CORONA - Lasst sie sterben, wo sie sind.... Werner Meier
die Mitte der Gesellschaft, zeichneten ein Horrorszenario, als wären Massen von Flüchtlingen mit finsteren Absichten ins Land geströmt und jetzt alle im Untergrund am Bombenbauen. Ich war nicht naiv. Wo viele Menschen unterwegs waren, egal woher und wohin, waren zwangsläufig schlimme Finger dabei, immer und überall. Mochten manche Flüchtlingsbewegungen nutzen, um ans Ziel zu kommen. Entschlossene Kriminelle schafften das so oder so. Jeder unterbelichtete Kleinganove kam im freien Europa hin wo er wollte. Die Masse der Flüchtlinge suchte ein sicheres menschenwürdiges Leben, wollte legal arbeiten, die Familie ernähren, war nicht auf der Flucht aus der Heimat, um sich im neuen Land vor den Behörden verstecken zu müssen. Maischberger und Plasberg stellten unverblümt die Frage „Merkels Tote?“, nach der Ermordung einer Studentin durch einen Afghanen in Freiburg, und nach Anis Amri. Der Afghane mit falscher Altersangabe war nicht unkontrolliert ins Land gekommen, lebte sogar bei einer Pflegefamilie, und Anis Amri war früh als Schwerkrimineller mit Terrorabsichten enttarnt unter Beobachtung gewesen. Nicht die Kanzlerin hatte ihn an der langen Leine ungehindert durch die Republik reisen lassen und dabei schließlich aus den Augen verloren. Die Löcher klafften in der europäischen und inländischen Kommunikationsbereitschaft der Sicherheitsbehörden untereinander. Trotzdem gab es kaum einen TV-Talk, wo nicht demokratisch gewählte Undemokraten der AfD ungehemmt aufhetzen durften. Noch Hilfsbereite fanden sich auf einmal im Alltag und in den Medien als Feindbild unserer ehrenwerten Gesellschaft wieder. Die Hetzer, die Kaputtmacher, die Nörgler gaben den Ton an, machten Stimmung, bauten aus den Begriffen „gut“ und „Mensch“ ein Schimpfwort, unsere TV-Talker transportierten willig auch das und zementierten es im Bürgertum. Markus Lanz ließ gerne die „Moralkeule“ als lästig die Runde machen, als wäre Moral die Geißel der Gesellschaft. Aus Seenotrettung wurde plötzlich eine Ja- oder Nein-Frage. Ich fragte mich was es da zu diskutieren gab. Waren Menschen am Ersaufen holte man sie raus und fragte sie nicht warum sie im Wasser waren. Meinte ich. Wer sich davon moralisch belästigt und in die Ecke gedrängt fühlte, dessen Problem war nicht ich, der hatte ein substanzielles. Dachte ich. Hochintellektuelle Politwissenschaftler schwadronierten Moral und Empathie hätten in Politik nichts zu suchen. Ich fragte mich wo denn sonst. Wenn unsere gewählten Volksvertreter sich offiziell von Moral und Empathie verabschiedeten, wieso sollte Volk sie noch hochhalten? Vor jeder Fernsehkamera machten Vertreter aller demokratischen Parteien sich penetrant Sorgen um die Wähler der Volksverhetzer, pamperten die weiter hartnäckig als „Protestwähler“, um sie zurückzuholen. Für mich fatale Signale an die bundesweit noch fast 90 Prozent Nicht-AfD-Wähler. Dass Aufmerksamkeit und politische Fürsorge der demokratischen Parteien primär denen galten, die AfD wählten. Von mir aus konnten die bleiben wo sie waren, ohne Solidarität der Gesellschaft, aus der sie sich mit der AfD verabschiedet hatten. Aber statt geächtet fühlten Nazimitläufer und Hassschreier sich immer mehr aufgefordert. Seit dem NSU war ich weiter entfernt denn je, rechtsradikale Typen für nur Spinner am Rand zu halten. Unser Webdesigner Fritz hatte mir die Augen noch erschreckend weiter geöffnet. Die Szene war inzwischen weltweit bestens im Netz organisiert und hochgradig gewaltbereit, schaukelte sich mit ihren Verschwörungstheorien in ihren Hassblasen hoch. Schuld an allem waren die Juden, an der Weltverschwörung gegen die weiße Rasse, am Feminismus, der weiße Frauen immer weniger Kinder gebären ließ, was wiederum zur rasanten Überbevölkerung minderwertiger Rassen führte und zur Umvolkung ganzer stolzer Nationen wie Deutschland. Ihre Hassblasen waren für jedermann zugänglich. Man musste in Suchmaschinen nur mit völkischen Begriffen spielen. Der Schwachsinn fand Zulauf.
„Teufel, der braune Sumpf blubbert längst in die Mitte unserer Gesellschaft. Auf die nächsten Morde a la NSU und noch schlimmere können wir warten, die kommen so sicher wie das Amen in der Kirche.“
Hatte Fritz mir prophezeit. Dann passierte Christchurch. Weit weg in Neuseeland, beruhigten sich viele, und sogar nach dem Mord an Lübcke mitten unter uns immer noch mit einem rechtsradikalen Einzeltäter. Dann passierten Halle und Hanau. Unsere beiden selbsternannten Christparteien vergaßen, dass sie das Wuchern des Unkrauts mit gedüngt hatten. Flugs stellten sie die Pilatusbecken auf und wuschen ihre Hände in Unschuld.
Meine Tante Martha war auf ihrem alten Gaul Moses als Heiligbrücks Gespensterfrau nur mit weißem Nachthemd bekleidet vors Rathaus geritten, hatte durch ein Megafon lautstark das Böse dort drinnen geflucht. Max-Josef Bärlochhauser. Den Sie einen gewissenlosen Hetzer schimpfte, dem man das große C im Namen seiner Partei um die Ohren hauen sollte. Eine Polizeistreife hatte sie vom Ross geholt und Tantchen zwei Stunden in der PD verbringen müssen. Seit er sie bis vors Rathaus getragen hatte war auch der alte Warauchmalhengst eine lokale Berühmtheit. Inzwischen war Moses in den Pferdehimmel getrabt. Ich war froh, dass Tantchen nicht auf einem Besen vors Rathaus geritten war. Als eine der drei Oberhexen von Heiligbrück. Ich hatte ich sie damit aufgezogen.
„Du tanzt also mit deinen Hexenschwestern im Mondlicht und Morgentau nackert über feuchte Wiesen, reißt Unkraut aus und murmelst Beschwörungsformeln.“
„Neffe, bremse deine Fantasien. Wir reißen kein Unkraut aus, wir murmeln keine Beschwörungsformeln und tanzen nicht nackt übers feuchte Gras, weder im Mondlicht noch im Morgentau. Jedenfalls nicht miteinander.“
Ein Bußgeld von 800 Euro wegen Störung der öffentlichen Ordnung war Tantchens Ritt hinterhergekommen. Die sie an eine gemeinnützige Organisation überweisen durfte, weswegen sie die Buße klaglos hingenommen hatte und das Geld an Unicef überwiesen. Bärlochhauser hatte sie als „Heiligbrücks verrückte alte Hexe“ bezeichnet und der Kasperl das fett in einer Schlagzeile verbraten. Wäre ich noch bei der Zeitung gewesen, hätte ich spätestens da den Watschenbaum auf den Kasperl fallen lassen. Aber das hatte ich bereits erledigt. Nachdem er sich frisch zum Redaktionsleiter berufen in einer Konferenz dazu herausgefordert gefühlt hatte, vor allen anderen meine Sippe zu verunglimpfen.
„Es ist kein Geheimnis, wie Sie zu unserem Oberbürgermeister stehen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm Ihrer linksradikalen Tante.“
Oha.
„Es ist auch kein Geheimnis, dass Sie der Kasperl im Arschloch vom Oberbürgermeister sind. Und meine linksradikale Tante ist sechsundsiebzig, mischt Teekräuter und kocht Marmelad ein. Wie kriegens das hin, dass Ihr Darm sich durchs Maul entleert?“
„Zum Chef, sofort!“
Hatte mich Chefsekretärin Rosel Ranzinger zwei Minuten danach per Telefon barsch aufgefordert und mich oben wortlos durch die offene Tür gewinkt, wo der Kasper mir meine Kündigung ansagte. Worauf ich ihm die Füße vom Schreibtisch gewischt hatte. Worauf mir sein Gesicht entgegengekommen war. Eine Einladung, die ich nicht hatte ausschlagen können. Eine Verkettung glücklicher Umstände. Ich hatte ihm eine aufgestrichen, die Ranzinger als Zeugin in der offenen Tür gestanden, ich beim Rausgehen einen Zwischenstopp vor ihr eingelegt.
„Sie sollten an Ihrem Charme arbeiten, bevor Sie Leute hochzitieren.“
Eine Minute später ließ der Kasperl mich per Telefon von ihr auffordern, umgehend das Haus zu verlassen. Zwei Tage danach folgte mir per Einschreiben die fristlose Kündigung durch die Verlegerin persönlich, und ein Richter verdonnerte mich zu 40 Tagessätzen plus Aggressionstherapie.
Ja, ich fuhr argwöhnisch durch die Stadt.
The Moody Blues schmolzen jetzt aus meinem Autoradio.
„Nights in white satin, never reaching the end..."
Der Flachleger aus meinen glorreichen Zeiten spülte jetzt bloß eine Heiligbrückdepression in mir hoch.
„Hübsch hässlich habt ihr´s hier.“
War mir nach meinem Umzug Rühmanns alter running Gag als Pater Brown eingefallen. Keine großen Seen, oder Berge verkitschten Heiligbrück und sein ödes Umland zur Postkartenlandschaft. Die weltumarmenden Willkommensplakate des Fremdenverkehrsamts hatten auf mich eher trotzig aufgestellt gewirkt. Das Elend war von den Stadtgranden jedenfalls nicht gemeint gewesen, aber im Frühjahr 2016 auf einmal da und kratzte den Lack von der krachledernen Idylle. Plötzlich brachte der Ausländer nicht mehr bloß sein Geld, oder im Wirtshaus das Bier an den Tisch. Und von weit unten an der Basis durften Eingeborene plötzlich ins Fernsehen.
Hoppala, hatte ich gedacht, Pegida im Trachtenlook.
Mit