereits und kündigt mir den bevorstehenden Hungerstod an!“
Gilberto musste lächeln und tat es dem Geistlichen gleich. Schweigend studierten die Männer einige Minuten die Speiseangebote.
Als sie nacheinander den schweren Lederdeckel der Karte vorsichtig zuklappten, kam sogleich der Kellner und nahm die Bestellung entgegen.
„Hauswein wie immer?“, schlug der Mann mechanisch vor und notierte den Vino della Casa, ohne die Antwort der Gäste abzuwarten auf einem kleinen Bock.
Fast unmerklich nickten die Gäste bejahend.
Carlucci bestellte sich ein Fischgericht und einen gemischten Salat.
Gilberto, der Vegetarier war und zwischen Fisch und Fleisch keinen Unterschied sah, und alle, die Fleisch essen, ob Fisch oder Fleisch, als fressende wilde Tiere bezeichnet, bestellte sich einen Gemüseteller und einen Salat, den er ohne Essig aber dafür mit frischem Zitronensaft, selbst anzumachen bevorzugte.
„Besonders die Kirche gaukelt ihren Anhängern vor, dass Fisch kein Fleisch sei, und dass der Verzehr von „nur“ Fisch am Freitag, eine Art zu fasten sei. Ein Gebot, das impliziert, dass es vom Glauben aus erlaubt sei, sechs Tage in der Woche Fleisch zu essen“, stellte Gilberto fest.
Der Ober, der die Gepflogenheit des besonderen Gastes kannte, notierte sich die Bestellung und ging.
Während Carlucci durch seinen christlichen Glauben seinen Körper als vergängliches Vehikel betrachtete, der mehr oder weniger als Mittel zum Zweck funktionieren muss, sah Gilberto, der die religiösen Überzeugungen seines Freundes nicht teilte und sich als Monotheist bezeichnete, den menschlichen Körper als mehr als nur ein Gefährt, das lediglich funktionieren muss. Er hatte durch seine langjährigen Praxiserfahrungen erkannt, dass die Gesundheit des Leibes unmittelbar das Gemüt und die Psyche positiv beeinflusst, die Qualität der Gedanken bestimmt und demzufolge unmittelbar mit der Lebensqualität zusammenhängt. Der Therapeut, der sich als Naturarzt verstand, favorisierte die Art von Nahrung, die – außer Fleisch und Fisch, versteht sich – frisch war und noch die Fähigkeit zum Kompostieren