Achterbahn des Daseins. Julian Mores

Achterbahn des Daseins - Julian Mores


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meine Eltern mich einfach auf eine andere Schule. Fündig wurde sie in der für mich nicht gerade nahe gelegenen Stadt Königswinter. Die dort gerade eröffnete CJD-Schule beinhaltete sowohl einen Real- als auch einen Gymnasialbereich und war teils privat, teils halböffentlich. Sie war aber blöderweise 15 Kilometer entfernt, was für mich in diesem Alter der blanke Horror war und neue Probleme vorprogrammiert.

      Mir ging es fortan mental absolut miserabel. Ironischerweise begann ich wieder in der fünften Klasse, aber eben mit Aussicht aufs Gymnasium. Durch den bereits erlernten Stoff fiel es mir natürlich sehr leicht, gute Noten zu schreiben. Noten, die dazu führten, dass ich nach einem halben Jahr tatsächlich aufs Gymnasium ging. Konnte das vielleicht sogar der Plan meiner Eltern gewesen sein?

      Trotz der guten Noten war ich sehr oft krank in dieser Zeit. Manchmal war ich es tatsächlich, manchmal tat ich einfach so, um mit meinem Arsch im Bett zu bleiben. Nun kam hinzu, dass ich mich immer öfter aus der Schule verdrückte und schwänzte. Wenn mir was nicht passte oder ich Heimweh hatte, gab es für mich kein Halten. Aufgrund meiner entsprechenden Krankheitstage schleppte mich meine Mutter daraufhin zu einem Kinderarzt. Um rauszufinden, was mit mir los war, führte dieser sämtliche Tests mit mir durch. Zwecks Lernanalyse zu meinem Unwohlsein beziehungsweise Befinden und der dazu gehörigen Psychologie zeichnete er mit mir ein Videointerview auf. Leider habe ich heute nur noch grobe Erinnerung daran. Da ich mich aber diesem Arzt keineswegs anvertraute und auch meinen Eltern nichts von meinem Heimweh erzählte, blieb alles beim Alten.

      Um nur ja weiter die guten Noten aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass ich überhaupt zur Schule ging, versorgte mich meine Mutter so gut wie jeden Tag mit Geld, Versprechen oder Leckereien aus der Bäckerei. Doch es wurde schlimmer. Ich war mittlerweile so koordiniert, dass ich genau wusste, wie und wann ich zurück nach Hause kam.

      Ein Schulfreund, mit dem ich dann doch einigermaßen grün wurde, war Erwin. Er war meines Wissens nach adoptiert und kam aus dem asiatischen Raum. Diese Freundschaft rührte daher, da er den Sport genauso liebte wie ich. Er brachte mir das Badmintonspielen bei. Da er aber aus genau der entgegengesetzter Richtung meines Wohnorts kam, einem Ort namens Erpel, traf ich mich maximal alle sechs Wochen mit ihm. Doch auch er konnte nicht verhindern, dass es immer schlimmer wurde. Ich war mittlerweile in der sechsten Klasse angekommen.

      In meinen ersten Sommerferien in dieser Schule erfuhr ich, dass ein weiterer Junge aus meinem Dorf dieselbe Schule besuchen sollte. Ein Hoffnungsschimmer, aber es gab für mich zwei Probleme damit: Der andere ging nicht in dieselbe Stufe und hatte auch nicht wirklich dieselben Interessen wie ich, sodass ich nicht wirklich was mit ihm zu schaffen hatte.

      Dadurch, dass ich immer öfter blaumachte, konnte ich aber wenigstens weiter Fußball spielen, denn Konsequenzen hatte es nicht. Das war für mich die Welt, in der noch alles in Ordnung war, und in der ich mich wohl und geborgen fühlte.

      Aber dann gab es etwas, was ich auf dieser Schule doch irgendwie cool fand: Meine Klassenlehrerin war nebenberuflich Musikerin. Da ich mich mit ihr irgendwie gut verstand, überredete sie mich dazu, in ihre Musik-AG einzutreten. So sang ich dann in einem Chor. Da sie wohl einige Engagements hatte, kam es dazu, dass wir einmal in einer Altersresidenz in Bad Honnef auftraten. Dennoch ging mir nichts über meinen Fußball.

      Zu Hause wurde ich währenddessen immer aggressiver, um meinen Willen durchzusetzen. Ich kam fast immer damit durch und konnte zu Hause bleiben. Konsequenzen wie Hausarrest oder vergleichbare Dinge gab es so gut wie nie. Durch meinen Erfolg versuchte ich das dann zunehmend auch bei meinen Lehrern – mit den entsprechenden Folgen.

      Das Heimweh hätte ich zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich unter keinen Umständen zugegeben, denn es passte nicht in meine heile Fußballwelt, wo Coolness über alles ging. Mittlerweile war dies aber nicht mehr das einzige Problem, das ich entwickelte: Meine Eltern wurden wegen meines Verhaltens immer häufiger zum Direktor gebeten, was schließlich auch zu einem sogenannten Tadel führte. Da klinkte sich mein Vater zum ersten Mal richtig in die schulischen Belange ein, doch hätte es nichts gebracht, meinem Vater den wahren Grund für mein Verhalten anzuvertrauen. Vielleicht war ich ein guter Schauspieler, denn bei keinem ließ ich mein Heimweh wie Heimweh aussehen und auch er verstand es nicht. Ich gab immer wieder andere Gründe für mein Verhalten an. Schließlich sollte ich von der Schule geworfen werden. Da mein Vater allerdings sehr diplomatisch war, wobei ich nicht weiß, ob auch Geld geflossen ist oder er sonstigen Einfluss geltend machte, handelte er mit dem Schuldirektor einen Deal aus.

      Für mich war es allerdings kein guter Deal, da er es nicht besser, sondern noch viel schlechter machte. Vater schickte mich ein zweites Mal in eine Kur nach Bad Wörishofen, für ganze sechs Wochen. Ich war natürlich nicht damit einverstanden und versuchte, wie gewohnt, aggressiv meinen Willen durchzusetzen. Da ich aber sonst der Schule verwiesen worden wäre, behielten meine Eltern diesmal die Oberhand und zogen diese Sache konsequent durch. Meine Eltern setzten mich bei den dortigen Nonnen ab und fuhren wieder nach Hause. Ja, Nonnen, weil es sich um eine Art Kloster handelte.

      Während der fünfstündigen Autofahrt dorthin hatte ich aber bereits Pläne geschmiedet und es dauerte nur eine Nacht, sie in die Tat umzusetzen. Da ich ja das zweite Mal dort war, kannte ich die Umgebung schon. Ich hatte trotz meiner jungen Jahre genug Geld, dank der vielen Reisen mit meinen Eltern auch genügend Ahnung und organisierte mir kurzerhand ein Nahverkehrsticket nach München. Wenn man so will, war dies meine erste eigenständige Reise. Und ich war stolz auf mich, denn ich hatte alle ausgetrickst.

      Auf der knapp anderthalbstündigen Fahrt nach München bekam ich dann aber doch erste Gewissensbisse und auch etwas Angst, aber eher Angst vor der Reaktion meiner Eltern als davor, dass mir etwas passieren könnte.

      In München angekommen stellte ich dann aber fest, dass mein Plan Fehler hatte – mein Budget reichte nicht aus, um die Reise nach Hause fortzusetzen, da ich von München aus ein Fernverkehrsticket gebraucht hätte. Aus Angst vor meinen Eltern wollte ich natürlich nicht zu Hause anrufen. Also kam ich auf die Idee, meinen Hausarzt anzurufen, dessen Nummer ich dabei hatte, weil er die Kur verschrieben hatte. Es gab damals noch keine Handys, dafür aber Telefonzellen.

      Ich kann nicht mehr sagen, wie das damalige Gespräch mit dem Arzt verlief, jedoch fand er eine Lösung, um mir bei meiner Weiterfahrt behilflich zu sein. Vermutlich erschien es ihm als die beste Methode, mich nach Hause zu holen.

      Ich machte mir also von meinem verbliebenen Geld einen schönen Tag in München, aß Weißwürste mit süßem Senf, besuchte die Ebener Straße, in der mein Lieblingsverein FC Bayern München beheimatet war, und schaute mir das Olympiastadion an.

      In den ersten Abendstunden setzte ich mich dann in den Zug Richtung Bonn. Seltsamerweise bekam ich nun immer mehr Angst, nach Hause zu kommen oder auch nur auszusteigen. Dennoch tat ich es, aber lief dann so schnell es ging vom Bonner Hauptbahnhof weg, um meinen Eltern aus dem Weg zu gehen, die zweifelsohne dort auf mich warteten.

      Nun hatte ich Panik. Um erst einmal die Lage zu checken, rief ich zu Hause an. Da mich meine Mutter tatsächlich am Bahnhof in Empfang nehmen wollte, ging mein Vater ans Telefon. Normalerweise war es eher er, der lautstark oder cholerisch wurde, doch zu meiner Überraschung blieb er ruhig und beruhigte auf diese Art sogar mich. Er überzeugte mich davon, nach Hause zu kommen. Dennoch war ich unsicher und schlich erst mal um unser Haus rum, um weiter die Lage zu checken. Da meine Mutter ja mit dem Auto schneller war als ich mit dem Bus, war sie natürlich schon vor mir zu Hause. Sie hatte wohl vom Bahnhof aus angerufen, als ich nicht da war.

      Da ich den Eindruck hatte, dass die beiden ruhig waren, wagte ich es endlich, an der Tür zu klingeln. Meine Mutter öffnete und bekam einen Heulkrampf. Anders als erwartet, beruhigte mein Vater eher meine Mutter als mich. Er war wie gesagt bei so etwas eher cholerisch, aber diesmal sagte er mir, dass es das Wichtigste sei, das ich wieder zu Hause war. Vielleicht war dies das erste Mal, dass er sah, das ich unter Heimweh litt. Statt mich auszuschimpfen, trank er entspannt sein Bier und sagte in ruhigem Ton zu mir, dass er noch keinen Zwölfjährigen erlebt habe, der imstande war, so eine eigenständige Reise auf die Reihe zu bekommen. Die Art, wie er es sagte, habe ich kurioserweise bis heute nicht vergessen. Wahrscheinlich, weil ich das erste Mal spürte, das er mich vielleicht verstanden haben könnte.

      Inwieweit


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