Eine ganze Welt. Goldie Goldbloom

Eine ganze Welt - Goldie Goldbloom


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ein Baby – zwei Babys! – mit Downsyndrom oder einem anderen, vom Alter verursachten Unheil. Und da war sie, siebenundfünfzig, Großmutter von zweiunddreißig Enkelkindern, und immer noch mit dabei. Die Frauen aus der Gemeinde würden Masl-tow sagen, aber insgeheim würden sie ihretwegen, des sexbesessenen Flittchens wegen erröten. Nach Lipas Tod und Gittys Heirat noch diese befremdliche Neuigkeit … Ihre armen Enkelinnen! Sie würden dem neuen Status der Familie nie entkommen können, gleichgültig, wie tadellos sie oder ihre Mütter sich verhielten.

      Surie lehnte sich an die Spüle und schauderte. Im kalten Spülwasser trieben ein paar Nudeln. Es war abstoßend. Wieder stieg ihr die morgendliche Übelkeit in die Kehle. Mit den Zwillingen war sie viel schlimmer dran als mit den Einzelexemplaren. Wegen ihres Umfangs, weil ihr Bauch nach vorn anschwoll und an den Seiten überquoll und weil er hart, nicht weich war, bekam sie die Hähne über der Spüle kaum mehr zu fassen. Sie streckte sich, drehte den Hahn zu, wandte sich um und ging hinaus auf die Feuerleiter in die kühle Brise, die vom Fluss wehte.

      Sie machte vorsichtige Schritte, weil sie aufgrund des zusätzlichen Gewichts leicht aus dem Gleichgewicht geriet. Sie stand auf dem rostigen Eisengitter. Das Geländer war locker. Es ginge nicht an, drei Stockwerke tief hinunter auf die Straße zu fallen und zu platzen wie eine überreife Melone. Feldwespen hatten unter dem Giebel Nester gebaut, und obwohl es schon Anfang Dezember und kalt war, fielen sie benommen eine nach der anderen ungeschickt heraus. Sie breiteten die Flügel aus, rührten sich jedoch nicht. Welkendes Bischofskraut und schwarze Goldruten standen hinter dem Haus und auf dem leeren Grundstück daneben. Wenn der Wind blies, klang das Rascheln des Espenlaubs wie Regen.

      Yidel war über ihr, auf dem flachen Teil des Dachs ging er zwischen den auf Rahmen gespannten Häuten hin und her, die in der Sonne trockneten. Er durfte die Häute am Schabbes nicht anfassen, aber er betrachtete sie gern, wenn er aus der Synagoge zurückkam. Er war ein Sofer, ein Schreiber. Er rief sie.

      »Guten Schabbes, kleine Frau!«

      Die Schwangerschaft, die von den ersten Tagen an zu sehen gewesen war (sie hatte es für das Fett der Wechseljahre gehalten), stand wie ein fester Ball zwischen ihren Hüften hervor und drückte gegen ihre Oberschenkel, während sie auf einer Stufe saß, den Rücken im Wind. Sie war gewaltig. Es war beleidigend, wirklich, dass ihre Familie glaubte, all das Fleisch sei allein ihres. Yidel rief noch einmal, drängte sie, die letzte wacklige Treppe zu ihm aufs Dach zu steigen.

      »Ich bin zu dick«, schrie sie. Ein Chasside, der unten auf der Straße vorbeiging, schaute hinauf, schirmte die Augen mit der Hand ab, um besser sehen zu können, und hastete dann davon.

      »Sie müssen jede Woche in die Klinik kommen, damit wir Sie im Auge behalten können. Sie brauchen nicht so entsetzt zu schauen. Das ist kein Todesurteil. Sie wissen doch, dass ich Ihnen keine Angst machen will«, hatte die Hebamme gesagt. »Bin ich nicht eine angenehme Gesprächspartnerin? Gemeinsam werden wir viel über diese Babys erfahren.« Val hatte Surie unbeholfen die Schulter getätschelt, als wäre sie ein kleines Kind. Surie hätte sie am liebsten gebissen.

      So ein Klischee! Val, eine Absolventin des Friedenskorps mit Sandalen an den Füßen, ohne Make-up, schlaksig, mit großer Nase. Eine eingefleischte alte Jungfer, wenn auch nur, weil sie zuinnerst hochgradig schüchtern war. Sie war die einzige Hebamme, die bereit gewesen war, in den Slums von Williamsburg mit Frauen zu arbeiten, die kein Englisch sprachen und jedes Jahr ein Kind bekamen. Val – einsam, idealistisch, bereit, alle zu lieben und ihr Leben zu verbessern – wollte, dass alle Mütter über ihre lustigen T-Shirts und ihr grell orange gefärbtes Haar lachten, aber die Chassidinnen wussten bei ihrem Anblick nicht, wo sie hinschauen sollten.

      »Du bist nicht dick!« Yidel neigte sich über das Geländer, lächelte ihr zu und winkte. In der Ehelotterie hatte sie den ersten Preis gewonnen. Vor der Schwangerschaft hatte sie 119 Kilo auf die Waage gebracht. »Und wenn du es wärst, verdoppelst du den Wert meines Geldes. Komm rauf!«

      Er wäre nicht so gutgelaunt, wenn er wüsste, dass ihm zwei weitere Ausbildungen, zwei weitere Hochzeiten bevorstanden, gerade, als er sich auf den Ruhestand vorbereitete. Sie hatten gehofft, dass das Getuschel über ihre Familie verstummen würde. Der doppelte finanzielle Aufwand, die doppelte Schande. Nicht der doppelte Wert seines Geldes.

      Nahezu zwanzig Jahre lang hatte er ihre beiden ältesten Söhne, Usher und Eluzer, zu Kalligraphen ausgebildet, die genauso pedantisch waren wie er selbst. Klei kodesch, heilige Gefäße waren die Jungen, beide ordinierte Rabbis und Schreiber. Er hatte alle seine Klienten ihnen übergeben. Heute war Yidel ein Spezialist. Er verfasste keine Mesusa, Megile, Eheverträge und Scheidungsverfügungen mehr. Er schrieb nur noch neue Thorarollen auf besonderen Wunsch des Rebbe. Für eine einzige Rolle brauchte er ein Jahr, wenn er von neun bis Mittag schrieb, montags bis freitags, mit einer handgespitzten Feder. Jeden Nachmittag schmirgelte er die aufgespannten Häute ungeborener Kälber, bis sie glatt und durchsichtig waren, schnitt sie zu, zog Linien auf das Pergament, nähte die Blätter mit getrockneten Sehnen zusammen. Er schnitzte die Holzstäbe, schnitt die Federkiele zu, mischte seine eigene jettschwarze Tinte. Ihr Keller war voller Rahmen mit getrockneten Häuten. Es roch nach faulendem Fleisch und Kalk, nasser Eiche und verbrannten Haaren. Den Geruch bemerkten Gäste als Erstes, wenn sie ihr Haus betraten. Surie roch ihn drei Stockwerke weiter oben, auf der Feuerleiter, bei starkem Wind. Doch in den letzten vier Jahren hatte Yidel nur zwei Rollen geschrieben. Jetzt vergingen Wochen, ohne dass er mit neuen Häuten nach Hause kam. Die Häute auf dem Dach waren die letzten, die er spannte. Er hatte ihr mit Freude in der Stimme erzählt, dass er an seinem Geburtstag in den Ruhestand treten wolle. Sechs Tage vor dem Entbindungstermin.

      »Rebezn Eckstein!«, rief er, legte die Hand aufs Geländer, stellte den Fuß auf die erste Stufe hinunter zu ihr. Nur sehr wenige nannten sie Rebezn, obwohl sie mit einem Rabbi verheiratet war. Es war sein kleiner Scherz.

      »Komm nicht runter!«, sagte sie, schüttelte den Kopf und wich zurück. »Ich habe viel zu tun.« Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, Zeit, sich zu überlegen, wie sie es ihm sagen sollte.

      Surie war sich nicht länger sicher, was den Lichtblitz betraf, den sie in den Augen der Hebamme gesehen hatte. Gestern hatte sie gehofft, dass es Bewunderung war. Die altmodischen Juden, die in Williamsburg lebten und der Hebamme ihr Auskommen sicherten, waren ein Volk, das nie der säkularen Welt angehört hatte. Sie lebten, wie sie immer gelebt hatten. Sie spannten Häute in ihren Kellern und stellten sie zum Trocknen in die Sonne, so wie sie es in Europa getan hatten. Sie lasen Bücher über Gesetze und Ethik und Geschichte, die zweitausend Jahre alt waren. Sie kleideten sich im Stil der vierziger und fünfziger Jahre und verehrten die Alten, die nie ein Wort Englisch gelesen hatten. Die Männer studierten ihr Leben lang das Wort Gottes, und statt breit und stämmig zu werden, wurden sie schlank und flink, und in ihren Augen brannte das helle Licht scharfer Intelligenz. Die Frauen zogen wunderbare Familien groß, glorreiche Familien mit Hunderten Enkeln und Tausenden Urenkeln. Als sie Surie die frohe Botschaft mitteilte, hatte die Hebamme die Zwillinge doch sicherlich für ein Wunder und Surie für eine heilige Frau gehalten? Das Aufblitzen in Vals Augen war doch bestimmt Respekt gewesen? Wäre es Mitleid gewesen, bräche sie womöglich zusammen.

      Sie ging ins Haus, ließ das Wasser in der Spüle ablaufen, nahm ihre feuchte Schürze ab und zog ihren Schabbes-Ponzhelo an. Dann nahm sie die grün gefasste Brille aus der Schürzentasche und steckte sie in das neue Gewand. Der Saum des Hauskleids roch nach Erbrochenem vom Vorabend, aber gewaschen werden durfte erst nach Einbruch der Dunkelheit. Surie verschloss ihre Nase vor den Gerüchen aus dem Schmortopf und vom Blech. Chulent. Kigel. Fette Suppe. Abends müsste sie sich wieder herausputzen und zur riesigen Schewa brachot ihrer Tochter gehen. Sie würde ein Lächeln, starr wie ein Hüftgürtel, im Gesicht tragen. Die große Uhr im Wohnzimmer schlug zwölf Mal. Sie goss sich eine Tasse Kaffee ein, doch ihr drehte sich der Magen um. Sie schlich ins Bad und verschloss die Tür.

      »Alles in Ordnung?« Yidel wartete vor der Badezimmertür wie fast alle Tage, seitdem sie verheiratet waren. Er war zweiundsechzig, fünf Jahre älter als sie. Als geachteter Rabbi trug er lange weiße Socken und einen seidenen Mantel, einen Bekische, der über seine knielange Hose hinunterreichte; sein grauer Bart traf auf den dritten Knopf seines Hemds; sein Schtrajml aus Pelz, echter Zobel, lag auf einem Stuhl wie eine eingerollte Katze. Unter dem


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