Auswahlband 4 Krimis: Von Huren, Heiligen und Paten - Vier Kriminalromane in einem Band. Alfred Bekker
"Isabel Norales war mindestens 24 Stunden tot, so die Meinung des Coroners. Genaue Angaben kann er allerdings erst nach einer eingehenden gerichtsmedizinischen Untersuchung machen."
"Wer hat die Leiche gefunden?"
"Rita Montgommery. Sie hat sich mit der Toten die Wohnung geteilt und kehrte heute Morgen von einer Europa-Reise zurück. Die Psychologin unseres Reviers kümmert sich zur Zeit um sie. Die junge Frau steht völlig unter Schock."
Milo mischte sich jetzt ein. "Das Telefon hier hat sie aber nicht zufällig benutzt?"
"Ist das so wichtig?", fragte Patterson.
"Ich denke schon. Wir müssen ausschließen, dass sie es war, die Dale Johnsons Nummer gewählt hat."
"Isabel Norales könnte es selbst gewesen sein", gab ich zu bedenken.
Milo nickte.
"Oder der Killer."
Eine halbe Stunde später saßen wir in einem der Büros des 112. Polizeireviers. Patterson hatte uns freundlicherweise begleitet. Die Polizeispsychologin Anna Doren McCauly versuchte möglichst schonend auf die Zeugin einzuwirken.
Aber der Erfolg war mäßig. Sie sagte zwar, dass sie unbedingt aussagen und uns bei der Suche nach dem Mörder ihrer Mitbewohnerin helfen wollte, wirkte aber insgesamt sehr abwesend und unkonzentriert. Immer wieder schüttelten sie Weinkrämpfe.
Sie beteuerte, in der Wohnung nichts angefasst zu haben.
"Das kennt man doch aus Krimis", meinte sie. "So bescheuert kann doch niemand sein. Ich habe das Handy benutzt, um die Polizei anzurufen."
"Ganz schön geistesgegenwärtig", stellte ich fest.
Sie schüttelte den Kopf. "Nein, da irren Sie sich. Ich war wie in Trance, bin mir vorgekommen, als wäre alles nur ein Film."
"Sagt Ihnen der Name Dale Johnson etwas?"
"Nein."
"Hat Isabel ihn nie erwähnt?"
Sie überlegte kurz, schüttelte den Kopf. "Nein."
Ein Foto von Dale Johnson wurde über NYSIS in das Rechnernetzwerk des Reviers geladen und ausgedruckt. Es war zwar ein paar Jahre alt, aber es reichte, um Johnson zu identifizieren.
"Den Kerl kenne ich", sagte sie. "Er hat Isabel mal abgeholt. Ich habe sie gefragt, wer das sei, aber sie wollte es mir nicht sagen."
"Wie lange ist das her?"
"Kurz vor meiner Abreise. Das war genau vor 14 Tagen."
22
Ich kann das nicht noch einmal tun!, dachte Rob Davis.
Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Im Autoradio äußerten Hörer ihre Meinung zu dem sogenannten Klinik-Skandal. Und Ed Koch, der ehemalige Bürgermeister von New York, der jetzt als streitbarer Radiotalker tätig war, gab seine deftigen Kommentare dazu.
Davis drehte das Radio aus. Er tickte nervös auf dem Lenkrad des Lieferwagens herum, während er vor einer Ampel halten musste.
Im Grunde war es so einfach.
Er brauchte nur eine gewisse Adresse im Westen von Queens aufsuchen und zusammen mit ein paar Kerlen ungefähr ein halbes Dutzend schwere Kartons in den Laderaum des Vans zu laden.
Und dann würde er die Fracht in eine von der KIRCHE DER WAHREN HEILIGEN angemietete Wohnung bringen. Sie war gut getarnt. Ein der Kirche ergebener Strohmann hatte seinen Namen für den Mietvertrag hergegeben. Der Heilige war der Überzeugung, dass man für jenen Tag gerüstet sein müsste, an dem er und seine Anhänger von der Verfolgung durch die gottlosen Heiden bedroht wären.
Ein Tag, der nicht mehr allzu fern war, wie John Nathanael Broxon nicht müde wurde zu betonen.
Aber zunächst einmal sollte diese Wohnung in der Lower East Side als Zwischenlager für eine brisante Fracht dienen: Die stärksten Mikrowellensender, die sich derzeit auf dem Markt auftreiben ließen. Eigens für die Bedürfnisse des wahren Heiligen konstruiert.
Für Geld ließ sich alles kaufen, dachte Rob Davis.
Die Welt war schlecht, das hatte der Heilige seinen Anhängern immer wieder gepredigt. "Ihr müsst das Übel der Welt gegen das Böse selbst richten!", so hatte Rob Davis die Worte seines Herrn und Meisters in Erinnerung.
Und genau das haben wir getan!, ging es Davis durch den Kopf. Ohne Skrupel, ohne einen Gedanken an die Opfer, die das gefordert hatte. Unschuldige Patienten in verschiedenen New Yorker Kliniken.
Die meisten von ihnen haben es verdient!, versuchte Rob Davis sich einzureden. Zweifele nicht daran! Es waren Frauen, die die Absicht hatte, ungeborenes Leben zu töten!
Davis schloss für einen Moment die Augen.
Es war Mord!, sagte eine andere Stimme in ihm, die glasklar war und einen metallisch harten Klang hatte. Es war Mord, und du weißt es, Rob! Und du warst daran beteiligt! Du warst das ausführende Organ, der Killer... Wie kannst du mit dieser Schuld leben?
Und wie wirst du damit erst vor deinen Herrn treten?
Davis' Hände krampften sich um das Lenkrad des Vans, als er anfuhr.
Die Furcht vor dem allmächtigen Richter im Himmel war eine Sache. Die vor dem langen Arm John Nathanael Broxons eine andere... Seine Anhänger gehorchten im blind. Davis wusste es aus eigener Erfahrung. Der eigene Wille war bei den meisten mehr oder weniger ausgeschaltet. Das Wort Broxons war das Evangelium. Und wenn Broxon der Auffassung war, dass jemand der Sache des Guten im Wege stand, wurde der beseitigt. Für Verräter gab es keinen Platz in der KIRCHE DER WAHREN HEILIGEN. Und auch nicht für Jünger, deren Glaubensauffassungen lau geworden waren und die den rechten Einsatz für die gute Sache vermissen ließen.
Du hast ein Gewissen Rob Davis!, durchzuckte es ihn. In Wahrheit ist dir doch längst klar, dass der Heilige auf einen satanischen Abweg geraten ist...
Einen Abweg ins Dunkel, auf dem du ihm bereitwillig gefolgt bist!
Davis schluckte.
Ich muss umkehren, Buße tun.
Wie werde ich sonst vor den Herrn treten, wenn ich dereinst die Augen schließe?
Während er mit dem Van die Queensboro Bridge erreichte, dachte er an die beiden FBI-Agenten, die im Büro des Heiligen aufgetaucht waren. Wie viel mögen sie wissen?, überlegte Davis. Hatten sie bereits einige der Sender gefunden?
Special Agent Jesse Trevellian, so hatte der Name von einem der beiden gelautet.
Davis langte nach seinem Handy.
Er aktivierte das Menu mit dem Daumen und wählte die Handvermittlung.
"Bitte verbinden Sie mich mit dem FBI... Ja, ja, ich meine das Field Office New York!"
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