Marseille.73. Dominique Manotti
»Im Büro vom Front National gibt es einen Vorrat an Ordre-Nouveau-Plakaten mit diesem Slogan, die können wir abholen. Und wo der Ordre Nouveau nach seiner Schlacht gegen die linken Zecken in Paris gerade verboten wurde, müssen wir nur die Signatur unten am Plakat abschneiden, das geht mit einer Papierschneidemaschine.«
Der Vorschlag stößt auf allgemeine Zustimmung. Einer der Männer erklärt sich bereit, die Plakate zu organisieren, Pereira wird wegen der Schneidemaschine eine Druckerei auftreiben. Und mobilisiert fürs Plakatekleben seine Sicherheitsfirma.
»Das sind Spezialisten. Morgen ist die ganze Stadt tapeziert.«
»Und wir rufen zu einer Demo auf. Wir kontaktieren alle befreundeten Organisationen und die Presse. Das wird unser Komitee zum Leben erwecken. Ich kümmere mich um das Kommuniqué und die Kontakte.«
»Wann soll die Demo stattfinden? Die Beerdigung von Guerlache ist am Dienstag, es darf nicht auf ihre Kosten gehen.«
»Am Tag drauf? Mittwoch, der 29.? Bis wir uns organisiert haben …« Angenommen.
An diesem Punkt der Diskussion kommt Madame Pereira, die auf dem Markt ihren Tageseinkauf erledigt hat, mit den Zeitungen zurück. Le Quotidien de Marseille und Le Méridional. Die Männer stürzen sich auf den Méridional, ihre persönliche Tageszeitung. Pereira liest ein paar Passagen aus dem Leitartikel von Chefredakteur Gabriel Domenech vor.
»Genug! Genug! Genug!« »Natürlich wird man uns sagen, der Mörder sei geistesgestört, schließlich braucht es eine Erklärung, nicht wahr … Wahnsinn ist keine Entschuldigung … Wir haben genug von den algerischen Dieben, den algerischen Einbrechern, den algerischen Maulhelden, den algerischen Störenfrieden, den algerischen Syphiliskranken, den algerischen Vergewaltigern, den algerischen Irren, den algerischen Mördern. Wir haben genug von dieser wilden Einwanderung, die von der anderen Seite des Mittelmeers den gesamten Abschaum in unser Land bringt … Man muss ein Mittel finden, um sie zu brandmarken und ihnen den Zutritt zu französischem Boden zu verwehren.«
Applaus. Der schreibt verdammt gut, dieser Domenech.
Während der Nacht bedecken sich die Mauern von Marseille mit Schwarzweißplakaten »Stoppt die wilde Einwanderung« und schnell hingesprühten Graffiti in leicht verlaufener schwarzer Farbe: »Marseille hat Angst«. Ohne die Signatur einer Organisation entwickeln diese Slogans eine gefährliche Kraft, der Schrei eines Volkes.
Montag, 27. August
Le Quotidien de Marseille
Unter der Schlagzeile:
Der Mörder, immer noch im Koma, konnte nicht befragt werden.
Presseerklärung der Verkehrsgewerkschaften: »Die Bestattung von Guerlache findet am Dienstag, den 28. August in der Kirche Sainte-Émilie-de-Vialar statt, im Viertel La Pauline, wo er wohnte. Die Gewerkschaften rufen die Bevölkerung dazu auf, sich durch Arbeitsniederlegung an dieser Beerdigung zu beteiligen, aus Freundschaft zu Guerlache und um gegen die unsicheren Arbeitsbedingungen der Verkehrsbeschäftigten zu protestieren. Die Tatsache, dass der Mörder ein Gastarbeiter ist, darf nicht zur Zunahme des Rassismus führen. Viele Aggressoren sind keine Nordafrikaner.«
Auf Seite 2 Abdruck einiger Unterstützungserklärungen:
»Die Belegschaft der Wartungsbetriebe der Stadt Marseille drückt ihre Bestürzung und Solidarität aus. Sie fordert eine strengere Einwandungskontrolle in unserem Land.«
»Front National, GUD, ULN, UGT und das Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille (CDM) rufen für Mittwoch, den 29. August zu einer Protestdemonstration gegen die illegale Einwanderung auf.«
Daquin begibt sich sehr früh zum Évêché. An den Mauern des Panier-Viertels Schwarzweißplakate »Stoppt die wilde Einwanderung«, handgemalte Slogans, und ein Wort, das sich von Wand zu Wand in großen schwarzen Lettern herauskristallisiert: Angst. Eine Gewissheit: Über der Stadt hat sich ein Sturm erhoben und wird sie durchschütteln. Was sollen wir tun, mein Team und ich?
Er geht als Erstes bei der Abhörtechnik vorbei, um zu sehen, wie weit die von Percheron zugesagten Telefonüberwachungen sind. Sie laufen seit Freitagnachmittag. Nicht schlecht. Auf dem Vereinsanschluss ein Dutzend Anrufe, im Wesentlichen Bitten um Auskunft, uninteressant. Ein Gespräch auf Asensios Privatleitung. Datum: Freitag, 24. August, 19:50 Uhr. Ein externer Anruf, er notiert die Nummer und schreibt den Dialog sorgfältig mit.
Unbekannt: Gute Rede neulich Abend im Club. Im Évêché wird viel darüber gesprochen.
Asensio: Ich hoffe, nicht zu viel. Wir bereiten Initiativen von großer Tragweite vor, weißt du?
Unbekannt: Keine Sorge … Also, ich wollte dich um einen Gefallen bitten.
Asensio: Das trifft sich gut, ich dich auch. Wir sollten uns sehen. Ich bin gerade fertig mit Abendessen, komm auf einen Verdauungsschnaps in die Bar unten in meiner Straße …
Unbekannt: Bin gleich da.
Daquin geht eilig zum Büro seines Teams. Die Atmosphäre ist angespannt.
»Die Touloner haben mit einer Explosion gerechnet. Ist es so weit?«
»Es ist nur der erste Akt …«
Daquin hat sein Kriegszeitengesicht, weniger kantig, mehr zerklüftet, Nase und Lippen schmaler, vorstehende Brauenbögen und Wangenknochen, die Augen tief in den Höhlen.
»Ja, es wird kabbelig. In der Stadt kann ich körperlich spüren, wie sich die Lage verschlechtert, aber verschwenden wir keine Zeit mit Spekulationen über die Zukunft, dafür sind wir nicht qualifiziert. Und wir müssen sofort eine Entscheidung treffen. Unsere Ermittlung ist unwichtig verglichen mit dem, was gerade passiert. Wir können sie einfrieren und uns möglichst ans aktuelle Geschehen halten. Oder aber sie weiter vorantreiben, das Tempo erhöhen. Was mich betrifft, wäre das meine Wahl, ich bin überzeugt, dass wir in der kommenden Krise die Männer, die wir bereits ausgemacht haben, an vorderster Front wiederfinden werden, Asensio, Picon, die anderen. Bevor Sie mir antworten, möchte ich Ihnen das hier zeigen.«
Er reicht ihnen das Abhörprotokoll. Delmas tritt näher, um über Grimberts Schulter mitzulesen. Daquin fährt fort:
»Anruf am Freitagabend, also vor der Ermordung des Busfahrers. Aber ›gute Rede‹ und ›Initiativen von großer Tragweite‹ passt in den Gesamtzusammenhang. Wir müssen die eingehende Rufnummer und den Gesprächspartner identifizieren. Grimbert, können Sie das machen?«
»Kann ich. Ich werde mir die Stimmen anhören. In so einem Moment tut es gut, sich nicht vollkommen nutzlos zu fühlen.«
Grimbert begibt sich zur Abteilung für Abhörtechnik. Die Techniker erklären ihm, dass es sich um eine Nummer im Évêché handelt, ein frei zugänglicher Anschluss auf einer der Etagen der Police Urbaine. Er hat nicht übel Lust zu fragen, warum sie Daquin nicht darauf hingewiesen haben, aber er hält sich zurück, die Antwort liegt auf der Hand: Man erzählt den Parisern so wenig wie möglich, vor allem wenn es um Évêché-interne Angelegenheiten geht. Dann hört er sich die Aufnahme an, zunächst ganz unbefangen, nur ein erster Eindruck. Asensios Gesprächspartner hat einen winzigen Pied-Noir-Akzent, die Stimme hat er schon mal gehört, aber sie ist ihm nicht vertraut. Er hört die Aufzeichnung noch zweimal mit maximaler Konzentration, bedankt sich bei den Technikern und stürmt zu seinem Büro. Ohne ein Wort zu Delmas und Daquin sucht er aus dem internen Telefonverzeichnis eine Nummer heraus, wählt.
»Hallo, Marcel?«
»Nein, hier ist nicht Marcel, Sie haben sich verwählt, alter Knabe, überprüfen Sie die Durchwahl.«
»Können Sie sie mir nicht geben?«
»Ich bin doch keine Telefonistin, ich hab anderes zu tun.« Damit legt er auf.
Grimbert