Achterbahn des Daseins. Julian Mores
mein erster Kontakt zu behinderten Menschen.
Dass ich recht passabel Fußball spielte, fiel auch dem dortigen Sportlehrer auf. Dieser war für mich deswegen sehr interessant, weil er eine Fußballbundesligamannschaft trainierte, zwar nur die der Damen, aber immerhin. Er brachte mich dann dazu, meinen Mitschülern etwas beizubringen.
Unterm Strich fühlte ich mich so mit den teilweise behinderten Kindern wohler als auf der vorherigen Schule. Es war eine Erfahrung, zum ersten Mal ehrliche Anerkennung zu erhalten.
Es wurde trotz der weiten Entfernung zwar dadurch geringfügig besser, aber sogar dort gab es weiter die bekannten Probleme. Immer wieder stand ich aufgrund dessen kurz davor, stationär gegen schwere Erziehbarkeit behandelt zu werden. Die Blaumacherei war nun mal noch gegeben, weil ich nicht da war, wo ich sein wollte, was scheinbar selbst die Pädagogen nicht erkennen konnten.
Durch die Besuche bei meinem Vater im Büro bekam ich zu ihm ein besseres Verhältnis und so schickte er mich dann dorthin, wo ich hinwollte: in die Nähe unseres Hauses, zu meinen Freunden, wo ich mich wohlfühlte. – Na ja, zumindest fast. Es handelte sich zunächst um eine Hauptschule, bei der man auch den Realschulabschluss machen konnte. Für mich war das erst mal die beste Lösung, denn diese Schule lag direkt neben der Realschule, in der das Drama seinen Lauf genommen hatte.
So war ich in dieser Zeit der glücklichste Mensch der Welt und die Achterbahn fuhr steil bergauf, denn die Form des Schulabschlusses interessierte mich ja einen Dreck.
Wahrscheinlich aufgrund der Dankbarkeit, wieder richtig zu Hause zu sein, steckte ich mir das erste Mal selbst ein schulisches Ziel: den Realschulabschluss zu machen. Von da an ging es auch schulisch steil bergauf.
Zwar war es für mich etwas sehr Neues, mich mit den Gegebenheiten einer Hauptschule auseinanderzusetzen, aber dies sollten nur anfänglich Probleme bereiten. Abhauen war fortan jedenfalls in keiner Weise mehr ein Thema, vielmehr wurde ich ein bisschen zum Streber.
Nach anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten lernte ich, mit meiner strengen Klassenlehrerin gut umzugehen, vermutlich wurde ich mit der Zeit sogar zu einem ihrer Lieblingsschüler. Ich wollte einfach nicht riskieren, wieder die Schule zu wechseln, denn ich war ja nun glücklich.
Auf einer Hauptschule führten solche Geschichten zwar grundsätzlich zu Problemen, aber ich hatte ja ein As im Ärmel: den Fußball.
So kaschierte ich meine Strebsamkeit im Umgang mit Mitschülern. Da der Vertrauenslehrer eine Fußball-AG leitete und ich dieser angehörte, hatte ich auch zu ihm ein gutes Verhältnis. Das sollte sich fürs mich noch auszahlen.
In meinem zweiten Jahr auf der Hauptschule wurde abgestimmt, wo unsere Klassenfahrt hingehen sollte. Zu Auswahl standen unter anderem europäische Großstädte wie London, Paris oder Barcelona, aber letztlich wurde es dann Würzburg. Das passte mir als schon immer verwöhntem Bengel natürlich gar nicht in den Kram, aber damals machte ich mir natürlich keine Gedanken darüber, dass sich einige meiner Mitschüler vielleicht einfach nicht mehr leisten konnten. Ich wollte jedenfalls nicht mit nach Würzburg und lieber weiter zur Schule gehen. Grundsätzlich war das auch möglich, doch aus irgendeinem Grund zwangen mich meine Eltern zu dieser Fahrt.
Ich hatte meine schlechten Angewohnheiten nicht komplett abgelegt und kündigte meiner Klassenlehrerin an, dass ich direkt wieder zurückfahren und in die Schule gehen würde, wenn ich mit nach Würzburg musste. Ich bin mir nicht sicher, ob sie von meinen Eltern gebrieft wurde, aber scheinbar wusste sie schon sehr genau, dass ich meine Ankündigungen schnell in die Tat umsetzen würde. Aber immerhin wurde jetzt offen damit umgegangen und darüber gesprochen.
Also ging es erst mal nach Würzburg. Meine Klassenlehrerin schaffte es, mich durch unser gutes Verhältnis davon zu überzeugen, wenigstens eine Nacht zu bleiben. Das tat ich. Es war ein Tag voller Langeweile, ohne Fußball und mit Mitschülern, mit denen ich nichts anfangen konnte. Am zweiten Tag setzte ich mein Vorhaben dann um und fuhr mit dem Zug nach Hause, allerdings diesmal nicht aus Heimweh, sondern um wie üblich meinen Willen durchzusetzen, weil ich ein verwöhnter Bengel war. Mir wurde allerdings klar gesagt, dass ich mich sofort in der Schule melden musste.
Das tat ich und mein Verhalten hatte keinerlei Konsequenzen, denn ich hatte den Joker Fußball. Der Vertrauenslehrer half mir in dieser Situation, indem er mich sämtliche Trainingspläne für seine Fußball-AG entwickeln ließ. Das machte mir nicht nur Spaß, sondern führte auch zu so viel Vertrauen, das ich wirklich gern zu Schule ging.
Nun wurde es also erst einmal ruhig in der Schule. Aber so ruhig, wie es nun in der Schule zuging, so unruhig wurde es zunehmend zu Hause. Meine Mutter wurde immer kränker. Immer öfter besuchte sie Kuren, immer öfter kam lautstarker Streit auf. Das führte dazu, dass sich auch immer mehr meine Oma bei uns blicken ließ. Dies war natürlich in keiner Weise förderlich, denn sie bestach meine Schwester und mich immer öfters mit noch mehr Geld, sonntags die Kirche zu besuchen. Meinem Vater, der zu diesem Zeitpunkt ja bereits aus der Kirche ausgetreten war, missfiel das so sehr, dass dies zu weiterem Streit führte.
Meiner anderen Großmutter ging es derweil ebenfalls immer schlechter. Weil meine Mutter nicht mehr in der Lage war, sich um sie zu kümmern, entschlossen sich meine Eltern und mein Onkel väterlicherseits, den bereits fertigen Bauplan ad acta zu legen. Diese Oma wurde ein oder zwei Jahre später in ein Altersheim transferiert. Für sie war das natürlich ein inakzeptabler Zustand, für mich aber auch nicht optimal, weil so meine später geplante Wohnung hinfällig wurde. Durch ihr hohes Alter aber wahrscheinlich auch Unglückseligkeit verstarb meine Oma nach etwas mehr als einem Jahr in diesem Altersheim. Sie wurde 88 Jahre alt.
Die Halbtagsschule hatte zur Folge, dass ich sehr viel Zeit hatte, die ich damit verbrachte, Fußball zu spielen, mich um den Haushalt zu kümmern oder all den Hobbys nachzugehen, die ich so hatte. In dieser Zeit, als sich andere Jungs für Mädchen interessierten, war mein Augenmerk doch tatsächlich eher auf Fußball gerichtet – vielleicht auch aufgrund des peinlichen Erlebnisses während der Bustour. Dennoch ergaben sich erste sexuelle Handlungen, allerdings nicht mit einem Mädchen, sondern mit einem Jungen. Es war damals wohl eher ein Ausprobieren, aber da es mehrmals vorkam, war es womöglich ein Vorläufer meines weiteren sexuellen Lebens. Ich dachte damals eher ein bisschen bi schadet nie. Wir hatten teilweise ungeschützten Sex, weil wir uns in dem Alter überhaupt keine Gedanken darüber machten beziehungsweise glaubten, dass uns dadurch, dass wir ja aus dem Dorf kamen, so etwas wie Geschlechtskrankheiten nicht passieren würde. Für mich war es eher Spielerei und hatte nichts mit schwul zu tun. Natürlich geschah dies in aller Heimlichkeit, wir lebten ja in einem Dorf. Interessanterweise war dieser Dorfkumpane ein paar Jahre später mit einer Frau verheiratet und hat meines Wissens sogar mehrere Kinder. Doch ich war Fußballer und so schlief dieses erste Ausprobieren zunächst einmal ein.
Fernab dieser sexuellen Phase verbrachte ich zudem mit einem anderen Freund mittlerweile immer mehr Zeit. Er spielte ebenfalls Fußball, aber erfreute sich nicht so wie ich großer Beliebtheit. Er kam auch bei Weitem nicht an mein fußballerisches Level heran. Dennoch hatte er für mich einen riesigen Vorteil: Seine Eltern hatten im Keller ein Schwimmbad, wo wir sehr oft schwammen und Wasserball spielten. Da er in der Nachbarschaft wohnte, übernachtete ich das eine oder andere Mal bei ihm. Er hatte im Gegensatz zu mir zwei Zimmer zur Verfügung. Das Zimmer auf dem Dachboden wurde zu einer Zocker-Arena umfunktioniert. Bis tief in den Morgen spielten wir an den Wochenenden mit der Konsole Supernintendo oder schauten einfach amerikanischen Basketball, denn in dieser Zeit war der Hype um Leute wie Michael Jordan oder Dennis Rodman einfach riesig und cool.
Nichtsdestotrotz wurde ich mit meiner Fußballmannschaft immer erfolgreicher. So erfolgreich, dass wir später auf einem Level mit Fußballern, die es später bis in die Bundesliga schafften, spielten.
So erfolgreich ich im Fußball auch war, desto mehr Ungemach braute sich zu Hause zusammen. Ungewollt hatte ich ein neues Hobby: Streit schlichten. Immer häufiger stritten sich meine Eltern, sodass ich mich veranlasst fühlte, Frieden zwischen ihnen zu stiften. Durch die häufigen Streitereien meiner Eltern sowie die eingekehrte Ruhe in schulischen Belangen bekam ich noch mehr Freiheiten, als ich sowieso schon hatte. So hatte ich beispielsweise keine Sperrstunde bei den ersten Partys, die ich besuchte. Einige meiner Freunde hatten Partykeller