Marseille.73. Dominique Manotti

Marseille.73 - Dominique  Manotti


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bereits seit zwei oder drei Jahren.«

      »Defferre? Der sozialistische Bürgermeister von Marseille? Willst du mich verarschen?«

      »Keineswegs. Hunderttausend Pieds-Noirs in Marseille, das bedeutet viele Wähler. Bei ihrer Ankunft wollte er nichts von ihnen wissen, er hat versucht, sie daran zu hindern, sich hier niederzulassen. Aber jetzt, wo sie da sind, ist es ausgeschlossen, sie zu übergehen. Man muss Mittelsmänner finden, um in Verbindung zu bleiben. Pereira ist der ideale Mann, er findet Defferre nicht kleinlich, und er selbst ist es auch nicht. Sie sind wie füreinander geschaffen … Fortsetzung folgt. Das hier ist Marseille.«

      »Na, dann erzähle ich dir mal was über deine Marseiller, nicht über die Typen von der OAS oder vom Verteidigungskomitee, nein, über all die anständigen Bürger, ganz gewöhnlich, sehr sympathisch, Boulespieler, Pastistrinker, Aioli-Esser, Freunde und Nachbarn von Guerlache, von denen ich im Trauerzug umgeben war.«

      Dann berichtet er ausführlich von den Äußerungen, die er ringsum gehört hat, und das erleichtert ihn. Bis zum krönenden Abschluss: »Also, wer ist mit von der Partie, wenn wir sie ins Meer werfen?«, und er gibt Grimbert sein Exemplar des Flugblatts vom CDM.

      Grimbert liest es aufmerksam. »Du musst in eine Gruppe beschwipster Pieds-Noirs geraten sein.«

      »Kneif nicht. Dem Akzent nach waren wohl Pieds-Noirs dabei, aber genauso viele waschechte Marseiller. Ganz normale Bürger, geschniegelt und gebügelt, die so ruhig, in vollem Ernst und in aller Öffentlichkeit vom Töten reden, ohne die geringste Missbilligung zu erregen, das habe ich noch nicht erlebt. Und nicht unbedingt leeres Gerede, Tote hat es schon gegeben, wahrscheinlich mehr, als man denkt, und die Stimmung ist explosiv, vergiss das nicht. Da läuft es mir kalt den Rücken runter. Was wird passieren? Machen sie es wahr?«

      »Keine Ahnung. Der Commissaire erwartet uns. Gehen wir ihm berichten.«

      Im Zentrum von Marseille ehrt das Opéra-Viertel den ermordeten Busfahrer auf seine eigene Weise. Die amerikanischen Bars, wo sonst leicht bekleidete Frauen eine wimmelnde Kundschaft aus einzelnen Männern bedienen, sind alle geschlossen, die Straßen menschenleer und still. Nur zwei Hochburgen der Marseiller Geselligkeit sind überfüllt, die Stammkunden sind gekommen, um in ihrem Lieblingslokal auf den Verstorbenen anzustoßen.

      Im Foudre, der Café-Bar der Pereiras, sitzt die OAS- und Pied-Noir-Familie um die Holztische, trinkt Anisette Cristal, knabbert Oliven, Würstchen, Muscheln, redet über Waffen, Schüsse, Explosionen, Exekutionen und Nostalgie. »Es wird knallen«, ständig wiederholt wie ein Refrain. Man spricht auch viel über »berechtigten Zorn«, wie es der Polizeipräsident in seiner morgendlichen Presseerklärung genannt hat. In allen Unterhaltungen taucht das Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille, die hauseigene Schöpfung, als der große Sieger des Tages auf.

      Ein paar Dutzend Meter weiter, in der Grand Bar Henri, vollkommen anderes Ambiente, große Fenster zur Straße, moderne Einrichtung, sind die Korsen zur Totenwache gekommen. Bruderküsse, Lieder, ein bisschen korsische Mundart, Pastis Casanis fließt in Strömen, man ist bunt gemischt unter sich. Das gemeine korsische Volk ist da, auch die Bullen, sie unterhalten sich mit den Gaunern, den Journalisten, mit allen, wahre und falsche Informationen werden ausgetauscht, Gefallen versprochen und erwiesen, Probleme gelöst unter Korsen. Etwas abseits die korsischen Honoratioren von der Medizinfakultät und den Marseiller Krankenhäusern, eine in der ganzen Gemeinschaft hoch angesehene Aristokratie, sie trinken Whisky, gesellschaftlicher Status verpflichtet, und plaudern mit ihren Studenten, die im akademischen Milieu der Stadt die Atomstreitmacht der extremen Rechten bilden. Die Formen der Geselligkeit mögen in der Grand Bar Henri und im Foudre unterschiedlich sein, die dominierende politische Richtung ist die gleiche.

      An diesem Abend hat Nicolas Cipriani lange geschwankt zwischen Le Foudre und Grand Bar Henri. Der freie Journalist für AFP und mitunter für die kommunistische Zeitung La Marseillaise ist in der Grand Bar Henri zugelassen, weil er einer korsischen Familie, der korsischen Kultur entstammt, einige Worte Korsisch spricht und Casanis trinkt, aber er wird auch im Foudre mit offenen Armen empfangen, denn er ist Sohn eines Fallschirmjägeroffiziers, Kämpfer im Indochina- und im Algerienkrieg, aufs Abstellgleis geschoben wegen Französisch-Algerien-freundlicher Gefühle, und der Apfel fällt schließlich nicht weit vom Stamm. Die Familie, das ist das einzig Wahre. Im Übrigen trinkt der Sohn Anisette Cristal, hat seine vor­militärische Ausbildung bei den Fallschirmjägern gemacht, ehe er anfing, sich als Journalist zu verdingen, was ihm niemand übelnimmt.

      Am Ende entscheidet sich Cipriani, seine Nacht bei den Korsen zu vertrinken.

      Im Foudre brechen vier Männer, aufgeputscht vom Anisette Cristal und dem stetigen Strom kriegerischer Reden, gegen zehn Uhr abends Arm in Arm auf – »zu einem Rodeo bei den Indianern auf der anderen Seite der Grenze«, sagen sie zum Abschied.

      Auf der anderen Seite der Grenze, in Marseille-Nord, ist es elf Uhr abends und die Bar-Tabac Le Terminus macht gerade zu. Malek sitzt mit Blick auf den menschenleeren Boulevard auf dem Mäuerchen der Caféterrasse und wartet. Der junge Bursche von sechzehn Jahren, Lehre im Klempnerbetrieb von einem Freund seines Vaters in Aussicht, wartet auf Anita, achtzehn Jahre und schön wie eine Spanierin, Abiturientin, das heißt eine Intellektuelle. Sie sind sich heute Morgen in Campagne-Lévêque begegnet, wo sie beide wohnen. Malek wollte zu seinem Kumpel Manuel, mit dem er zu einer Spritztour durch die Stadt verabredet war. Dessen Schwester Anita öffnete ihm die Tür. Manuel war nicht da, er sei aber gleich zurück. Wenn er warten wolle … Malek hatte Anita nicht wiedererkannt. Es war fast vier Jahre her, dass sie einander zuletzt begegnet waren.

      »Kein Wunder, ich bin die ganze Zeit in der Stadt aufs Gymnasium gegangen. Das ist weit weg von hier.«

      Sie sprachen über dies und das, Tratsch aus der Siedlung, dieses erstickende Gefühl am Ende des Sommers. Manuel war immer noch nicht zurück, Anita meinte, sie werde erwartet, sie müsse los, und begann ihn sanft zum Ausgang zu schieben … Malek schlug vor, in der Bar Le Terminus gegen acht, in der Abendkühle, zusammen eine Cola zu trinken. »Warum nicht«, sagte Anita. Als er im Treppenhaus stand, versprach sie zu kommen, dann schloss sie die Tür. Und jetzt wartet er auf sie.

      Er musste heftig darum kämpfen, nach dem Abendessen noch ausgehen zu dürfen. Sein ältester Bruder war dagegen. Nicht heute Abend, sagte er, die Angst geht um in den Straßen, bei Anbruch der Dunkelheit werden Araber getötet. Malek hat keine Angst, wovor, warum? Die Bar-Tabac Le Terminus ist nicht weit von zu Hause, wir sind dort unter uns, was kann schon passieren? Er musste versprechen, zeitig heimzukommen, und jetzt ist er immer noch hier, sie ist nicht gekommen, noch nicht. Elf Uhr, die Bar wird gleich schließen.

      Der Wirt und zwei Jugendliche, die ihm für kleines Geld zur Hand gehen, sind dabei, zu spülen und aufzuräumen. Malek wirft noch einen Blick nach rechts über den Boulevard, er stellt sich vor, Anitas Silhouette zu sehen, die mit wiegenden Schritten auf ihn zukommt, ein Traum. Ein roter Wagen, gefolgt von einem dicken cremefarbenen Mercedes, fährt im Zeitlupentempo am Café vorüber und den Boulevard Paumont entlang. Zum zweiten Mal. Vielleicht Leute, die sich im Viertel verfranst haben. Keine zwei Minuten später kommen dieselben Wagen aus der Gegenrichtung über den Chemin du Moulinet zurück. Ganz schön verfranst, die Typen. Während der Mercedes ein Stück entfernt parkt, hält der rote Wagen am Gehwegrand, direkt vor Malek. Der Beifahrer öffnet das Schiebefenster und spricht ihn auf Arabisch an.

      »Wir haben uns verfahren, wir kennen uns im Viertel nicht aus, kannst du uns helfen?«

      Malek lässt sich zu Boden gleiten, geht näher, beugt sich vor, der Beifahrer hebt den Arm, schießt ihm aus nächster Nähe eine Kugel mitten in die Brust, Maleks Körper wird nach hinten geschleudert, der Wirt in der Bar schreckt hoch, lauscht, eine zweite Kugel trifft den Bauch, zerfetzt das Brustbein, der Körper kippt um, der Wirt und die zwei Jungen lassen Besen und Putzlappen fallen, der rote Wagen prescht los, eine dritte Kugel streift eine Schulter, die drei Männer erreichen die Caféterrasse, erblicken den blutüberströmten Körper. Schon zwanzig Meter weiter ein beigefarbener Mercedes und ein anderer Wagen, sie biegen beide an der nächsten Kreuzung ab und verschwinden. Das Ganze


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