Eine ganze Welt. Goldie Goldbloom
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Goldie Goldbloom
Eine ganze Welt
Roman
Aus dem Englischen von Anette Grube
Hoffmann und Campe
Für meinen Sohn Yuda,
der später kam und mit seiner Musik
dieses Buch möglich machte.
Und Gott sprach zu Abraham: »Du sollst dein Weib Sarai
nicht mehr Sarai heißen, sondern Sara soll ihr Name sein.
Denn ich will sie segnen, und auch von ihr will ich dir einen
Sohn geben; denn ich will sie segnen, und Völker sollen aus ihr
werden und Könige über viele Völker.
Da fiel Abraham auf sein Angesicht und lachte, und sprach in
seinem Herzen: Soll mir, hundert Jahre alt, ein Kind geboren
werden, und Sara, neunzig Jahre alt, gebären?«
Die Hebamme sagte zu der chassidischen Frau: »Der Entbindungstermin ist der 13. Juli. Ist das nicht aufregend?«
Surie zögerte. »Nein«, sagte sie. »Ich habe mich darauf gefreut, endlich ein bisschen Zeit für mich zu haben.«
»Haben Sie nicht schon Enkelkinder? Sie müssen sowieso viel zu tun haben. Was macht in einer Familie wie Ihrer schon ein Kind mehr aus?«
Surie antwortete leise, dass ein einziges Kind eine ganze Welt sei.
1
Nach dem Termin saß Surie an der Haltestelle des Bikur-cholim-Busses, starrte auf den Strom von Menschen, die in das Krankenhaus in Manhattan gingen oder es verließen, und versuchte, nicht zu weinen. Es war später Freitagnachmittag, der Tag nach der katastrophalen Hochzeit ihrer Tochter. Menschen in Laborkitteln, schlanke Sekretärinnen mit Aktenmappen, Mütter in Leggings und durchsichtigen Oberteilen mit Pferdeschwänzen, die über ihren Rücken schwangen – sie alle eilten ihrem Wochenende entgegen. Auf der anderen Straßenseite stand sogar ein junger chassidischer Mann, der aussah wie ihr Sohn Lipa, und starrte sie unverhohlen an. So viel zur Privatsphäre! Hinter ihm ragte das Krankenhaus auf, ein Turm aus Glas und Stahl, und roch auch noch aus der Entfernung nach Desinfektionsmittel.
»Sie hören Unterm Strich.« Ein Taxi, aus dem lautstark Nachrichten plärrten, hielt vor ihr und blockierte die Sicht auf den jungen Mann. Sie hörte nie Radio. Die Ansager sprachen Englisch und noch dazu viel zu schnell, als dass sie hätte folgen können. Aus unerfindlichem Grund bewahrte ihr Mann Yidel ein kaputtes Radio aus den fünfziger Jahren im Keller auf, schraubte es hin und wieder auf und bastelte an den Röhren herum.
Yidel liebte Wortspiele und Rätsel und die alten Witze auf dem Einwickelpapier der Süßigkeiten, die die Kinder gern aßen. Abends sang er unter der Dusche, bevor er ins Bett ging, obwohl chassidische Männer im Bad möglichst keinen Laut von sich geben. Ein Regelverstoß, aber ein kleiner. Er liebte es, Feuer im Hinterhof zu machen und morsche Äste in die Flammen zu werfen. Er liebte es, die Kontrolle zu übernehmen, Lösungen zu finden, das Richtige zu tun. Das konnte ein bisschen nervig sein, war aber insgesamt nicht schlecht. Er liebte es, im Kreis seiner ganzen Familie auf dem Bett zu sitzen und im Halbdunkel Geschichten zu erzählen. Er hatte alle seine Söhne geliebt. Alle. Und obwohl sie eine verbrauchte, siebenundfünfzigjährige Frau war, hatte er nicht aufgehört, auch sie zu lieben. Aber würde er sie noch lieben, nachdem er es erfahren hätte? Oder würde etwas in ihm zuschnappen wie eine Mausefalle?
Sie kramte in ihrer Tasche nach ihrem Gebetbuch. Während der letzten vier Jahre hatte ihr Mund die Worte der Psalmen sagen müssen, wie andere Münder Kaugummi kauen müssen. Doch da war kein Buch. In ihrer Tasche war nichts außer einer Brille mit grüner Fassung, ein Merkblatt zu Schwangerschaften, ein Zettel mit dem nächsten Krankenhaustermin, denn offensichtlich war dieses Mal eine Hausgeburt keine Option, eine Dose mit Schwangerschaftsvitaminen und eine Gratiswegwerfwindel. Zuvor waren jedes Mal Freudenbläschen in ihr hochgesprudelt, nach Baby duftendes Seltzer des Glücks. Sie hatte jedes ihrer Kinder so sehr gewollt, dass es an Wahnsinn grenzte, sobald sie wusste, dass sie schwanger war. Aber jetzt war es anders. Sie war zu alt. Einen Arzttermin für den Tag nach der Hochzeit zu vereinbaren, war eine Einladung an den bösen Blick gewesen!
Gestern Nacht war Yidel, der ärgerlich gutgelaunte Yidel, blind gewesen für alle Enttäuschungen der Hochzeit. »Es ist so schön, die ganze Familie herausgeputzt an einem Ort zu sehen«, hatte er hinten im Taxi auf der Heimfahrt vom Hochzeitssaal gesagt. »So ein gutaussehender Haufen! So ein Nachess!«
»Die Mutter des Bräutigams«, erwiderte Surie aufgebracht, »hat eine Perücke ohne Kopftuch getragen. Warum haben wir nicht gewusst, dass sie so eine Frau ist? Dass sie so eine Familie sind?« Es war nach drei Uhr morgens. Ihre unschuldige Tochter war irgendwo mit einem Jungen, der sich die Schläfenlocken schnitt, einem Jungen, der zu seiner eigenen Hochzeit eine lange Hose trug statt der würdevollen dreiviertellangen Hose und schwarze Socken statt weißer Kniestrümpfe. Sein billiger Schtrajml – gefärbte Eichkätzchenschwänze wahrscheinlich! – saß ihm auf dem Hinterkopf, als wollte er ihn nie wieder tragen, und tropfte vor Modernität. Alle im Kaboless-ponim-Saal hatten gesehen, wie dieses Spektakel auf ihr wunderschönes Kind zuging, und die Nase gerümpft. Suries Freundinnen hatten ihr verstohlen Blicke zugeworfen, um zu sehen, wie die ehemalige Königin ihres Kreises diese proletenhafte Partie für ihre Tochter verkraftete. Zehn Minuten nach Beginn des Tanzens hatte sogar ihre beste Freundin etwas gemurmelt, das Surie nicht verstanden hatte, und war davongeschlichen. Egal. Sie kannte den wahren Grund.
Als das Gesicht der Braut wie üblich feierlich verschleiert wurde, grinste der Junge ihre Tochter ohne jeglichen Anstand an. Nach der Chupe hatte er die Hand seiner Frau nicht schüchtern gehalten, er hatte sie vergnügt schmunzelnd an sich gerissen. Das Gesicht ihr Tochter war puterrot angelaufen, Suries ebenfalls. Und die Gesichter ihrer Freundinnen. Wer wusste, was in ihrem Hotelzimmer vor sich ging? Sie wollte die Augen schließen und sie lange, lange Zeit nicht mehr öffnen.
Yidel tätschelte den Ärmel ihres perlenbesetzten schwarzen Gewands. »Unsere Tochter ist zweiundzwanzig«, sagte er. »Sie war fast schon eine alte Jungfer. Wir sollten dankbar sein. Und es sind nette Leute. Wirklich. Der Junge hat einen guten Job und verkauft Elektronik.«
»Du hast es gewusst?«
»Wir sind keine perfekte Familie mehr, Surie. Die Leute reden.«
»Was?«, fragte sie. Ihr war heiß, sie war durcheinander, ihr gepudertes Gesicht wurde zum zwanzigsten Mal in dieser Nacht rot. »Worüber reden sie?« Aber natürlich wusste sie es. Hinter vorgehaltener Hand klatschte die Gemeinde über Lipa, ihr sechstes Kind, das vier Jahre zuvor gestorben war. Infolgedessen musste sich ihre kleine Perle, ihr siebtes Kind, mit einem Mann und einer neuen Familie weit unter ihrem Stand zufriedengeben oder riskieren, unverheiratet zu bleiben.
Früher an diesem schrecklichen Freitag nach der Hochzeit – würde sie sich die Terminwahl jemals verzeihen? – hatte ihr die Hebamme eine Handvoll Broschüren gegeben und gesagt: »Nehmen Sie jeden Morgen und jeden Abend die Vitamine. Sie brauchen Folsäure.«
»Was ist Folsäure?«, hatte sie gefragt und die Sätze der Hebamme im Kopf, der noch immer voll von der Hochzeit war, langsam ins Jiddische übersetzt. »Was ist ein Neuralrohr?«
»Neuralrohrdefekt«, murmelte Surie auf Englisch, bevor sie ihre Tasche erneut öffnete und die Flasche auf den Asphalt stellte. Die Vitamine waren nicht koscher. Sie müsste sich Vitamine in einer Apotheke außerhalb der Gemeinde kaufen. Sie würden ihr Kopftuch anstarren, ihre Kleidung, über ihren Akzent kichern, aber zumindest würden sie keine Klatschgeschichten verbreiten.
Die Hebamme, Val, hatte Suries zehn Babys auf die Welt geholfen. Aber Val war kinderlos; trotz all ihres Geschicks konnte sie nicht wissen, wie es sich anfühlte. Sie konnte nicht wissen, wie es war, jahrelang an einen kleinen, fordernden Körper gebunden zu sein. Die Last zu spüren, jemanden am Leben zu erhalten. All die harten Jahre, sie großzuziehen,