Arztroman Sammelband: Drei Romane: Ihre Verzweiflung war groß und andere Romane. A. F. Morland
„Ein Krankenwagen ist bereits unterwegs“, stieß der aufgeregte Hotelangestellte hervor.
Dr. Sven Kayser holte die Bereitschaftstasche aus seinem Wagen und hastete ins Hotel. Thomas Winter lag röchelnd auf dem Bett.
Er war kurz ohnmächtig gewesen, doch nun war er wieder bei Bewusstsein. Leichenblass war sein schweißglänzendes Gesicht. Er krallte die Finger in seine Brust.
„Dr. Kayser ...“, gurgelte er. „Mein Herz ... Es ist das Herz ...“
Sven versuchte dem Mann mit einer Spritze zu helfen, und Thomas erholte sich tatsächlich ein wenig, aber sein Zustand blieb kritisch.
„Der Krankenwagen wird gleich eintreffen“, machte Dr. Kayser dem Patienten Mut. „Man wird Sie in die Seeberg-Klinik bringen. Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Winter. Es wird alles wieder gut. Es kommt alles wieder in Ordnung.“
„Mein Herz ...“, röchelte der Mann. „Angina pectoris ...“
„Wenn Sie sich schonen und die entsprechenden Medikamente nehmen, können Sie damit noch lange leben.“ Das Vernichtungsgefühl ebbte langsam ab.
„Zuviel Alkohol ...“, kam es über Thomas Winters bebende Lippen.
„Ja, davon müssen Sie in Zukunft die Finger lassen“, sagte Dr. Kayser. „Das war nicht Ihr erster Anfall, nicht wahr?“
„Nein – aber so schlimm war’s noch nie ...“
Sven entdeckte das Röhrchen mit den Nitrokapseln. „Sie waren beim Arzt.“
Thomas Winter nickte. „Bei drei Ärzten“, gestand er.
„Man hat Ihnen sicher gesagt, dass Alkohol für Sie besonders schädlich ist.“
„Ich werde eine Entziehungskur machen“, röchelte der Patient.
Sven sah den Mann besorgt an. „Sind Sie Alkoholiker?“
„Ja“, gab Thomas Winter zu.
„Ich werde Ihnen helfen, sobald Sie aus der Seeberg-Klinik rauskommen.“
„Glauben Sie denn, dass ich noch mal rauskomme, Dr. Kayser?“
„Ja, Herr Winter, ich denke, dass Sie eine echte Chance haben“, antwortete Sven, und dann trafen die Sanitäter ein.
Als sie Thomas Winter zum Krankenwagen trugen, wandte Dr. Kayser sich Solveig Abel zu: „Ich fahre mit.“
Sie nickte verständnisvoll. „Natürlich.“
„Ich ruf dich morgen an“, versprach Sven und eilte den Sanitätern hinterher.
12
Iris weinte. Warum konnten sich Vati und Mutti nicht vertragen? Warum mussten sie immerzu streiten? Hatten sie sich denn gar nicht mehr lieb? Sie sahen einander ohnedies nur ganz selten. Konnten sie sich nicht wenigstens da zusammennehmen und nett zueinander sein?
Sie wissen nicht, wie sehr ich darunter leide, dachte Iris unglücklich. Sie ahnen nicht, wie weh sie mir damit tun. Ich liebe sie doch alle beide. Ich möchte nicht, dass sie so böse aufeinander herumhacken.
Vati schrie, und Iris zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen. Sie dachte daran, ihren Eltern Kummer zu bereiten. Weglaufen wollte sie, aber sie wusste nicht, wohin. Und würden ihre Eltern es überhaupt bemerken, dass sie nicht mehr da war? Sie kümmerten sich ja so wenig um sie.
Wer weiß, wann es ihnen auffallen würde, dass ich weg bin, ging es dem Mädchen durch den Sinn. Vielleicht überhaupt nie. Ach, ich wollte, ich würde nicht mehr leben. Mich mag ja doch keiner – Vati nicht, und Mutti auch nicht. Sie werden wahrscheinlich nicht einmal um mich weinen, wenn ich tot bin. Oh, ich bin ja so traurig, so unendlich traurig.
Unten schrie ihr Vater wieder. Und die Mutter schrie zurück.
Iris presste das Kissen auf ihre Ohren. „Hört auf!“, schluchzte sie. „Hört bitte, bitte endlich auf!“
Doch ihre Eltern hörten sie nicht.
13
Dr. Kurt Liebig, ein schüchterner, sympathischer Mann Ende dreißig, hatte in der Seeberg-Klinik Nachtdienst. Er begrüßte Dr. Kayser und veranlasste, dass der Herzpatient sofort auf die Intensivstation gebracht wurde.
Thomas Winter zerrte die Sauerstoffmaske von seinem Gesicht. „Dr. Kayser! – Dr. Kayser! Sagen Sie meinem Bruder und meiner Schwägerin nicht, dass ich hier bin! Ich möchte nicht, dass sie mich so sehen!“
Sven Kayser nickte. „Ich werde Ihre Verwandten nicht informieren, wenn Sie es nicht möchten, Herr Winter. Sie können sich auf mich verlassen.“
Thomas Winters EKG sah nicht sehr ermutigend aus. „Sehen Sie sich das an“, forderte Dr. Liebig seinen Grünwalder Kollegen auf.
Ein Blick auf die schwarzen Zacken, die der Elektrokardiograph auf den breiten Papierstreifen geschrieben hatte – die einzelnen Ausschläge und Abschnitte wurden mit Buchstaben bezeichnet, es gab die P-Zacke, die PQ-Strecke, die Q-, R- und S-Zacke, die ST-Strecke, die T- und die U-Welle –, ließ Sven erkennen, wie schlecht es noch immer um den Patienten stand. Sämtliche lebenserhaltende Maßnahmen waren von Dr. Liebig inzwischen veranlasst worden, doch der Patient würde sehr viel Glück brauchen, um die Nacht zu überleben.
Eine junge, hübsche Krankenschwester übernahm die Sitzwache. Schwester Sabine. Sven kannte sie. Sie war noch nicht; lange an der Seeberg-Klinik, doch es hieß allgemein von ihr, dass sie sehr tüchtig und zuverlässig war.
Selbst Charlotte Besserdich, die Oberin, hatte das schon gesagt, und das wollte einiges heißen, denn ein Lob aus ihrem Mund bekam man nicht alle Tage zu hören.
Da Dr. Liebig und Dr. Kayser für den Patienten nichts mehr tun konnten, verließen sie das Krankenzimmer. „Sind Sie Herrn Winters Hausarzt?“, erkundigte sich der Internist.
„Das war ich, bis er München verließ“, antwortete Dr. Kayser. Er erzählte ein wenig mehr über den Patienten und über die Familie Winter.
„Trinken wir eine Tasse Kaffee zusammen?“, fragte Dr. Liebig.
„Sehr gern.“
Im Ärztezimmer fragte Sven dann: „Wie geht’s zu Hause?“
„Oh, danke, jetzt ist wieder alles bestens.“
Dr. Kayser horchte auf. „Gab’s denn irgendwelche Probleme?“
„Annemie