Blick auf den Nil. Karim Lardi
auf den Bildschirm, drückte auf Aus und schaute zu, wie der amerikanische Politiker ruckartig verschwand. Dann stand er auf und ging mit starrem Blick niedergeschlagen in sein Zimmer, das sich in der letzten Ecke der Terrasse befand.
Er sah aus, wie jemand, der sich an etwas zurückerinnert, an das man sich nicht gern erinnert und das einen immer wieder aus der Fassung bringt.
Bevor er in sein Zimmer verschwand, fasste ihn sein bärtiger Zimmernachbar am Ellbogen und führte ein angeregtes Gespräch mit ihm, während er rasche finstere Blicke in die feiernde Runde warf. Im Halbdunkeln stand er im Türrahmen seines Zimmers und sah mit seinem langen Bart unsäglich streng aus.
„Sifou! Unser durchtriebener Chefideologe, der wieder seine Gehirnwäsche verpasst!“, flüsterte Sherif.
„Das verheißt nichts Gutes“, dachte sie.
„Spitzname?“ Es muss ja wohl einer sein, denn sie kannte keinen arabischen Namen, der so klang. Hinter seinem Rücken hatten die Nachbarn ihn Sifou getauft. Sherif selbst hasste die Wendung, aber auf Saif passte sie. So heißt er in Wirklichkeit. Sifou, der endlos Wahnsinnige, der vor nichts zurückschreckte, war nur ein Spitzname, den man ihm gab wegen seiner Wutanfälle, seiner gefährlichen Stimmungsschwankungen und seinem bizarren Benehmen. Sifou war ein Mensch emotionaler Extreme. Viele meinten, dass er an einem Wahn litt. Seine ganze Welt, seine ganze Person ist ein einziges verdammtes Geheimnis. Undurchschaubar.
Es war unmöglich zu erkennen, was in seinem Geist vorging. Seine Stimme wurde plötzlich scharf und ihn packte Zorn.
„Brennholz der Hölle und Satansbraten, Sodom und Gomorrha, Sittenlose Bagage!“, schimpfte er, die anderen nicht aus den Augen lassend, bevor er in seinem Zimmer verschwand und die Tür zuknallte.
Sherif blickte ihm wortlos nach. Er schüttelte bloß den Kopf. Laura konnte wegen der Akustik kein Wort aus dem Gespräch auffangen, aber sie konnte sehen, wie ein Schatten über Sherifs Gesicht glitt, es leicht verfinstern und alle Belustigung für einen Moment aus seinem Gesicht schwinden ließ. Was führten Saif und Ramzi im Schilde? Das hätte Sherif Laura gern ausführlich erklärt, aber er hielt lieber den Mund.
Als Laura sich den Feiernden auf Arabisch vorstellte, sahen sie sie mit erstaunter Neugier an. Kontaktfreudig zogen sie sie sofort ungezwungen in die Gruppe, umschwärmten sie und überschütteten sie mit unzähligen Fragen und viel Aufmerksamkeit. Im Halbkreis standen sie um sie herum und machten ihr Komplimente: Aus ihrem Mund klänge Arabisch besonders schön, melodiös wie ein Vogelzwitschern, ein Bulbul, eine Nachtigall also, wohltönender als manch pseudoblonde Fernsehsprecherin, von denen heutigentags die arabischen Sender wimmeln und die so vorlesen als hätten sie ihre Zunge samt Manuskript verschluckt.
„Wann wirst du eine Arabisch-Schule für unsere Abgeordneten aufmachen“, fragte ein Junge scherzend.
Laura lächelte etwas verlegen und zeigte ihr Grübchen auf der linken Seite. Sie hatte gelesen, dass Ägypter schöne Worte lieben und umso großzügiger damit umgehen, wenn sie mit Gästen sprechen. Sherif meinte zwar, das sei ein ernstgemeintes Kompliment.
Die lockere Stimmung gefiel ihr besonders gut und die honigsüßen Lobsprüche erleichterten ihr den Umgang. Offenherzig, animiert durch die lockere Atmosphäre, glitten ihr die Worte leicht über die Lippen.
Sie saßen ungezwungen auf der Terrasse, erzählten unbefangen voneinander und bestürmten sie mit neugierigen Fragen, die Laura gerne beantwortete.
Auch Saadiya und Onkel Hany zogen sich einen Stuhl an den Tisch und hörten aufmerksam zu, wie Laura von ihrer Heimatstadt, ihrer Liebe zur Archäologie und Völkerkunde erzählte.
„Ich stand vor drei Optionen, entweder später eine Priesterin werden, einen Fahrradladen aufmachen, oder in die weite Welt flüchten. Da ich mich weit weg sehnte, ging ich der letzten Option nach, und ich bereue es nicht. Es war von Anfang an eine Sache des Herzens; ich wollte immer Entdeckungsreisende werden. Es gibt so viel auf der Welt zu entdecken, dass dafür zwei Leben nicht reichen. Die ganze Erdkugel ist eine Fundgrube und wir Menschen sind Grabungsarbeiter.“ Ein Satz, den alle schön fanden.
Saadiya fragte Laura besorgt, ob sie Eltern hätte, ob sie noch am Leben seien und was sie davon hielten, dass ihre so hübsche blonde Tochter in so jungen Jahren alleine reiste.
„An dem Tag, an dem euer Onkel Hany mich geheiratet hatte“, erzählte Saadiya voller Genugtuung, „konnte ich zum ersten Mal, den Fuß vor die Tür setzen. Davor hätten mir meine Eltern die Beine zerschmettert, wenn ich jemals bloß daran gedacht hätte, einen kleinen Mörser aus dem Nachbarhaus zu holen, geschweige denn einen Krug Wasser vom Nil“, sagte sie fröhlich. Was von den anderen natürlich allusorisch verstanden wurde und ein brummiges Lachen hervorrief. Als Saadiya die Zweideutigkeit dieser Vorstellung bewusst wurde, wurde sie unwillkürlich rot.
„So selbstverständlich war das auch bei mir nicht“, schaltete sich Laura mit erstaunter Stimme ein.
„Meine Eltern hatten etliche Anfälle bekommen, als sie erfuhren, dass ich nach Ägypten ziehen wollte“, erzählte sie.
„Was? Allein nach Arabien? fragten sie fassungslos, als läge Ägypten am Ende der Welt und als hätte ich gerade eine höchst waghalsige Sindbad-Reise vor mir, nach Zim-Zamalek, der Insel in der ungezähmten Wildnis. Meine Entscheidung war ein furchtbarer Schock für die ganze Familie.“
„Mädchen! Bist du dir im Klaren über die Tragweite deiner Entscheidung? Weißt du was du dir damit antust?“, fragte mich meine Mutter unter Tränen.
„Bedenke den Weg, über den Frauen gehen müssen, bevor sie die Aussicht haben, ein Mensch zu werden!“, warnte mich meine überängstlichste Tante Alice scharfzüngig. Ihr schlimmster Albtraum war schon immer eine Reise in den Orient gewesen, wo die armen Frauen beschnitten und dem finsteren Unheil der wilden orientalischen Männerwelt ausgeliefert werden. Sie würde sich lieber ans Kreuz nageln lassen, als sich in den Orient zu begeben. Der ganze Orient müsste, ihrer Meinung nach, in therapeutische Behandlung gehen und seine dunklen Seiten ausleuchten lassen.
„Lass dich bloß nicht radikalisieren, sagte sie als sie dann sah, dass ich meine Entscheidung nicht mehr revidieren würde und dass ihr urfreudianischer Quatsch nicht fruchtete.“
„Genau wie Du, sind viele naive Mädchen dahin gereist und endeten gekleidet wie Fledermäuse im Harem der Salafisten oder als Sexgespielin auf den groben Bettmatten der gräulichen Dschihadisten“, warnte sie mich abschreckend mit ihrem lippenlosen Mund.
„Du wirst mich erst verstehen, wenn der erste Dschihadist dir mit einem eisernen Schwert entgegenstürmt und mit voller Wucht in deinen zarten Körper einfährt und ihn zersäbelt.“
„Selbst meine Freunde halten mich für seltsam. Ja, für eine wirklichkeitsfremde Irre und eine Ausreißerin“, flüsterte sie.
Onkel Hany starrte die ganze Zeit auf Laura während sie redete. Und wer ihn und seine Gestik kannte, wusste ganz genau, dass ihn bald wieder einer seiner Anfälle der übermütigen Heiterkeit überkommen würde.
„Wenn meine Nachbarn nichts mehr zu sagen hatten, zogen sie über mich her. Es wurde viel über mich gelästert und ich war Gegenstand des Spotts in jeder Runde. Sie sagten Dinge wie „Laura von Arabien“. Um mich zu ärgern setzten sie noch einen drauf und nannten mich „Usama Ben Ladens neuer Schwarm.“
Abwägend wackelte Onkel Hany mit den buschigen Augenbrauen, kratzte sich leicht an der Brust und setzte sein spöttisches Grinsen auf.
„Bruder Usama hätte sie ganz bestimmt nicht von der Bettkante gestoßen“, witzelte er mit dieser besonderen Stimme, die er sich immer für Gelegenheiten aufhob, wenn er einen seiner absonderlichen Späße machen wollte. „Er hätte höchstselbst seinen weißen Turban und seinen langen schwarz gefärbten Bart ausgebreitet“, sagte er frotzelnd und löffelte seine Bohnen. Alle lachten belustigt. Erst ein warnender Blick und ein Knuff in die Magengrube von seiner Frau brachten ihn zum Schweigen, zumindest für einen Moment, bevor er wieder seiner Zunge freien Lauf ließ.
„Wer könnte, bitte schön, solchen Augen widerstehen.