Talitha Running Horse. Antje Babendererde
ganz blass. Wie ein richtiges Bleichgesicht.«
Mit jedem Wort, das er sagte, wurde ich befangener. Mir war klar, dass ich mich wie eine komplette Idiotin aufführte, aber Neils freundlich besorgte Stimme bewirkte, dass ich mich noch elender fühlte.
»Es ist nichts«, sagte ich. »Wirklich.«
»Na dann lass uns Taté und Psitó holen.«
Ich lief ihm hinterher. Wenn er mit seinen langen Beinen einen Schritt machte, musste ich zwei machen. »Was hast du denn vor?«, fragte ich.
»Ausreiten.« Er blieb stehen und drehte sich um. Seine schwarzen Augen funkelten schelmisch. »Diesmal jeder auf seinem Pferd.«
»Aber … «
»Keine Angst, du kannst Psitó natürlich satteln, wenn dir das lieber ist.«
Wir holten die braun gefleckte Stute und den Hengst aus den Hügeln und banden sie an die Zaunbalken vor der Scheune. Nachdem wir sie gründlich gestriegelt hatten, half Neil mir Psitó zu satteln. Er selbst zog es vor, den Leopardenschecken ohne Sattel zu reiten, und ich hatte auch gar nichts anderes erwartet.
»Hast du Angst?«, fragte er, als er aufsaß und das große Tier mit Leichtigkeit wendete, um vorauszureiten.
»Nein«, sagte ich, was nur die halbe Wahrheit war. Ganz deutlich spürte ich das Prickeln im Nacken.
»Dann ist es ja gut«, sagte Neil. »Wenn Psitó nämlich spürt, dass du Angst hast, dann regt sich in ihr das Gefühl der Überlegenheit und sie wird dir Schwierigkeiten machen.«
Neil ritt mit mir zum ersten Hügel hinter dem Haus und brachte mir bei, bergan und bergab zu reiten. »Fersen nach hinten, Ellenbogen an den Körper«, sagte er. »Lehn dich nach vorn. Nicht an den Zügeln zerren, das Pferd muss durch deine Bewegungen, die Verlagerung deines Gewichtes merken, was es tun soll.«
Psitó wurde schneller, als sie den Hügel erklomm, genau wie gestern, als Neil hinter mir auf dem Pferd gesessen hatte.
»Keine Angst«, sagte er, »wenn sie oben angelangt ist, bleibt sie erst einmal stehen. Das hat Pa ihr so beigebracht.«
Ich hatte keine Angst. Ich tat einfach das, was Neil mir am gestrigen Tag vorgemacht hatte, und es funktionierte. Das große Tier, auf dessen Rücken ich saß, gehorchte meinen Befehlen.
Irgendwann waren wir oben angelangt, auf dem höchsten Berg. Ich hatte nicht viel mehr tun müssen, als Psitó einfach dem Hengst hinterherlaufen zu lassen. Die Stute wusste instinktiv, wie und wo sie die Hänge am besten nehmen konnte. Und ich war oben geblieben.
Neil sprang ab und auf seinen Wink hin ließ ich mich von Psitós Rücken gleiten.
»Psitó läuft merkwürdig«, sagte er und hob nacheinander die Beine der Stute an, um ihre Hufe zu kontrollieren. Im linken Vorderhuf hatte sich ein spitzer kleiner Stein verklemmt, und Neil entfernte ihn mit seinem Messer.
Dann führte er mich über einen schmalen Grat zu den Kalkfelsen. Metertiefe Schluchten öffneten sich auf beiden Seiten des Pfades und mir wurde mulmig, zumal ich nach dem Ritt sowieso ein wenig wacklig auf den Beinen war. Neil merkte es und griff nach meiner Hand. Seine Finger waren warm und staubig.
Schließlich standen wir ganz vorn, auf einer flachen Erhebung und blickten ins Tal hinunter. Neil ließ mich los. Ich sah das rote Haus der Thunderhawks und – ganz in der Nähe der Straße – das Haus von Tante Charlene. Scooter und Rip, die beiden Hunde, lagen vor ihrer Holzhütte in der Sonne.
Weiter links sah ich die Pferde in einer Senke weiden und rechts im Tal entdeckte ich das kreisrunde Schutzdach eines Powwow-Platzes. Auf einmal erinnerte ich mich daran, dass ich vor langer Zeit schon einmal mit meinem Vater und meiner Mutter hier gestanden hatte. Es war Dads Land, auf dem wir uns befanden. Unser Land.
»Warst du schon mal hier?«, fragte Neil, als könne er Gedanken lesen.
»Ja«, sagte ich. »Aber es ist ziemlich lange her.«
»Das Land gehört deinem Vater«, bemerkte er. »Warum wohnt ihr eigentlich nicht hier? Hier ist es doch viel schöner als drüben in Porcupine.«
Ich hob die Schultern. »Unser Trailer ist so alt, dass er nicht mehr transportiert werden kann. Und einen neuen Trailer oder ein richtiges Haus können wir uns nicht leisten. Dad kriegt einfach keinen festen Job. Dabei hat er ein Zertifikat als Automechaniker, und er kann auch sonst ziemlich viel.«
Neil nickte. Er wusste gut, wovon ich sprach. Es gab kaum Jobs im Reservat, weil die Wirtschaft nicht in Gang kam. Wer eine Idee hatte, bekam keinen Kredit von der Bank, weil ein Indianer nun mal nicht kreditwürdig war. Hatte jemand genug eigenes Geld, um ein Geschäft zu eröffnen, standen auf einmal sämtliche Verwandte vor der Tür und hielten die Hände auf. Derjenige konnte sich dann überlegen, ob er ein guter Lakota war und sich großzügig verhielt oder ob er ein guter Geschäftsmann sein wollte. Die meisten waren gute Lakota – und so blieb alles beim Alten. Ein Großteil der Reservatsbewohner lebte von Sozialhilfe, die nie bis zum Ende des Monats reichte.
Über die Hälfte des Reservatslandes war seit vielen Jahren zu Spottpreisen an weiße Farmer verpachtet und es würde noch einmal viele Jahre dauern, bis die Pachtverträge ausliefen und wir Lakota unser Land wieder selbst nutzen konnten. Eine Menge Dinge lagen im Argen im Reservat, und es bedurfte großer Kraft und vor allem Einigkeit, um daran etwas zu ändern.
Plötzlich spürte ich eine Bewegung über meinem Kopf und hob den Blick in den Himmel. Über uns kreisten riesige schwarze Vögel in den warmen, aufsteigenden Luftmassen aus dem Tal. Es sah aus wie ein Tanz. Ihre dunklen Schatten wanderten über die Felsen.
»Truthahngeier«, sagte Neil. »Irgendwo wird vermutlich ein totes Tier liegen.«
Truthahngeier waren Aasfresser und hatten einen sehr ausgeprägten Geruchssinn, das wusste ich. Ich versuchte, sie zu zählen. Es waren sieben, acht, nein – zehn, zwölf. Immer mehr kamen über die Hügel geflogen, senkten sich dicht über unsere Köpfe hinweg, sodass ich das Gefühl hatte, vom Luftzug ihrer Schwingen berührt zu werden.
Eine Zeit lang beobachteten wir die großen Vögel bei ihren Flugmanövern, dann liefen wir über den schmalen Grat zurück zu Psitó und Taté, die friedlich nebeneinander grasten. Die Gebissteile ihrer Trensen klirrten leise, wenn sie am Gras zupften.
Wir stiegen auf und ritten noch ein Stück. Weiter hinten, wo die Hügel flacher wurden, stand eine alte Hütte, und nicht weit davon gab es einen kleinen See, auf dem ein Entenpärchen schwamm.
Ich wartete sehnsüchtig darauf, dass Neil seinen Hengst im Galopp laufen ließ, weil ich ihm dann mit Psitó folgen konnte. In diesem Augenblick war ich meinen Träumen so nah wie noch nie zuvor. Es war herrlich, den warmen Wind im Gesicht zu spüren, das ruhige Trommeln der Hufe im Ohr. Nur dass die alte Psitó nicht annähernd Ähnlichkeit mit meinem Traumpferd hatte und der leichte Trab, den Neil mir zugestand, nicht mit dem Fliegen über die Prärie in meiner Vorstellung zu vergleichen war.
Wir machten schließlich kehrt und ritten zum See, um die Pferde trinken zu lassen. Dann ritt Neil voran und ließ den Leopardenschecken einen guten Weg zurück ins Tal suchen. Als wir wieder bei der Scheune angelangt waren und Neil den Sattel von Psitós Rücken hob, sagte er: »Besser du erzählst meinem Vater nichts von unseren Ausritten. Wenn er morgen fragt, dann sag ihm, wir hätten hier auf dem Platz geübt.«
»Okay«, sagte ich und versuchte beiläufig zu klingen. »Schon klar.« Ich war gezwungen zu lügen, was mir nicht gefiel. Wer keine Erfahrung im Lügen hatte, wurde leicht ertappt. Andererseits war es ungeheuer aufregend, mit Neil Thunderhawk ein Geheimnis zu haben. Denn der Ausritt hatte ihm – da war ich mir sicher – mindestens ebenso viel Spaß gemacht wie mir.
In den nächsten drei Wochen war ich jeden Tag bei den Pferden und Tom Thunderhawk brachte mir alles bei, was ich wissen musste. Er verlor niemals die Geduld und hatte immer einen Scherz auf den Lippen, wofür ich ihm sehr dankbar war.
Irgendwann gestattete er mir, Psitó alleine zu reiten, wann immer ich wollte. Toms Vertrauen machte mich glücklich