Marseille.73. Dominique Manotti
um die Rettung und das Bezirkskommissariat anzurufen. Dann kommt er zurück, nähert sich dem reglosen Körper, starrt auf das Blut, das aus den Wunden fließt, die Kleider durchtränkt, das Gesicht befleckt, sich auf dem Gehweg ausbreitet. Er legt Slimane eine Hand auf die Schulter, der zuckt zusammen.
»Geh, mein Junge, und benachrichtige seine Familie, du weißt, wo sie wohnen.«
Kurz darauf stürmen Maleks zwei Brüder mit langen Schritten von der nahen Siedlung Campagne-Lévêque herbei, verzerrte Gesichter, aufs Schlimmste gefasst. Die Rettungsleute umstehen schon den Körper, führen Erste-Hilfe-Maßnahmen durch und bereiten eine Trage und Transfusionsmaterial vor. Die beiden Brüder beugen sich über das Gesicht, fahl, mit blutigen Rinnsalen überzogen, geschlossene Augen, offener Mund, ein stummer Schrei. Malek, ohne jeden Zweifel. Einer der Rettungsleute: »Er lebt.« Sie hören ihn nicht mal.
Polizisten in der Bar und in der Umgebung. Einer von ihnen gibt den Rettungsleuten ein Zeichen: »Sie können ihn mitnehmen. Wir sind fertig mit ihm, Fotos und der ganze Zirkus. Wo fahren Sie hin?«
»Uniklinik La Timone.«
»Alles klar.«
Mohamed, der Älteste, nimmt seinen jüngeren Bruder Adel am Arm, schiebt ihn zum Krankenwagen. »Du bleibst bei ihm, du lässt ihn keine Minute allein.«
Adel stellt die Befehle des Ältesten nicht infrage, niemals. Er wendet sich um, macht drei unsichere Schritte, kotzt sich mitten auf der Straße die Seele aus dem Leib, geht dann auf die Rettungsleute zu, die ihm entgegensehen. Kein lustiger Geselle, Komplikationen in Sicht. »Setzen Sie sich zum Fahrer nach vorn, niemand neben der Trage, die Arbeit der Sanitäter darf nicht gestört werden.« Er tut wie geheißen, erleichtert und zugleich beschämt darüber.
Mohamed steht immer noch benommen neben den Blutlachen auf dem Gehweg, er fühlt, wie in seinem Körper die Ablösung beginnt, die Abwesenheit wächst, die unwiderrufliche Leere. Ein Polizist tritt auf ihn zu.
»Und Sie, wer sind Sie?« Mohamed schreckt zusammen. »Was tun Sie hier?«
»Ich bin der Bruder des Opfers.«
»Stehen Sie nicht da rum, Sie verunreinigen den Tatort, wir sind mit unserer Arbeit noch nicht fertig. Gehen Sie in das Café, meine Kollegen nehmen Ihre Aussage auf. Und dann gehen Sie nach Hause, Sie haben hier nichts verloren.«
Mohamed betritt das Café, in dem er noch nie war. Der Saal ist quasi leer. Die Tische und Stühle, billige Möbel, sind hinten im Raum aufeinandergestapelt, der Boden wurde tropfnass gewischt und riecht noch nach Chlor, die Lichter über der Bar auf der linken Raumseite sind alle ausgeschaltet und der Tresen ist mit einem großen weißen Tuch abgedeckt. Nur eine Hängelampe in der Mitte der Decke ist noch an und erhellt zwei Polizisten, die auf einen Bistrotisch gestützt die Aussagen des Wirts und der zwei jungen Männer aufnehmen, die vor ihnen stehen. Auf einer Seite im Dunkel die Tür zu den Toiletten und eine Telefonkabine. Im selben Moment, als Mohamed eintritt, schließen die Polizisten ihre Blöcke, der eine sagt zum anderen: »Kurz und gut, dies sind die einzigen Zeugen, sie waren alle drei hier drin, die Schießerei fand draußen auf dem Boulevard statt, sie haben nichts gesehen, der Fall landet schnell bei den Akten.« Die drei Zeugen hören sich das an, dann ziehen sie sich in die Dunkelheit und zu der Telefonkabine zurück.
Mohamed geht auf die Polizisten zu. »Wer sind Sie?«, fragen sie ihn.
»Der Bruder des Opfers.«
Sie schlagen ihre Notizblöcke wieder auf. Seine Identität und seine Adresse, die von Malek, die Umstände, wie er von dem Ereignis erfahren hat, alles deckt sich mit der Aussage von Slimane und scheint klar. Nach ein paar Minuten ist Mohamed entlassen. »Sie können nach Hause gehen. Wir melden uns bei Ihnen.«
Er verlässt die Bar, macht ein paar Schritte über die Terrasse, wie ein Schlafwandler, bleibt stehen. Er ist direkt oberhalb der Stelle, an der sein Bruder niedergeschossen wurde. Zwei Polizisten arbeiten daran, mit einem gelben Plastikband mit der Aufschrift »Polizei«, wie er es schon in Fernsehkrimis gesehen hat, einen winzig kleinen Teil des Gehwegs abzustecken, ein »Tatort« im Taschenformat. Zwei andere laufen innerhalb dieses »Tatorts« herum, wahllos, wie es scheint, Blick am Boden. Einer von ihnen verkündet: »Da. Ich hab eine.«
Er bückt sich, hebt mit bloßer Hand einen Gegenstand auf, zeigt ihn den anderen Polizisten. Eine Patronenhülse. Der Gegenstand geht von Hand zu Hand, bevor er in einem Plastiktütchen verstaut wird. Kurz darauf verkündet der andere Polizist: »Ich hab die zweite.« Und zeigt seine Trophäe vor.
»Die Zeugen haben gesagt, zwei Schüsse, wir haben zwei Hülsen, die Rechnung geht auf. Sind sie fertig, die Schreiberlinge im Café? Es ist spät, wir ziehen ab.«
Ein paar Minuten darauf sind die Polizisten weg.
Mohamed setzt sich auf das Mäuerchen der Terrasse, ganz genau da, wo sein Bruder zwei Stunden zuvor gesessen hat. Allein. Der Körper gibt nach. Es überwältigt ihn, er legt die Hände vors Gesicht und weint stumm.
Ein wenig später bringt der Wirt ihm einen Pfefferminztee, sehr heiß, sehr stark, sehr süß, und setzt sich schweigend neben ihn. Langsam richtet Mohamed sich auf, nimmt die Hände vom Gesicht, wischt mit dem Handrücken darüber, nimmt das Glas und trinkt. Die beiden Jugendlichen hocken sich zu ihnen auf die Mauer, halten sich an den Händen. Die Nacht ist schon weit fortgeschritten, aber niemand kommt auf die Idee, das Café zu verlassen, die Terrasse, den blutigen Gehweg. Da sein, um bei Malek zu wachen, immer weiter da sein, bis zum Ende, an seiner Seite, um ihm beizustehen, ihm zu helfen, den Faden festzuhalten, den Lebenshauch.
Mohamed spricht. »Meine Familie ist aus Oran, wir kennen die Pieds-Noirs, wir wissen, wozu sie fähig sind … Die Schwester meiner Mutter wurde erschossen, weil sie in einem europäischen Viertel durch die Straße lief … Hier und jetzt geht es wieder los, überall sind die Algerier in Gefahr. Bei der Arbeit wird viel darüber geredet. Wie wir alle habe ich nachts Angst, und ich wusste, dass es heute Nacht noch gefährlicher ist. Ich wollte Malek daran hindern, auszugehen, ich habe es nicht geschafft.« Ein Zögern. »Er war mit einem Mädchen verabredet?«
»Ja. Er hat gewartet, sie ist nicht gekommen …«
Ultimativer Schlag des Schicksals. Mohamed fühlt Tränen aufsteigen, atmet tief durch, fährt fort. »Unser Vater liegt im Moment im Krankenhaus. Arbeitsunfall. Ich habe die Verantwortung für Malek. Ich bin jeden Abend von La Ciotat, wo ich arbeite, hergekommen, um auf ihn aufzupassen. Ich bin für seinen Tod verantwortlich.«
Der Alte beugt sich vor, sucht seinen Blick. »Du hast nicht das Recht, das zu sagen. Wenn du verantwortlich bist, sind die Mörder dann unschuldig? Verantwortlich ist der Mann, der geschossen hat, und auch die, die ihn begleitet haben. Sie waren mit Sicherheit zu mehreren, mindestens zu zweit, der Schütze und der Fahrer. Wir müssen sie finden, für Malek. Sie müssen erfahren, dass Malek kein Hund ist, den man auf der Straße erschießt. Keiner von uns ist ein Hund, den man auf der Straße erschießt.«
Der alte Mann hat den richtigen Punkt getroffen, Mohamed grübelt: den Verantwortlichen finden, den oder die Mörder finden … Machbar? Gefühl von Ohnmacht, Einsamkeit, völlig verloren.
Auf dem menschenleeren Boulevard kommt mit aufgeblendeten Scheinwerfern ein Wagen auf sie zu. Er hält ein paar Dutzend Meter vom »Tatort« entfernt. Daquin steigt aus, gefolgt von Delmas. Beim Bereitschaftsdienst im Évêché hat er einen Anruf erhalten, ein Alter, flüsternde Stimme, unbeholfen. Er sprach von einem jungen Algerier, erschossen auf der Straße, vor einem Café, die Schützen geflüchtet, von Angst und Dringlichkeit. »Wir kommen«, hat Daquin geantwortet und Delmas aus dem Schlaf geklingelt.
»Nach den theoretischen Reden, die Sie heute Nachmittag gehört haben, interessieren Sie sich für die praktische Umsetzung? Ich hole Sie ab.«
Jetzt stehen sie beide hier und betrachten das, was sich als schlampig abgesteckter, aber sehr blutiger Tatort darbietet. Dann nähert sich Daquin dem Mäuerchen.
»Commissaire Daquin, Inspecteur Delmas, wir sind von der Kriminalpolizei. Wer von Ihnen hat die Bereitschaft angerufen, um ein