Eine ganze Welt. Goldie Goldbloom
Arbeit an den heiligen Rollen hatte sich seinem Körper eingeschrieben. Seine Schultern waren rund, seine Hüften schmerzten, die tintenfleckigen Finger waren von Arthritis gekrümmt. Er hatte Krampfadern und einen Bauch vom stundenlangen Sitzen. Aber die Arbeit hatte ihn auch auf positive Weise gezeichnet. Yidel konnte sich stundenlang auf eine Sache konzentrieren. Er verlor nie die Geduld. Sein Gesicht war ruhig und unschuldig wie das eines Engels. Im Lauf der Zeit war er berühmt geworden. Menschen auf der ganzen Welt erkannten sofort ein Pergament, das er beschrieben hatte. Von Eckstein, sagten sie. Wunderschön.
Surie betätigte die Toilettenspülung und spuckte ins Wasser. Das meiste Erbrochene floss ab. Sie putzte sich Zähne und Zunge mit einem Klecks Zahncreme auf dem Finger und spülte noch einmal.
»Gibst du mir das Izei?«, sagte sie. »Das braune?« Er wusste aus Jahren der Erfahrung, was für ein Dings sie meinte, und schob ihr Lieblingshandtuch durch den Türspalt.
»Was willst du als Unterlage für den Kiddusch?«, fragte sie, nachdem sie sich das Gesicht getrocknet hatte. Sie bedeckte den Mund mit der Hand aus Angst, dass er die Zwillinge in ihrem Atem riechen könnte. »Wann kommen die Jungs nach Hause?«
»Was?«, sagte Yidel. Er fummelte an seinem Hörgerät herum, erinnerte sich, dass Schabbes war, und riss die Hand vom Ohr. »Was?«, fragte er noch einmal und bog das gute Ohr nach vorn. Er hatte sein Gehör mit dem Kreischen des Exzenterschleifers ruiniert, mit dem er die Häute polierte.
»Ich habe einen Bundt und zwei Bilkelach aufgetaut«, sagte sie leise, als sie an ihm vorbeiging.
Als sie so schnell an Gewicht zugenommen hatte, ließ sie sich auf alle diese Dicke-Frauen-Sachen prüfen, Reflux, Diabetes, Schilddrüse. Ihr Hausarzt – der nichts ahnte – riet ihr, weniger Süßes und mehr Eiweiß zu essen. Schließlich hatte sie vor ein paar Wochen herausgefunden, dass sie schwanger war, am Ende der sechsten Woche, als ihr klarwurde, dass Fett nicht auf die Blase drückte oder Übelkeit hervorrief. Die frühen Wochen der Schwangerschaft vergingen in einem Taumel. Sie war zu beschäftigt gewesen mit der Verlobung und der Hochzeit, um es Yidel zu sagen. Und jetzt musste sie ihm nicht nur ein Baby gestehen, sondern zwei. Hoffte sie wirklich auf eine Fehlgeburt? Schäm dich!
»Surie«, sagte er, nahm ihre Hand und hielt sie, ohne sie zu drücken. Hinter seinen Pupillen schimmerte ein blasses Licht wie undurchsichtiges Kristall. Sah so Liebe aus? War das dieser Nebel, der alte Leute erblinden ließ? Vielleicht wollte er sich mit ihr hinlegen? Oder war er verärgert, dass sie nicht zu ihm aufs Dach gekommen war? Nach so vielen Jahren wortloser Verständigung meinte er, ihr Schweigen deuten zu können. Normalerweise konnte er es. Sie jedoch kämpfte nach wie vor damit, diese stillschweigende Sprache zu verstehen.
Sie war immer auf seine Kunstfertigkeit stolz gewesen, stolz, dass sie mit dem Mann verheiratet war, der die Thorarollen für den Rebbe schrieb. Sie würde ihn morgens ebenso wenig beim Schreiben stören, wie sie ohne Strümpfe auf die Straße gehen würde. Im ersten Jahr ihrer Ehe hatten sie eine Zeichensprache entwickelt, sodass sie ihn fragen konnte, ob er etwas brauchte, und er konnte wortlos antworten, ohne seine heilige Arbeit unterbrechen zu müssen. Eine leicht in die Höhe gezogene Augenbraue, eine Geste, ein Lächeln, ein Nicken. Yidel sah alles bis zum winzigsten Zucken ihrer Lippe. Sie hatte oft gelacht und gesagt, dass er ihre Gedanken lesen könne. Jetzt war dieses Schweigen eine tief verwurzelte Gewohnheit.
Sie gingen beide davon aus, dass alles Wichtige vom einen zum anderen schwebte. Mit Worten waren sie ein bisschen aus der Übung. Sie wartete darauf, dass er die harte Kugel ihres Bauches bemerkte, sich eines Morgens zu ihr drehen und sie nach dem berechneten Datum fragen würde. Als das nicht passierte, war sie ratlos. Sie machte sich Sorgen, dass etwas zwischen ihnen nicht stimmte, dass Yidel sie nicht mehr auf dieselbe aufmerksame Weise liebte. Und so wartete sie und hoffte, dass es ihm auffallen würde.
Jedes Mal zuvor hatte er es bemerkt, wenn sie schwanger war, und ihr einen Schwangerschaftstest gekauft, bevor sie ihn darum bitten konnte. Sie hatten sich umarmt, gelacht, Namen vorgeschlagen. Sie liebten es beide, Eltern zu sein. Er erinnerte sich immer an die mystischen Worte, die er bei der Zeugung jedes Kindes gedacht hatte, und schrieb jeden Satz in ein kleines Büchlein, das er ihr zum fünfundzwanzigsten Hochzeitstag schenkte. Für einen Mann hatte er Intuition. Nur jetzt nicht. Was stimmte nicht mit ihm? Warum kam er nicht drauf? Warum sagte sie nichts?
Sie löste sich sanft von ihm und ging ein paar Schritte den Flur entlang.
»Die Jungs werden jeden Augenblick kommen«, sagte sie und blickte demonstrativ auf seine Hand. Irgendwie spürte sie durch die leichte Berührung seiner Haut auf ihrer, an der Weitung der dunklen Stellen in der Mitte seiner Augen, was er wollte. »Das ist nicht richtig.«
»Surie«, sagte Yidel, doch als sie sich abwandte, seufzte er nur und zuckte mit den Schultern.
Wie konnte sie ihm gestehen, dass sie schwanger war, da er doch so begeistert die alten Babymöbel für Tzila Ruchels sechstes Kind restauriert hatte? Vier Jahre zuvor, gleich nachdem sie von ihrer Reise nach Kalifornien zurückgekehrt waren, hatte er das ramponierte Bettchen, den Wickeltisch und den Kinderstuhl hervorgeholt und sie mit ländlichen Szenen aus Rumänien bemalt. Wie konnte sie ihm das nehmen, seine Freude, ein Zeyde zu sein nach all den dürren und schrecklichen Jahren, die er den Zuchtmeister hatte spielen müssen, was überhaupt nicht seiner Natur entsprach. Er wüsste, dass sie es gewusst und ihm vorenthalten hatte. Er hatte sie immer abgöttisch geliebt, ihren Kindern erklärt, dass ihre Mutter eine Heilige war, seine Liebe, seine Liebste, die Beste aller Frauen. Was würde er von ihr denken?
»Ich habe Glück gehabt«, sagte er und ging ihr nach. Erneut nahm er ihre Hand und zog sie an sich, hob ihre Finger ungeschickt an den Mund. Das machte er jeden Freitagabend bei seiner Mutter. Surie wusste, dass er ihre Finger küssen und die Geste damit beenden sollte, aber er hielt ihre Hand einfach nur einen Augenblick hoch und ließ sie wieder los. Sie gingen in die Küche, und sie stellte die Challa und den Kuchen auf den Tisch und schenkte ihm ein Glas Wein ein. Und als ihre drei jüngsten Söhne nach Hause kamen, setzte sie sich und sah ihnen beim Essen zu, die Lippen zusammengepresst, kaum atmend aus Angst, dass sie sich übergeben müsste.
Am nächsten Morgen zog sie ihre gute schwarze Strickjacke und die Bluse mit dem Hahnentrittmuster an. Sie strich den Pony seitlich unter das Kopftuch. Das Nylonhaar war steif, rau und widerspenstig. Yidel hatte ihr zur Verlobung ein goldenes Kropfband geschenkt, und sie trug es, wann immer sie das Haus verließ, obwohl es das hässlichste Ding war, das sie je gesehen hatte. Wie jeden Sonntagmorgen, wenn die große Uhr – die Uhr ihrer Mutter – zehn schlug, gingen sie hinaus ins Gedränge der Straßen von Williamsburg. Yidel ging voraus, beide zogen mit einer Hand einen Einkaufstrolley und hielten sich mit der anderen einen Regenschirm über den Kopf. Typisch Yidel, dass er mit ihr einkaufen ging. In der ersten Woche nach der Hochzeit hatte er damit angefangen. »Warte«, hatte er damals gesagt, als sie den Mantel anzog, um Lebensmittel einzukaufen. Obwohl kein anderer Ehemann, den sie kannte, seiner Frau beim Einkaufen half, hatte der tapfere junge Mann, einundzwanzig Jahre alt, seinen Mantel angezogen und den Trolley nach unten getragen. Er wartete auf dem Gehweg, bis er sah, dass sie bezahlte. Sie hatten eine endlose Reihe Geschichten über das gemeinsame Einkaufen, Episoden, über die sie nachts lachten, wenn sie in ihren Betten lagen, das Licht ausgeschaltet war und die Kinder schliefen.
»Erinnerst du dich an die Dame, die den Gartenflamingo gekauft hat und ihn nach dir benennen wollte?«
»Weißt du noch, als du die tausendste Kundin warst und alles umsonst haben konntest, und du hattest nur eine Seife im Wagen?«
»Erinnerst du dich an den Mann, der seinen Papagei mitgebracht hat, weil er ihm helfen sollte, Käse auszusuchen?«
Surie zog die Uhr jeden Sonntag auf, die schweren Bleigewichte stiegen in dem Mahagonigehäuse nach oben, und dann stellte sie die Zeit. Die Uhr hatte Surie von ihrer Mutter geerbt. Sie war über zweihundert Jahre alt und vom Vormieter in der Wohnung von Suries Eltern gelassen worden, der wahrscheinlich nicht wusste, wie er mit dem massiven Ding umziehen sollte – sie war größer als ein Mensch, oben drauf waren goldene Zwiebeln, und in das silberne Zifferblatt war der Name eines New Yorker Uhrmachers eingraviert. Nach dem Tod ihrer Mutter ging Surie durch die Wohnung, berührte