Marseille.73. Dominique Manotti

Marseille.73 - Dominique  Manotti


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Kollegen waren offensichtlich schon hier.«

      »Sofort nach den Schüssen habe ich die Rettung und das Kommissariat angerufen.« Er unterbricht sich, wendet sich an die Jugendlichen. »Macht uns einen Tee, für alle, wir kommen dann zu euch.« Als sie weg sind, fährt er fort: »Wenn es bisher nachts Probleme wegen Schlägereien gab, war unser Kommissariat geschlossen, und wir haben den Évêché angerufen. Seit vierzehn Tagen ist das Kommissariat nachts geöffnet, und die Polizisten, die oft in die Bar kommen, um sich ein Gläschen ausgeben zu lassen, wiederholen jedes Mal: ›Wenn es jetzt nachts Probleme gibt, rufst du uns an.‹ Ich habe also dort angerufen. Aber als ich sie sagen hörte: ›Niemand hat etwas gesehen, noch ein Fall, der schnell bei den Akten landet‹, da habe ich beschlossen, die Bereitschaft im Évêché anzurufen.«

      Mohamed ergänzt: »Sie liefen auf dem Gehweg herum, da, wo mein Bruder hingestürzt ist. Sie haben zwei Kugeln gefunden, die haben sie mit bloßer Hand aufgehoben, sie haben sie den anderen Polizisten gezeigt, die sie ebenfalls angefasst haben. Sie hatten keine Handschuhe. Im Film machen Polizisten so was nicht.«

      Daquin lächelt ihm zu. »Im echten Leben eigentlich auch nicht.«

      Der Wirt nimmt den Faden wieder auf. »In der Bar wird derzeit viel diskutiert. Fast jeden Tag sterben Algerier, die Polizisten suchen nicht groß. Meine Gäste sagen: ›Die Nummer der Bereitschaft hat besser funktioniert als das Kommissariat.‹ Deshalb habe ich, als ich sah, wie sie vorgingen, die Bereitschaft angerufen.«

      Daquin und Delmas sprechen sich kurz ab, dann Daquin: »Gehen wir nach drinnen und trinken den Tee. Sie erzählen uns alles, was passiert ist, von Anfang an. Wir schreiben einen Bericht, so vollständig wie möglich. Im Anschluss ist es ein Richter oder Staatsanwalt, der entscheidet, welches Polizeiteam mit dem Fall betraut wird. Ohne Garantie also. Einverstanden?«

      Sie setzen sich alle um zwei Tische, jeder schlürft sein Glas Tee, der Wirt schildert den Ablauf des Abends, von Anfang an. Dann bittet Daquin, die Tische und Stühle wieder wegzuräumen, um den Gastraum in den Zustand zum Tatzeitpunkt zurückzuversetzen. In der Mitte des großen leeren Saals ein Lichtfleck, umschlossen von Schatten.

      »Jeder geht an den Platz, wo er sich beim ersten Schuss aufhielt, und Sie werden die Szenen haargenau nachspielen, Episode für Episode, wie im Theater. Die Bewegungen sind sehr wichtig, führen Sie wieder die gleichen Bewegungen aus. Sobald Ihnen eine Erinnerung kommt, sagen Sie es, wir notieren, was immer es ist, zögern Sie nicht. Wenn wir eine Szene wiederholen müssen, tun wir es, das ist kein Problem, wir haben Zeit, hetzen Sie sich nicht. Sie, Mohamed, waren nicht dabei, setzen Sie sich an die Seite, rühren Sie sich nicht, sagen Sie nichts. Kann es losgehen?«

      Der Wirt, gebückt hinter der Bar, räumt Flaschen und Geschirr weg. Er erklärt: Wenn er sich aufrichtet, kann er Maleks Rücken erkennen, aber nicht den tiefer liegenden Boulevard. Slimane wischt den Boden in der Nähe der Straßenfront, eine Mauerecke verdeckt für ihn Malek und den Boulevard. Der zweite Jugendliche, Chafik, ganz hinten im sehr dunklen Teil des Saals, stapelt die Tische und Stühle aufeinander, um Platz zu schaffen und in diesem Teil des Raums den Boden zu wischen. Erster Schuss, »nicht sehr laut«, sagt der Alte, »wie in der Ferne« (Delmas notiert: mit aufgesetztem Lauf? Medizinischen Befund prüfen), Slimane und er schrecken hoch, rühren sich aber nicht vom Fleck. Chafik zögert, sagt dann: »Den habe ich nicht gehört.« Daquin gibt ein Zeichen: Wir machen weiter. Zweiter Schuss kurz nach dem ersten, »die Detonation ist lauter«, sagt der Wirt, Slimane und er lassen alles stehen und liegen und stürzen zur Terrasse.

      Chafik sagt: »In diesem Moment höre ich einen Schuss. Für mich ist es der erste, den davor, von dem die beiden sprechen, habe ich nicht gehört, vielleicht der Krach vom Tische­stapeln … Ich stand mit dem Rücken zur Straße, vielleicht habe ich ein Geräusch gehört und dachte nicht, dass es ein Schuss war …«

      »Wir haben verstanden. Machen Sie weiter.«

      Der Wirt und Slimane erreichen gleichzeitig die Tür, drängeln sich hindurch, und als sie auf der Terrasse sind, sehen sie als Erstes Maleks Körper, der unterhalb auf dem Gehweg liegt, blutüberströmt. Panik. Der Wirt hebt den Kopf und nimmt durch eine Art Nebel zwei Wagen wahr, die hintereinander den Boulevard entlangfahren und sich in Richtung Chemin de la Madrague-Ville entfernen.

      »Um die Wagen kümmern wir uns später. Bleiben wir noch bei den Schüssen. Was machst du unterdessen, Chafik?«

      »Als ich sehe, dass sie ihre Arbeit hinwerfen und nach draußen rennen, lasse ich auch alles fallen und folge ihnen mit etwas Verzögerung in Richtung Terrasse, und als sie an der Tür sind, in dem Moment, als sie sich drängeln, um schneller rauszukommen, da bin ich selbst noch im Saal, ich höre einen Schuss. Für mich ist es der zweite, weil ich den ersten nicht gehört habe.«

      »Diesen Schuss haben wir beide nicht gehört«, bemerken der Wirt und Slimane.

      »Sie erinnern sich nicht daran, dass Sie ihn gehört haben, zu sehr in Eile, dann der Riesenschock, als Sie Maleks Körper entdecken.«

      Daquin und Delmas diskutieren kurz miteinander. Ihre Schlussfolgerung: Aller Wahrscheinlichkeit nach gab es drei Schüsse, das Vorgängerteam hat Mohameds Bericht zufolge zwei Patronenhülsen aufgelesen, es existiert also vielleicht noch eine dritte. Delmas übernimmt es, sie zu suchen, holt eine Stablampe aus ihrem Polizeiwagen und macht sich an die Arbeit.

      Daquin schlägt den drei Zeugen vor, sich jetzt mit den Autos zu befassen.

      Slimane ergreift das Wort, sein Ton ist bestimmt. »Es waren zwei Autos, sie sind in den Minuten vor den Schüssen mehrere Male vor dem Café vorbeigefahren, ich habe sie nicht gesehen, aber gehört. Eins davon war ein großer deutscher Wagen, ich habe das Motorengeräusch erkannt. Ich denke, ein Mercedes.«

      »Bist du dir da ganz sicher?«

      »Ja. Ich arbeite, wann immer es geht, in einer Werkstatt in der Nähe von Marseille. Ich liebe Kfz-Technik, ich will das mal beruflich machen. Wir alle in der Werkstatt kennen das Motorengeräusch von einem schönen Mercedes. Sie sind vor den Schüssen zwei- oder dreimal vorbeigefahren, das fiel mir auf, zu dieser Nachtzeit war das seltsam.«

      Chafik fügt hinzu: »Als ich rauskam, hatte ich den Boulevard in gerader Linie vor mir. Da war ein großer beigefarbener Wagen, der einzige, den ich gut sehen konnte, er stand halb auf dem Gehweg und fuhr los, er folgte einem anderen Auto. An der Kreuzung Chemin de la Madrague sind sie gemeinsam nach links abgebogen. Das Auto, das vorne fuhr, habe ich in dem Moment gesehen, es war rot, nicht neu und nicht schön, der Wagen dahinter war beige, es kann ein Mercedes gewesen sein. Vielleicht …«

      »Als du sie hast abbiegen sehen, konntest du erkennen, wie viele Leute drinsaßen?«

      Chafik überlegt mit gerunzelter Stirn. »Nicht so richtig. In dem großen Wagen habe ich hinten niemanden gesehen. Vielleicht waren Leute versteckt? Zwei Personen vorne? Ich bin nicht sicher.«

      Delmas kommt mit einer Patronenhülse in einem Plastiktütchen zurück. Er hat seine Gummihandschuhe anbehalten, wahrscheinlich um in Mohameds Augen so seriös zu wirken wie ein Spielfilmbulle. In sein Heft hat er einen genauen Plan des Tatorts gezeichnet und von der Stelle, wo er die Hülse gefunden hat. Er stellt einen Tisch in die Raummitte, unter die helle Deckenlampe, und legt den Plan darauf, damit alle ihn sehen können. Mohamed tritt aus dem Dunkel und stellt sich dazu. Er wirkt um zehn Jahre gealtert, am Boden zerstört vom vor seinen Augen inszenierten Nachstellen des Anschlags auf seinen jüngsten Bruder und von dem Gefühl, in seiner Rolle als beschützender Ältester versagt zu haben. Daquin und Delmas beraten sich kurz, dann erklärt Delmas:

      »Ich habe die Patronenhülse hier gefunden.« Ein Finger zeigt auf ein mit Bleistift eingetragenes Kreuz. »Sechs Meter von der Stelle, wo Malek hingestürzt ist, ungefähr drei Meter außerhalb des von unseren Kollegen als ›Tatort‹ abgesteckten Bereichs.« Er zeigt mit dem Finger auf jeden dieser Punkte auf seiner Karte. »Wir übergeben die Hülse den Kriminaltechnikern, sie ist für den Fortgang der Ermittlung von großer Bedeutung, und gefunden haben wir sie dank Chafiks Zeugenaussage.«

      »Kann man mit der Hülse den Mörder finden?«

      »Wenn


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