Eine ganze Welt. Goldie Goldbloom

Eine ganze Welt - Goldie Goldbloom


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einer Mutter keine Angst um die Gesundheit dieser neuen Kinder? Warum unnötige Risiken eingehen? Was für eine Mutter würde ein behindertes Kind auf die Welt bringen, wenn sie es abwenden konnte, indem sie sich ein bisschen beherrschte? Und diese Kinder, behinderte Kinder würden zu schrecklichen Problemen für ihre älteren Geschwister führen. Bei Eheschließungen wäre ihre Familie in Zukunft gezeichnet. Noch gezeichneter.

      Surie drehte sich um und rutschte weg von Yidels leisen Atemzügen. Die weißen Härchen über seiner Lippe waren gerade noch zu erkennen und hoben sich, wenn er ausatmete. Ein Strom winziger Bläschen stieg in ihr auf, und sie wand sich. Das Baby! Die Babys! Dank was für einem grotesken Wunder innerer Machinationen war sie schwanger geworden?

      Einmal, als sie in Florida Ferien machten, hatte eine kleine alte Frau im Rollstuhl laut Suries Kinder gezählt und dann, als sie an ihr vorbeiging, gesagt: »Oh, Liebes, wissen Sie immer noch nicht, wie das passiert?« Natürlich wusste sie es. Es war noch immer so angenehm mit Yidel wie damals, als sie jünger, beweglicher, energischer, hungriger danach gewesen waren. Als ihre Körper noch über alle Teile verfügten und alle Teile funktionierten. Jetzt dauerte es zwar länger, aber sie fanden noch Gefallen aneinander. Sie hatten sich ein wenig angepasst, Stellungen verändert, benutzten ein vom Arzt empfohlenes Gleitmittel, aber er hatte sein Fingerspitzengefühl nicht verloren und sie auch nicht. Seine Hand zwischen ihren Schenkeln war noch immer so aufregend wie beim ersten Mal.

      Aber was hatte sie jetzt davon? In denselben Ferien in Florida hatte sie gesehen, wie ein Delfin aus dem Wasser sprang und mit einem riesigen Platscher wieder hineinfiel. Eine Dame mit einem ins Gesicht geklebten Mikrofon hatte gesagt, dass Delfine aus dem Wasser springen, um die orangefarbenen Läuse, die sich in ihren Hautfalten einnisten, loszuwerden. Schön wär’s. Schön wär’s.

      »Warum bist du wach?«

      Als hätte Yidel eine Antenne, die direkt auf sie ausgerichtet war. Er wusste fast immer, wenn ihr etwas Sorgen machte oder auch nur ihr Fuß schmerzte. Die wortlose Sprache, die er so gut beherrschte. Aber alle Anzeichen ihrer Schwangerschaft waren ihm entgangen: die morgendliche Übelkeit, die Weinanfälle, die schmerzenden Krampfadern und geschwollenen Füße, das Rennen ins Bad, die nachmittäglichen Schläfchen, die Pickel, die Abscheu vor gefilte Fisch, der kugelrunde Bauch, die Bewegungen der Babys, die unerträglich juckende Haut.

      Sie konnte ihm nicht von den Delfinen und ihren Läusen erzählen. Sie konnte ihm nicht einmal erzählen, dass sie den Schlüssel für die Uhr verloren hatte und bei einem Antiquitätenhändler in Borough Park einen Ersatzschlüssel hatte kaufen müssen, wie sollte sie ihm also erzählen, dass sie beinahe, nicht wirklich, für eine Fehlgeburt gebetet hätte? »Ich habe über deine Mutter nachgedacht«, sagte sie stattdessen, um das Schweigen zu füllen.

      Dead Onyu, ihre Schwiegermutter, wurde älter und war blind, doch man konnte sie nicht hinters Licht führen. Jeden Tag, wenn Surie sie unten besuchte, hielt Dead Onyu ihre Hand einen Augenblick zu lang und wartete eindeutig darauf, dass Surie etwas sagte.

      »Der Zustand ihrer Wohnung. Es wird zu viel für sie. Vielleicht können wir eins von Tzila Ruchels Mädchen runterschicken, um ihr zu helfen. Miryam Chiena?«

      Sie musste seiner Mutter aus dem Weg gehen, zumindest bis sie es Yidel gesagt hatte.

      »Aber wenn wir es nicht vorsichtig anstellen, wird sie gekränkt sein, und dann wird sich dein Vater aufregen, und du weißt, was passiert, wenn er sich aufregt.«

      Dead Opa, Suries Schwiegervater, gebrauchte Wörter, Flüche aus einer Zeit, als diese Ausdrücke in ihrer Gemeinde noch nicht verboten waren, und er wurde so laut, dass die Nachbarn ihn hörten und es manchmal Gerede gab. Sie schnaubte und dachte an das viel schlimmere Gerede, das es geben würde, wenn ihre Schwangerschaft bekannt würde.

      »An den Wänden sind Rußflecken von den Kerzen. Die Lampenschirme bestehen buchstäblich nur noch aus Spinnweben und Staub.«

      »Nicht aus Spinnen, hoffe ich.« Yidels Stimme klang schläfrig. Er schob sich näher zu ihr und drückte das Kinn gegen ihre Schulter.

      »Nein. Ja. Es gibt Spinnen. Jede Menge. Ich habe gesehen, wie sie neulich eine aufgesaugt hat. Sie hat sie für einen Faden gehalten. Sie sagt, sie versteht es nicht. Sie glaubt, dass der Staubsauger nicht richtig saugt, weil sie überall die gleichen Fäden in der Wohnung ertastet.«

      »Sie fasst die Spinnen an?«

      Er kitzelte sie im Nacken. Sein Körper an ihrem war sehr warm. Wäre es so schrecklich, wenn er es herausfände? Ja! Nicht auf diese Weise! Obwohl sie durcheinander war, begann ihr Körper zu reagieren.

      Doch als er nach dem Saum ihres Nachthemds fasste, entzog sie sich ihm. Sie war nicht bereit dafür. Sie war zu müde. Sie hatte Kopfschmerzen. Die Wahrheit war: Wenn er sich auf sie legte, Hüfte an Hüfte, würde er wissen, dass sie im fünften Monat schwanger war. Bauchfett war weich. Ein Kind, Kinder im Bauch waren es nicht. Sie wusste nicht, was sie sich dabei gedacht hatte, als sie seine Hand auf ihre Haut gelegt hatte. Seit zwei Monaten hatte er sie nicht mehr berühren dürfen, so lange wie nie zuvor. Yidel schien den Tränen nahe.

      Sie lagen mit offenen Augen auf dem Rücken, starrten im Halbdunkel auf die blasse Stuckrose an der Decke. Daneben befand sich ein Wasserfleck, der aussah wie eine Landkarte von Europa. Sie hatten sich eingeredet, dass eine feuchte Stelle aussah wie Rumänien. Ungarn, Rumänien, wieder Rumänien. Wer wusste schon, zu welchem Land ihre Heimat jetzt gehörte. Sighet lag an der Grenze zur Ukraine, hatten sie gesagt und gedeutet. Yidels Vater und Mutter hatten vor dem Flüchtlingslager in Asten, vor Brooklyn in Sighet gelebt. Die Hälfte der Bevölkerung war jüdisch, zehntausend Menschen. Jetzt lebten dort keine Juden mehr, aber das hielt Dead Onyu und Dead Opa nicht davon ab, sich täglich zu wünschen, dorthin zurückkehren zu können. Aber was würden sie sehen, wenn sie zurückkehrten? Sie waren beide blind.

      Die Theiß war für Yidel und Surie so wirklich wie der East River und mäanderte als dunkelbrauner Streifen zwischen dem Fleck, der die Ukraine war, und dem Fleck, der Rumänien war, über die Decke.

      Nach langem Schweigen sagte Yidel: »Was wäre aus uns geworden, wenn es den Holocaust nicht gegeben hätte? Hätte ich dich geheiratet? Wären unsere Kinder geboren worden?«

      Surie wäre nicht geboren worden. Ihre Mutter hatte Surie in einem Alter auf die Welt gebracht, in dem die meisten ihrer Freundinnen aufgehört hatten, Kinder zu bekommen. Sie hatte zu Surie gesagt, dass jedes Kind, das sie nach dem Holocaust gebar, ein Stich in Hitlers Auge sei, möge sein Andenken ausradiert werden. Der Gedanke, dass ihre Mutter mit fünfunddreißig als alt galt, war seltsam. Was hätte ihre Mutter von Surie gedacht?

      Sie und Yidel konnten fast die Eintagsfliegen in ihrem großen Paarungstanz über der Theiß schweben sehen. Der blaue Schatten der Dämmerung kroch über die Wände. Von irgendwo in der Marinewerft drang das unheimliche Geräusch eines riesigen Krans herein, der sich über seine Schienen bewegte.

      Einen halben Block von ihrem Haus entfernt kreuzte die Division Avenue die Kent Avenue und wurde zu einer Sackgasse am East River. Wenn Suries drei jüngste Söhne auf den Jeschiwa-Bus warteten, schlenderten sie oft dorthin und setzten sich aufs Geländer, ließen die Beine baumeln und warfen kleine Steine oder Eisstiele in den Fluss. Das Wasser glich in Farbe und Textur Avocadoschalen. Manchmal, meistens schlief dort ein Mann, ein Fremder, keiner von ihnen, in einem aufgegebenen Auto. Der Bretterzaun der Holzhandlung Certified Lumber war mit Graffiti besprüht. Die Hühner im Hinterhof kreischten und legten Eier. Vorbeifahrende Boote tuteten. Im Zimmer direkt unter ihrem wachte Tzila Ruchels neues Baby vom Schlagen der großen Uhr auf und begann zu weinen. Vor ihrer Haustür warteten schwarze Mülltüten darauf, von Lastwagen mit großen runden Kotflügeln abgeholt zu werden. An warmen Tagen roch der Fluss nach Asche und verwesendem Fisch. An diesem Montagmorgen roch er nach dem Milchschorf auf den Köpfen von Babys, eine Mischung aus Schweiß, Öl und Erschöpfung.

      Was für ein Ort, um ein Kind aufzuziehen! Aber sie tat es seit vierzig Jahren und hatte nicht lange gefackelt, bis jetzt. Sie sah Bilder von ihrer ersten Geburt in diesem Haus vor sich, das Zimmer abgedunkelt, es roch nach frischer Erde, nach Regen und Schimmel und Wald, nach wachsenden Dingen. In jener Nacht hatte sie geglaubt, sie


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