Alter Mann im Bus. Bernhard Weiland

Alter Mann im Bus - Bernhard Weiland


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und stellt ihr Handy ab. Fremde Orte, fremde Sitten.

      Ab durch die Mitte

      Kurze Zeit später verlasse ich in brütender Mittagshitze in Niederdorla den Bus.

      Wer kennt schon Niederdorla! Wer war schon in Niederdorla? Warum auch? Weil hier nach der Wiedervereinigung der geografische Mittelpunkt Deutschlands verortet wird. Sagt man. Die Familie der geografischen Mittelpunkte Deutschlands umfaßt allerdings noch andere, weit auseinander liegenden Orte: Krebeck, Flinsberg, Silberhausen und Landstreit. Das haben verschiedene schlaue Köpfe auf verschiedene schlaue Weisen errechnet. Und jeder will Recht haben. Sagt man. Mir doch egal. Sollen sie das unter sich ausmachen. Ich will hierhin, zum Mittelpunkt in Niederdorla. Der harte Hund am Steuer des Busses weist mir überraschend hilfreich und freundlich sehr genau den Weg. An der gestalteten Anlage der ‚Deutschen Mitte‘ mit Informationstafel, Gedenkstein und Kaiserlinde im Zentrum angekommen, lege ich eine Pause ein. Es ist ein heißer Tag. Jetzt etwas zu trinken wäre nicht schlecht. Ich nehme mir die Zeit. Über dem gegenüberliegenden sogenannten Opfermoor, einer alten germanischen Ritualstätte, kreisen Raubvögel. Beim Mittelpunkt Deutschlands.

      Ich stelle mir vor, wie es wohl wäre, sich in den Mittelpunkt hinein zu versetzen. Selbst zum Mittelpunkt zu werden. Spannende Idee. Ich lasse mich also auf dem kühlen Gedenkstein nieder. Dem Mittelpunkt. Versuche, ihn zu erspüren. Als Mittelpunkt zu fühlen. Dieser Mittelpunkt zu sein. In ruhiger Konzentration scheint es mir zu gelingen. Das Ergebnis ist überraschend und überwältigt mich fast. Es kommt emotional sehr bedrückend daher. Eine tiefe Traurigkeit beginnt, heftig in mir aufzusteigen. Bevor sie mir Tränen in die Augen treiben kann, stehe ich auf, schüttele mich und bewege mich schrittweise um die Mitte herum. Lockere mein Gemüt. Gleich geht es mir besser. Doch ich bin irritiert. Wie kann das sein, wo kam das her?

      Warten auf den Bus

      In der Mitte Deutschlands ist die heutige Reise noch nicht zu Ende. Ich will weiter, zum Hainich, dem großen weltkulturerbegeschützen Nationalpark. Also warte ich auf den nächsten Bus. In Niederdorla, am Mühltor. So heißt die Straße. So heißt die Haltestelle. Warum eigentlich Haltestelle und nicht Wartestelle?

      Ich warte doch an dieser Stelle.

      Die Sonne brennt mir durch das gläserne Wartehäuschen von hinten auf den Pelz.

      Ich döse. Mir ist heiß. Nichts passiert.

      Ein Auto fährt dröhnend über das Kopfsteinpflaster vorbei.

      Danach wieder Stille.

      Einige Zeit später öffnet sich in einem der gegenüberliegenden Einfamilienhäuser eine Tür. Ein Mann tritt heraus. Er trägt einen Topf mit bunten Blumen in der Hand. Ich sehe ihm zu, wie er seinen Vorgarten verläßt und das Tor hinter sich schließt. Gemessenen Schrittes geht er nach rechts zum Nachbarhaus. Öffnet das dortige Tor, durchschreitet den Vorgarten und verschwindet mit dem Blumentopf im Inneren.

      Ich sitze. Schaue. Nichts passiert. Stille ringsumher.

      Ich sitze und sitze.

      Und warte und warte.

      Eine wohlige Wärme fängt an, in mir aufzusteigen. Langsam und gemächlich döse ich ein.

      Hupps, was ist das? Ein Wind kommt auf, bläst trockenes Buschwerk vorbei, zusammengerollt wie zu einem luftigen Ball. Wo kommt das Ding her? Es taumelt und torkelt, stutzt kurz und stolpert doch weiter. Nichts steht dem Ding im Wege. Nichts hält es auf.

      Es rollt vorbei an einer Zeit, die stillzustehen scheint.

      Ich warte.

      Ich sitze auf den Stufen eines einsam in der Wüste stehenden Holzhauses. Die Postkutsche hat keinen Fahrplan. Sie kommt, wenn sie kommt.

      Heute, morgen, übermorgen. Irgendwann.

      Also warte ich weiter.

      Eine Holztür schlägt, in den Angeln quietschend, hin und her. Sonst passiert nichts. Schweißperlen rinnen mein Gesicht herab. Der einzige Bewohner dieser Poststation sitzt mit einer Flinte auf dem Schoß hinter mir in seinem Schaukelstuhl.

      Er döst.

      Er schaukelt.

      Vor zurück, vor zurück, vor zurück.

      Der Sand knirscht dazu unter ihm rhythmisch auf den Holzbohlen.

      Ich sitze und sitze.

      Und warte und warte.

      Die Sonne hat jetzt ihren höchsten Stand erreicht. Meine Kehle ist trocken. Ich nehme einen kleinen Schluck aus meiner Wasserflasche.

      Ich warte und nichts passiert.

      Ein magerer Hund streicht in geringer Entfernung wie in Zeitlupe an mir vorbei. Lautlos. Er würdigt mich keines Blickes. Ich ziehe meinen Hut tiefer ins Gesicht. Zum Warten verdammt. Die bunte Flagge über der Veranda der einsamen Poststation regt sich ein wenig, kaum hörbar.

      Ich sitze und sitze.

      Und warte und warte.

      Nichts passiert.

      Ich suche mit müdem Blick den Horizont ab. Keine Kutsche in Sicht. Über dem Vorgebirge kreisen Geier.

      Auch sie warten und warten und nichts passiert.

      In der weiten Ebene wandern kleine Windhosen aus Staub durch die Einöde. Fallen in sich zusammen. Erheben sich wieder. Ziehen weiter. Am Himmel zeigt sich keine Wolke.

      Ich sitze und sitze.

      Und warte und warte.

      "Stopp, stopp, Szene beendet. Kamera aus." ruft der Regisseur. Die Kameramänner vor, hinter und neben mir regen sich und lösen sich gleichzeitig in Luft auf.

      Ich erwache. Aus meinem Tagtraum. Hier an der Wartestelle. Mühltor, Niederdorla. Da tut sich was. Allen Tagträumen, dunklen Vorahnungen und geschriebenen Fahrplänen zum Trotz biegt ein Bus in die Straße ein. Die Linie stimmt, der Zeitpunkt erscheint willkürlich. Mir doch egal. Ich werde eingelassen. Im Inneren herrscht eine ungewöhnliche Fülle. Schulkinder, alte Menschen, alle durcheinander gewürfelt. Viele kennen sich und tragen mit ihrer Kommunikation zu einer ausnehmend lebendigen Stimmung im Bus bei.

      Und ich sitze und sitze und fahre und fahre. Das Dösen hat endlich ein Ende. Mitten in Deutschland. In Niederdorla.

      Zu Fuß in den Wald

      Niederdorla liegt strategisch günstig auf meinem Weg zum Hainich. Da allerdings mein Tagesziel dort, das Forsthaus Thiemsburg, heute nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist, fahre ich weiter bis nach Weberstedt. Vorher muss ich am Wendepunkt Flarchheim, der Endhaltestelle dieses Busses, noch einmal umsteigen. Der Fahrer bestätigt mir, dass ich von hier aus weiterkomme. "Warten sie am besten da vorne, wo die Ausländerin sitzt. Die will wohl auch weiter." So haben wir ein Thema. Er hat Probleme mit den Ausländern, weil er sie nicht versteht. Er habe da zwei russische Kollegen, die bräuchte man erst gar nicht zu fragen, die könnten einem eh nicht antworten. Ja, bestätige ich ihm, ich bin auch schon häufig Ausländer gewesen, in europäischen und afrikanischen Ländern. Da wäre es den Menschen mit mir auch so gegangen. Aber mit Händen und Füßen hätten wir uns immer irgendwie miteinander verständigen können. Geht alles. Er fährt weiter und ich frage die kopftuchtragende Ausländerin warmbrauner Hautfarbe, ob ich hier richtig sei für den Bus nach Weberstedt. Wann der Bus denn wohl käme. Sie schaut von ihrem Handy auf, überlegt, schaut wieder auf ihr Handy. Dann antwortet sie und ich verstehe so etwas wie "Bus ja" und nach längerem Nachdenken und einigen Blicken auf ihr Handy "törti minits" oder so. Das übersetze ich für mich mit "Kommt bald" und bedanke mich für die Auskunft. Nach gut zehn Minuten wechselt sie die Straßenseite. Ich schaue ihr nach, sie winkt mich rüber "Hello. Bus.". Der Bus kommt. Er transportiert Eingeborene und Ausländerinnen. So, wie das hier und anderswo eben üblich ist.

      Von Weberstedt will ich die letzten Kilometer zu Fuß gehen. Schon ein wenig Hainich-Waldluft schnuppern. Der Busfahrer läßt mich unbürokratisch zwischen zwei Haltestellen aussteigen und weist mir die Richtung. Trotz vieler Wegweisungsschilder oder vielleicht wegen der vielen Wegweisungsschilder


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