Eine ganze Welt. Goldie Goldbloom
hatte die Hebamme plötzlich seltsam dreingeblickt. Ein blitzendes Licht wie die Sonne über dem dunklen Fluss, ein Glanz, aber nur kurz. Was hatte Val von Surie erwartet? Freudentränen? Lächeln? Surie war uralt. Von dem Augenblick an, als sie die ersten Anzeichen bemerkte, hatte sie zuinnerst gewusst, was sie bedeuteten. Trotz ihrer Scham hatte sie sich fast damit abgefunden, bis Val sagte, dass es Zwillinge seien. Zwillinge! Seit dem Brustkrebs waren ihre Armmuskeln so steif, dass sie morgens kaum ihre Strickjacke anziehen konnte. Wie sollte sie zwei Babys hochheben? Während Surie schluchzte, schaute die Hebamme weg und sagte etwas von Glukosestresstests und mehrfachgebärenden Frauen. Die Wörter waren ihr nicht bekannt. Im Jiddischen gab es keine Wörter für Neuralröhren und Stresstests und intime Stellen. Es gab kein jiddisches Wort für bitte, deswegen sagte sie es auf Englisch.
»Bitte«, bat sie niemanden. »Bitte.«
Die Hebamme neigte sich vor, wollte eine beruhigende Hand auflegen, doch sie spürte eine Kälte, eine Zurückweisung, noch bevor sie sie ausstreckte, und ratterte stattdessen Wörter über Suries ärgerlichen Körper herunter: Kondom. Interruptus. Rhythmus. Spirale. Die Pille. Sie sind für Ihre Fruchtbarkeit selbst verantwortlich. Val hatte vor langem schon Frieden geschlossen mit diesem okkulten Wissen. Sie war in einer gläubigen katholischen Familie aufgewachsen, hatte ihren Glauben jedoch vierzig Jahre zuvor zurückgelassen, als sie anfing, als Hebamme zu arbeiten. Glaube war keine Entschuldigung für Unwissen. Das war ihr einziger fester Glaube.
Surie war ihre eigene Fruchtbarkeit nicht fremd. Jeden Morgen kontrollierte sie ihre Menstruationstabelle, obwohl sie seit über zehn Jahren nicht mehr blutete. Sie war hocherfreut gewesen, als die Chemotherapie sie direkt in die Menopause katapultierte. Erst nach vielen krebsfreien Jahren wähnte sie sich auf der sicheren Seite und hörte auf, das Tamoxifen zu nehmen. Vielleicht hatte sich ihr Körper so sehr darüber gefreut, das Medikament los zu sein, dass er zurückgekehrt war zu was immer das Gegenteil von Menopause war? Vielleicht war sie deshalb schwanger geworden? Doch Val sagte, dass das Tamoxifen kein Verhütungsmittel war. Für Surie lag es auf der Hand, dass sich die Hebamme täuschte.
Val war älter als Surie. Obwohl sie dünn wie eine Bohnenstange war, schwabbelten Hautfalten unter ihrem Kinn. Sie redete, bis sich weiße Flecken in ihren Mundwinkeln bildeten, und dann entfernte sie den Speichel mit Fingerspitzen, die in blauen Einweghandschuhen steckten. Surie konnte sich nicht erinnern, dass die Frau überhaupt etwas gesagt hatte, als sie die anderen Babys auf die Welt holte. Ihr Eindruck war gewesen, dass die Hebamme damals ein bisschen Angst vor ihr gehabt hatte. Aber jetzt plapperte sie immer weiter. Erinnern Sie sich, wie Sie das letzte Mal geblutet haben? Sie laufen Gefahr zu verbluten. Ich spreche mit Ihnen. Würden Sie bitte zuhören? Putzen Sie sich die Nase. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt zusammenzubrechen. Wissen Sie, was verbluten bedeutet? Blutverlust mit Todesfolge. Das Geplapper der Hebamme musste von irgendjemandem irgendwo genehmigt worden sein.
»Ihr Mann wird so überrascht sein, wenn Sie es ihm sagen!«
Normalerweise erzählte Surie Yidel alles. Doch nach zwei Monaten hatte sie den Mund seltsamerweise noch immer nicht aufgemacht, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass sie wieder Eltern würden. Warum hatte sie so viel Zeit vergehen lassen? Die ersten paar Wochen hatte sie nicht gewusst, dass sie schwanger war. Als sie es merkte, empfand sie die Schwangerschaft wie einen schlechten Traum, wie etwas, das einfach nicht möglich war. Später waren da dieses Flimmern am Rand ihres Sichtfelds gewesen, Gesichter, die es nicht geben konnte, der Geruch von frisch umgegrabener Erde, Minze und Äpfeln. Der Wahnsinn des Alters, hatte sie gedacht. Ein Wunder, dass sie überhaupt einen Termin vereinbart hatte. Und bei der Hochzeit hatte sie getanzt, als wäre sie eine gewöhnliche Großmutter, nicht eine schwangere Frau. Obwohl sie natürlich nicht gewusst hatte, dass sie Zwillinge erwartete.
»Wenn nötig, nehmen Sie sich von der Arbeit frei. Arbeiten Sie? Trinken Sie keinen Wein.« Zu spät. Sie hatte auf der Hochzeit mehrere Gläser geschluckt, um ihr Entsetzen zu beruhigen. Val roch wahrscheinlich den Alkohol in ihrem Atem. »Das kann bekanntermaßen ein fetales Alkoholsyndrom verursachen.«
Val sagte es, als wäre Surie irgendwann einmal mit fetalem Alkoholsyndrom vertraut gewesen. Als hätte sie davon hören sollen. Na ja, wahrscheinlich hatte sie das, aber sie erinnerte sich nicht. Sie war keine böse Frau, Val. Jedes Mal, wenn Surie sich an etwas nicht erinnerte, ging die Hebamme los und kam mit einer anderen Broschüre zurück, die sie ihr in die Hand drückte. Jedes Mal klopfte ihr Val auf die Schulter, als wollte sie sagen, dass alles in Ordnung sei. In Suries knarzendem Alter Zwillinge zu erwarten konnte nie und nimmer in Ordnung sein.
»Kaffee führt zu vorzeitigen Wehen, ein großes Risiko bei geriatrischen Schwangerschaften«, fügte sie hinzu.
Geriatrisch. Dieses Wort … bedeutete es alte Leute? Wollte Val damit sagen, dass Surie in einem Pflegeheim sein sollte und nicht auf einer Geburtsstation?
»Wenn Sie diese Babys in Ihrem Alter nicht austragen wollen, müssen Sie nicht.« Val senkte die Stimme, kam näher. »Die meisten älteren Mütter haben eine Fehlgeburt. Wenn Sie wollen, spreche ich mit dem Arzt über eine Abtreibung.«
Surie wollte sich übergeben. Ihr Mund lief voll mit Speichel. Ihre Kehle brannte. Sie schüttelte den Kopf. So abscheuliche und verbotene Worte. Gott bewahre! Chass vescholom! Abtreibung.
Ein langes silbernes Messer in der Hand der Hebamme, ein schauerlicher Schrei, überall Blut. Leises Flüstern hinter geschlossenen Türen, ihre drei Söhne, die noch zu Hause wohnten, deuteten mit dem Finger, eine Eiseskälte in den wenigen Freundschaften, die Lipa überlebt hatten. Eine steinerne Mauer, die sie vom göttlichen Licht abschnitt. Was hatte sie über Abtreibungen tuscheln gehört? Es war ganz und gar schlecht, so viel war gewiss. Nur andere Menschen töteten Babys. Nur Gojim glaubten, dass Föten nicht wirklich lebten.
Am nächsten Morgen, Samstag, spülte sie das ganze Geschirr von dem extravaganten Abendessen des Vortags, das ihre verheirateten Kinder für die Braut zubereitet hatten. Suries Haut kribbelte bei dem Gedanken, wie ihre Tochter den obszönen Bräutigam angelächelt hatte, als würde sie ihn mögen, als hätte sie sich selbst auch für ihn entschieden, als wäre er wie ihre heiligen Brüder. Wie konnte ihre Tochter nur glauben, dass Surie so einen Mann für sie gewählt hätte, wenn sie bessere Optionen gehabt hätte? Ihre schönen unschuldigen Enkelinnen legten sich abwechselnd auf die Couch und massierten sich gegenseitig, beschwerten sich, dass sie nicht die vollen fünf Minuten bekämen, stöhnten unter dem Druck einer Hand zwischen ihren Schulterblättern, ahnten nichts von der Tragödie, die über ihre Familie hereingebrochen war, die bald auch über sie hereinbrechen würde! Auch ihre Heiratschancen würden sich verschlechtern.
Suries Mund verlangte nach Kaffee und einem großen Stück Schokoladenkuchen. Durfte sie? Ihr drehte sich der Magen um, wenn sie einen Schokoriegel nur sah, doch seltsamerweise gelüstete es sie nach Schokoladenkuchen. Erst ein Tag war vergangen, und schon konnte sie sich nicht mehr an die Ratschläge der Hebamme erinnern. Vielleicht litt sie, abgesehen von der Schwangerschaft, auch an einer frühen Form von Alzheimer? Val sprach zu schnell. Eine Jiddisch-Dolmetscherin wäre hilfreich gewesen, aber Surie hätte sich geschämt, vor jemandem aus ihrer eigenen Gemeinde zu weinen. Und nicht nur das … Sie sah vor sich, wie die Dolmetscherin die Jahre seit Suries letzter Niederkunft zusammengezählt – dreizehn! – und ihr einen überraschten und ungläubigen Blick zugeworfen hätte. Der Ojberschte weiß, was er tut. Der Ojberschte wird dir Kraft geben. Kein böser Blick, Liebes. Deine Babys werden dich jung halten. Es ist Baschert. Aber insgeheim würde die Frau denken, dass Suries Kinder an der Reihe waren, Babys großzuziehen, nicht Surie. Sie würde überlegen, wem sie diese verrückte Neuigkeit als Erstes erzählen konnte.
Eine Geburt würde öffentlich bekanntmachen, dass sie und Yidel sich lange über das normale Alter des Kinderkriegens hinaus noch begehrenswert fanden. Keine gleichaltrige Frau war im letzten Jahrzehnt schwanger gewesen. Die Mädchen, mit denen sie aufgewachsen war, ihre Freundinnen, sprachen nie über ihr Liebesleben. Die Annahme lag nahe, dass sie ihre Männer nicht mehr anschauten, dass sie in den jungfräulichen Zustand ihrer Jugend zurückgekehrt waren. Diese Mädchen, die sie noch in Schuluniformen und mit Zöpfen vor sich sah, waren jetzt Großmütter, eine sogar Urgroßmutter. Sie würden über die Logistik ihrer Schwangerschaft nachdenken.