Marseille.73. Dominique Manotti

Marseille.73 - Dominique  Manotti


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Kirchturm. Hier findet die religiöse Zeremonie statt, an der die Familie, enge Freunde und ein paar Arbeitskollegen teilnehmen. Der Beginn des Trauerzugs zum Friedhof ist für 14 Uhr angesetzt. Grimbert und Delmas sind früher gekommen, um sich einen Beobachtungsposten zu wählen. Sie stellen sich in den Schatten der großen Platane vor dem Portal und taxieren den Strom der Marseiller, die nach und nach eintreffen, erst den Kirchenvorplatz, dann den daran anschließenden Platz füllen und bald den Boulevard Romain-Rolland überschwemmen. Die Männer – es sind praktisch ausschließlich Männer – sind viel in Bewegung, treffen sich mit Nachbarn, Freunden, Bekannten, es bilden sich Grüppchen, Flugblätter und Zeitungen werden ausgetauscht, man diskutiert, leise aus Respekt für den Toten, aber mit einer unterdrückten Wut, die an den Gesten und Mienen abzulesen ist. Sind sie gekommen, um Guerlache das Geleit zu geben und die letzte Ehre zu erweisen, oder aber wegen des »berechtigten Zorns«, von dem der Polizeipräsident erst heute Morgen gesprochen hat? Niemand weiß es. In der schwülen, stehenden Luft wartet die Menge und schwitzt. Ein stattlicher Ordnungsdienst aus Verkehrsbeschäftigten ganz in Grau, ihrer Arbeitskleidung, geht von Gruppe zu Gruppe und wiederholt unermüdlich: »Wir wollen im Trauerzug keine rassistischen Bekundungen. Die Ermordung unseres Kameraden ist die Tat eines halb irren Einzelnen. Kein Slogan, kein Schild, Stille, Andacht. Ehren Sie den Toten und seine Familie …« Das sind die Kommandos der drei Gewerkschaften, aufmerksam und diszipliniert. Aber die Flugblätter gehen weiter von Hand zu Hand, versteckt vor den Blicken der Männer in Grau. Grimbert ortet einen kompakten Block, der sich abseits hält und einen Mann umringt, den er gut kennt, Pereira. Er rückt näher an Delmas heran.

      »Siehst du die Gruppe da? Um den beleibten Mann mit dem sympathischen Gesicht?«

      »Ja, sehe ich.«

      »Er heißt Pereira. Er war angeklagt, im Auftrag der OAS einen Mord begangen zu haben, 1964 hier in Marseille. Dank einiger Gefälligkeiten seitens der Polizei hat er sich vor seiner Verhaftung nach Portugal verdrückt und wurde in Abwesenheit verurteilt, vier Jahre Exil, nach der Amnestie von ’68 ist er zurückgekommen und hat in aller Ruhe sein Leben wieder aufgenommen, er führt mit seiner Mutter ein Bar-Café … Ich bin fast allen Typen, die da um ihn herumschwirren, schon begegnet, Muskelprotze und Großmäuler.«

      In diesem Moment entrollen zwei Männer der Gruppe ein Banner: »CDM – Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille«. Zwei Verkehrsbeschäftigte stürmen hin, leicht hitziger Wortwechsel, das Banner wird wieder zusammengefaltet und weggepackt. Die Gewerkschafter wiederholen in aggressivem Ton: »Kein Slogan, kein Spruchband, Schweigemarsch.«

      Grimbert kommentiert: »Heute das Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille, morgen etwas anderes. Ich habe stark den Eindruck, dass Pereira der Anführer ist … Ich kann nicht näher ran, die kennen mich zu gut nach all der Zeit, in der ich ihnen schon hier und da begegnet bin. Sobald sie mich sehen, machen sie dicht. Du dagegen bist noch nicht lange hier, du hast vielleicht eine Chance. Du richtest es so ein, dass du im Trauerzug direkt vor ihnen gehst, du drehst dich nicht um, aber du lauschst, und wenn möglich, lässt du dich irgendwann unauffällig in die Gruppe zurückfallen. Ich will wissen, worüber sie reden. Und versuch dir auch eins dieser Flugblätter zu beschaffen, die mehr oder weniger diskret im Umlauf sind.«

      »Verstanden.«

      Delmas gelingt es schnell, sich seinem Ziel zu nähern, aber die Gruppe scheint auf der Hut vor den Unbekannten, die sie unablässig umkreisen, sie streifen und dann verschwinden. Auch sind die Aktivisten, aus denen sie sich zusammensetzt, vorsichtig, sie reden sehr leise miteinander, Delmas versteht kein Wort von dem, was sie besprechen.

      Grimbert, immer noch auf der Lauer unter der Platane vor dem Kirchenportal, wird die Zeit lang. Plötzlich läutet im Kirchturm die Totenglocke, der tiefe, zitternde, wiederholte, eindringliche Ton senkt sich auf die schlagartig erstarrte Menge herab. Beginn des Spektakels. Der Leichenwagen nähert sich der Kirche, das Portal öffnet sich, der Sarg kommt aus dem Halbdunkel ins Licht, getragen von sechs Busfahrern, obenauf eine schlichte Uniformmütze. Der Sarg wird in den Leichenwagen geschoben, zwei Busfahrer bedecken ihn im Namen der gesamten Profession mit einem Kranz roter Rosen. Und immer noch das Geläut der Totenglocke. Schöne Inszenierung, ergreifender Moment, Hommage an die Männer des Metiers und ihre Kultur. Nun tritt die Familie näher. Einer der Sargträger übergibt der Witwe die Mütze ihres Mannes, sie presst sie an ihre Brust, fängt an zu weinen. Sie besteigt mit ihren vier Kindern eine schwarze Limousine, die Eltern des Toten eine andere, sie werden auf den vier Kilometern bis zum Friedhof Saint-Pierre dem Leichenwagen folgen. Zwei lange Ketten aus Verkehrsbeschäftigten formieren sich zu beiden Seiten des Trauerzugs, um die Wagen zu flankieren und abzuschirmen, während andere die ersten Reihen des Zuges organisieren: an der Spitze die Bonzen der Marseiller Verkehrsbetriebe, die Gewerkschaftsvertreter, vereinzelt bunte Flecken von Schärpen in den Farben der Trikolore, Behördenvertreter, Fußvolk, der Bürgermeister ist nicht gekommen, klug von ihm, niemand weiß, wie das hier enden wird. Dann ein paar Kollegen von Guerlache, seine Arbeitskameraden vom 72er, die Freunde und Nachbarn. Delmas hat sich in diese Gruppe eingeschleust, perfekt. Direkt hinter ihnen setzt sich das Gros des Trauerzugs in Gang, angeführt vom Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille. Es hat kein Spruchband mehr, aber die Männer gehen in zwei dichten Reihen, Hand in Hand oder untergehakt, sie verlangsamen das Marschtempo, um zwischen der Spitze des Zugs und ihren eigenen Reihen Abstand zu schaffen, und das genügt, um sich abzuheben. Delmas wird etwas Mühe haben, ihre Gespräche zu belauschen. Dicht hinter dem CDM eine große Traube von etwa dreißig Beamten der Police Urbaine. In ihrer Mitte erkennt Grimbert den Dicken Marcel, unvermeidlich, zu seiner Rechten und Linken wie zwei Schutzengel Richard Platel, sein Mann für alles, normal, und Brigadier Picon, auf diese Weise öffentlich ausgestellt als Bindeglied zwischen dem Dicken Marcel und den Interessenvertretungen der Pieds-Noirs. Riskant, Marcel, und sogar gefährlich … Um sie herum die gesamte Riege der einflussreichen Männer der Police Urbaine: Polizisten, die Mitglieder im SAC sind, dem früheren gaullistischen Ordnungsdienst, seit dem Abgang des Generals in heftiger Umstrukturierung begriffen, die Funktio­näre der Gewerkschaft Force Ouvrière Police … Sie waren alle so klug, nicht in Uniform zu kommen.

      Der Trauerzug biegt hinter dem Leichenwagen auf den Boulevard Romain-Rolland ein, etwas luftiger, sonnendurchflutet. Die Menge breitet sich aus, füllt den gesamten Boulevard, so weit das Auge reicht, dicht, kompakt, homogen, ganz in Schwarz, Grau und Weiß und ohne Kopfbedeckung. Sie schreitet langsam voran, schweigend, aber an allen Mauern entlang des Boulevards brüllt es von Schwarzweißplakaten: »Stoppt die wilde Einwanderung«. Grimbert erkennt sie wieder, solche Plakate hat er schon im Stadtzentrum gesehen. Hier wird der anonyme Slogan zum Schrei dieser marschierenden schweigenden Menge. Doppelte Schlagkraft. Und dann tauchen hier und da neue Plakate auf, uneinheitlicher, hastiger zusammengebastelt: »Es reicht«, »Marseille hat Angst«, »Unsere Mütter, unsere Frauen, unsere Kinder haben Angst«. Signiert mit CDM, drei Buchstaben, die sich außerdem in endloser Wiederholung mit schwarzer Farbe aufgesprüht finden. Als der Leichenwagen vorüberzieht, bleibt das Volk auf den Gehwegen stehen, ballt sich zusammen, beteiligt sich an der Ehrerweisung, die Männer ziehen den Hut, die Frauen bekreuzigen sich, die starke Betroffenheit ist mit Händen zu greifen.

      Der kompakte Block der CDM-Mitglieder fühlt sich in dieser Menge jetzt zu Hause, die Gespräche werden ungezwungener, hörbarer für Delmas. Mehrere aus ihren Reihen fragen den kleinen Dicken mit dem sympathischen Gesicht, wie er es geschafft hat, die Plakate des Komitees so schnell zu produzieren, kaum vierundzwanzig Stunden nach ihrem Beschluss, und von welchem Geld. Er antwortet: »Ich habe mich für das Nächstliegende entschieden. Le Méridional. Eine betriebsbereite Druckerei, ein Chefredakteur mit der richtigen Denke, der uns auch braucht, um seine Pied-Noir-Leserschaft zu behalten, ein nicht so kleinlicher Eigentümer. Ergebnis: Die Druckerei hat die Arbeit gemacht, und die Zeitung hat uns das gesamte Material geschenkt. Das ist wertvoll in diesen Zeiten, in denen das Geld knapp ist.« Ein anderer teilt Pereira seine Unzufriedenheit mit: »Der CDM hatte für morgen zu einer Demo aufgerufen. Kein Flugblatt. Warum? Hast du sie abgesagt? Ziehst du schon den Schwanz ein?« Kaltes Lächeln von Pereira. Schwanz einziehen, das wird er nicht vergessen. »Wir haben erfahren, dass es heftigen Zoff mit der Polizei gibt, wenn wir im Stadtzentrum demonstrieren. Sieh dir die Mauern an, die Menschenmenge, wir sind am Gewinnen, jetzt keinen Zoff.«

      Grimbert


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