Achterbahn des Daseins. Julian Mores
Da mir Bier bitter war, landete ich bei einer Bier-Cola-Mischung, aber schnell wechselten wir zu Schnaps, sodass sich im Laufe der Zeit der Promillegehalt deutlich erhöhte. So kam ich auch zu meinen ersten Spitznamen: Meine Lauffreunde nannten mich gerne Kipptest oder auch Promille, weil ich ziemlich kräftig zulangte, wenn es Alkohol gab. Ich hatte also ein weiteres neues Hobby: Saufen.
Es verging dann einige Zeit, bis es darum ging, was ich beruflich machen würde. Im Prinzip war mein Weg geebnet: Ich sollte Beamter werden, wie mein Vater. Ich bewarb mich also bei der Stadt Köln und wurde zu einem kurzen Vorstellungsgespräch eingeladen. Ich sollte im gärtnerischen Bereich einsteigen, dort hatte ich im Laufe der Zeit ein Schulpraktikum absolviert. Ein Arbeitskollege meines Vaters führte dieses Gespräch. Eigentlich ziemlich schnell wurde ich daraufhin zu einem Eignungstest beim alten Rathaus der Stadt Köln eingeladen. Meiner Erinnerung nach waren es 150 Bewerber, von denen 25 zu einem finalen Vorstellungsgespräch eingeladen werden sollten. Ein zweites Vorstellungsgespräch brauchte ich allerdings nicht, denn mein Vater brachte mir den Vertrag direkt mit nach Hause. Das Einzige, was ich noch tun musste war, den Realschulabschluss zu Ende bringen.
Da ich ja zweimal dieselbe Stufe in einem Schuljahr besuchte, war ich nun in der zehnten Klasse und alt genug, um den Führerschein zu erwerben, den ich natürlich spendiert bekam. Alles lief bestens. Nach einem Mal Durchfallen in der Theorie schaffte ich den Lappen in kürzester Zeit. Beim Fußball lief ebenfalls alles bestens. Zum Führerschein bekam ich mit 18 Jahren dann ein Budget von 10.000 DM für ein Auto und mein beruflicher Weg war ja eigentlich auch schon geebnet. – Eigentlich.
Da ich einfach nur glücklich und natürlich auch stolz auf die jüngsten Erfolge war, bekam ich die zunehmenden Probleme meiner Eltern nicht so richtig mit. Während ich den Führerschein machte, fuhr meine Mutter wieder in eine Kur. Da sie so etwas ja mittlerweile öfters tat und ich mit dem Fußball, der Schule, den Hausarbeiten und dem Führerschein beschäftigt war, besuchte ich sie diesmal nicht. Ich wollte mir von ihr einfach nicht mehr anhören, dass sie sehr früh sterben werde, was sie mir und meiner Schwester gerne zu verstehen gab, damit wir ihr Leid angemessen würdigten.
Meine Schwester und mein Vater besuchten sie ebenfalls nur einmal. Bei diesem Besuch kam es laut meinem Vater wohl wieder mal zu einem Streit, unter anderem deswegen, weil ich meine Mutter nicht besucht hatte. Als mein Vater sie nach der Kur abholen wollte, war sie bereits weg. Vater sagte uns Kindern, dass meine Mutter alleine mit dem Zug nach Hause gefahren sei.
Nichts ahnend warteten wir auf sie. Die Zeit verging, aber sie kam nicht. Wir fingen an, uns Sorgen zu machen. Gegen 23 Uhr rief mein Vater bei der Polizei an und machte eine Vermisstenanzeige.
Grundsätzlich riet die Polizei erst einmal zum weiteren Abwarten, da meine Mutter jedoch an epileptischen Anfällen litt, wurde die Sache dann aber doch ernst genommen. Drei Tage später wurde meine Mutter ausfindig gemacht: Sie war schlichtweg abgehauen und bei Freunden untergetaucht.
Meine Schwester und ich wussten nicht, was los war, und waren verängstigt. Später war Mutters Version die, dass sie es sehr wohl meinem Vater gesagt habe. Alles in allem schlussfolgerte ich aber, dass sie nicht zu Hause angerufen hatte und sich selbst wichtiger war, als uns die Sorge um sie zu ersparen.
Nun ja, jetzt waren wir zumindest beruhigt, dass nichts passiert war, jedoch bekam ich nun Angst, dass sich meine Eltern scheiden lassen würden. Diese Aktion schlug Wellen. Meine noch lebende Großmutter väterlicherseits, die sich ja sowieso schon im Altersheim herumplagte, verkraftete dies gar nicht und auch für meine Großeltern mütterlicherseits war diese Aktion ein Schock. Für mich allerdings der größte, weil ich ja sehr tief in unserem Haus verwurzelt war. Nun war auf einmal alles in der Schwebe.
Aber es sollte noch schlimmer kommen.
Als ich eines schönen Novembertages zur Schule ging, hatte ich eine Vertretungsstunde, da einer meiner Lehrer krank war. Diese Vertretungsstunde war bei einer Lehrerin, mit der ich nicht zurechtkam. Ich war gerade in einer sensiblen Phase und sehr anfällig für negative Äußerungen, wie sie diese Frau über meine Eltern machte. Ich rastete nicht aus, aber ich verlangte eine Entschuldigung – bekam sie jedoch nicht. Gereizt wie ich war, wollte ich mich zusammenreißen, aber hätte Amok laufen können vor Wut. Ich erinnere mich nicht mehr an das, was diese Frau sagte, aber es führte zumindest dazu, dass ich weiter energisch darauf pochte, dass sie sich entschuldigen sollte. Ich würde sogar auf die Pause verzichten, wenn es sein musste. Auch als alle anderen Mitschüler schon längst auf dem Pausenhof waren, blieb ich stur vor Ort. Diese Frau schickte mich weg und drohte mir mit einem Klassenbucheintrag. So wartete ich vor dem Lehrerzimmer auf sie. Als sie dann auftauchte, forderte ich sie mit sturem Nachdruck nochmals auf, sich zu entschuldigen. Nicht nur, dass sie es nicht tat, sie legte auch noch nach und versuchte, mich zu ignorieren, was mich noch wütender machte. Sie wollte sich ins Lehrerzimmer verdrücken, also steckte ich schnell meinen Fuß in die Tür und drückte sie wieder auf, blöderweise so, dass sie stolperte und umknickte. Zwar wusste ich in dem Moment, dass es natürlich mein Fehler gewesen sein könnte, aber zum einen wollte ich nur mein Zuhause schützen, das ja in den Seilen hing, zum anderen war für mich diese Frau auch nicht das, was ich damals pädagogisch wertvoll genannt hätte.
Diese Lehrerin hatte ein bekanntes Verhältnis mit dem Schuldirektor. Zunächst wurde ich nach Hause geschickt, doch dann kam es zum Schlimmsten: Sie warfen mich von der Schule, und das kurz vorm Ziel. Aufgrund des persönlichen Verhältnisses zwischen dieser Frau und dem Schuldirektor konnten mich selbst meine Klassenlehrerin und der Vertrauenslehrer nicht mehr retten. Vor allem dem Vertrauenslehrer tat diese Situation unheimlich leid und so besuchte er mich sogar zu Hause und sagte mir, wenn er dabei gewesen wäre, wäre das nicht passiert. Immerhin etwas.
Ich hatte also meine Schulpflicht erfüllt, aber der berufliche Plan, Beamter zu werden, war in sehr weite Ferne gerückt, denn statt Realschulabschluss Klasse zehn, war es nun nur Hauptschulabschluss Klasse neun. Ich weiß nicht, ob diese Situation meine Eltern wieder zusammenbrachte, aber irgendwie kamen sie sich näher. Mein Vater schlug mir nun die Lösung Abendschule vor. Meine Mutter könne mich, solange ich den Führerschein noch nicht ausgehändigt bekommen hatte, hinbringen und abholen.
Sylvester dieses Jahres gab es dann eine von Fußballkollegen veranstaltete Party. Als mich mein Vater dorthin fuhr, fragte er mich, ob ich bei Freunden übernachten könne, denn er hatte meine Mutter zu einem Neujahrskonzert in der Kölner Philharmonie eingeladen und wollte eine Nacht allein mit ihr in unserem Haus verbringen.
Total glücklich freute ich mich darüber und übernachtete bei Freunden. Das war wahrscheinlich auch für mich besser, weil ich an diesem Abend so richtig besoffen war. Als ich dann wieder nach Hause kam, erzählte mir mein Vater, dass alles sehr gut gelaufen sei, aber meine Mutter noch etwas Zeit brauchen würde. Diese Freude hielt genau zwei Tage.
Mein Vater öffnete einen Brief. Ich konnte ihm schon im Gesicht ansehen, wie sehr ihn das traf: Er war vom Anwalt meiner Mutter, die die Scheidung einreichte. Das war der Tag, an dem mein Vater meine Mutter aufgab.
Aufgrund des vergangenen Jahres hatte dies nicht mehr die Tragweite, die man nun eventuell annehmen könnte. Für mich war mittlerweile am wichtigsten, dort wohnen zu bleiben, und das war durch meinen Vater möglich. Zu ihm entwickelte ich zu dieser Zeit ein überraschend gutes Verhältnis.
Was die Schule anging, so fiel mir die Abendschule doch erheblich schwer. Die Gesellschaft einiger Mitschüler, die gar keinen Bock hatten zu lernen und lieber über Aktivitäten im Knast plauderten, den sie wegen Rowdytums und ähnlichem Mist schon besucht hatten, passte überhaupt nicht zu meinen Zielen. Ich hoffte, mit dem Führerschein würde ich es einfacher haben.
Den Führerschein erhielt ich schließlich, die Schule klappte allerdings nicht, gar nicht, sodass ich einmal mehr abbrach. Zu heftig war der Unterschied zwischen dem Leben, das ich kannte, und dem meiner Mitschüler.
Nun war sie vorbei, die Schulzeit, und damit mein Lotterleben, aber wenigstens hatte ich noch ein Zuhause. Doch wie sollte es weitergehen? Ich war mittlerweile 18 Jahre alt – volljährig!
Da mein Vater nicht gerne sah, dass ich mit seinem noch relativ neuen Audi A6 herumfuhr, waren wir beide uns einig, dass ich ein eigenes Auto bekam. Ich