Eine ganze Welt. Goldie Goldbloom
schreien, wenn sie glaubte, dass es etwas nützte. Unter Suries Turban brach Schweiß aus und strömte ihren Körper hinunter. Die Hebamme hatte Surie ermutigt, zu muhen oder zu heulen oder zu weinen. Irgendetwas. Was auch immer. Doch Surie war bis fast zum Ende stumm geblieben. »Was ist nur los mit euch Frauen?«, hatte Val gefragt.
In den Wehen mit diesem zehnten Kind tigerte Surie vom Wohnzimmer ganz vorn in der Wohnung den langen schmalen Flur entlang zum rückwärtigen Schlafzimmer, in dem vier ihrer fünf älteren Söhne schliefen. Sie hatte immer gehofft, sieben Söhne zu bekommen und damit freien Eintritt ins Paradies. Hin und her wanderte sie. Sie stand vor der großen Uhr, jedes Ticken durchlief ihren Körper wie Elektrizität, und bat ihre seit langem tote Mutter um göttliche Intervention. Von unten hörte sie das Weinen von Tzila Ruchels Neugeborenem, der ältesten Tochter ihrer ältesten Tochter. Tzila Ruchel war ins Krankenhaus gegangen. Sie hatte einen Arzt dabeihaben wollen.
Nach mehreren Rundgängen kehrte Surie zur Hebamme zurück und sagte: »Warum sollte ich schreien, warum sollte ich stöhnen, wenn ich genau das tue, wofür ich geschaffen wurde? Wenn ich meinen Teil der Schöpfung erfülle? Gott sei Dank kenne ich meinen Platz in der Welt. Die Thora spricht von vielen Dingen, aber immer, immer spricht sie von den Kindern, die kommen, den Kindern, für die man Opfer bringen muss. Mein ganzes Leben ist Kindern gewidmet, Kinder zu kriegen, Kinder großzuziehen.
Die Kinderwagen, die an Jontef in der Synagoge stehen, das sind die Juden. Die gelben Schulbusse, die am Morgen die Straße verstopfen, das sind die Juden. Und die weinenden Babys unter dem weißen Gebetsschal ihrer Väter während der Segnung, das sind die Juden. Ihre kleinen Hände, ihre Füße, ihre rasierten Köpfe, ihre langen Pejess, der Singsang ihrer Stimmen; am Ende des Holocaust, als wir dachten, dass es keine Kinder mehr gibt, reichte das Weinen eines Kindes, um jedes Herz zum Überfließen zu bringen. Familien, die kein Geld für Decken hatten, hatten genug Geld, um Kinder zu kriegen, weil das der wahre und einzige Reichtum der Juden ist. Wenn die Völker der Welt sagen, dass wir allen Reichtum der Welt gestohlen haben, dann stimmt das, denn sind Synagogen nicht voller Edelsteine, und sind unsere Schulen nicht voller Diamanten, und liegen in den Betten unserer Häuser nicht Gold und Silber und Onyx? Wenn sie behaupten, dass in unseren Matzen das Blut von Christenkindern ist, dann stimmt das nicht. In unseren Matzen ist das Blut jüdischer Kinder. In der Luft, die wir atmen, ist das Blut jüdischer Kinder. Nur für sie leben wir.«
Es waren mehr Worte, als die Hebamme je eine dieser Frauen hatte sagen hören, und sie schämte sich. Viele Monate sollten vergehen, bis sie wieder eine Frau in den Wehen, die ein Kopftuch und gesäumte braungraue Strümpfe trug, angesichts ihrer stoischen Stummheit, ihres Mangels an Neugier, ihrer Leugnung von Erschöpfung fragte: »Was ist nur los mit euch Frauen?«
Es waren mehr Worte, als Surie je zur Hebamme gesagt hatte, und ein paar Minuten später erinnerte sie sich kaum noch daran, sie ausgesprochen zu haben. Ohne Vorwarnung packte sie Val am Hals und begann zu schreien, dass sie ins Krankenhaus wolle, und Val lachte und sagte: »Sieht aus, als bekämen wir ein Baby!«
Ihr letzter Sohn, Chaim Tzvi, wurde geboren und ihr auf die Brust gelegt, und sie dankte Gott und hoffte, dass es das letzte Mal war, dass sie keine Kinder mehr kriegen würde, und dann zog sie sich an den Ort zurück, an den sich alle neuen Mütter zurückziehen, wenn der ganze Gewaltakt vorbei ist. Und das war vor dreizehn Jahren. Ja. Sie hatte gesagt, was damals für sie die Wahrheit gewesen war. Bis zu dieser Niederkunft war sie über jede neue Schwangerschaft begeistert gewesen. Jetzt hatte sie weiße Haare an unaussprechlichen Stellen. Sie brauchte keinen BH mehr. Ihr Arzt empfahl ein künstliches Knie. Das Weinen ihrer Enkelkinder ging ihr manchmal auf die Nerven. Und sie wollte nicht schwanger sein. Nicht dieses Mal.
4
An einem Freitagmorgen im Dezember, zwei Wochen nach ihrem ersten Termin im Krankenhaus standen Surie und Yidel in der Dämmerung auf. Nach einem eiligen Frühstück trennten sie sich: Er musste zum Psalmclub in die Synagoge, sie musste die Chanukkaleuchter putzen. Der Regen hatte aufgehört, die Temperatur war gesunken, und der Wind hatte auf Nordwesten gedreht. Der frisch blaue Himmel ließ darauf schließen, dass es am Nachmittag schneien würde.
»Binde dir einen Schal um«, sagte sie zu Yidel und schlang ihm einen der Dutzend schlichter schwarzer Schals, die sie besaßen, um den Hals. Es war gestattet, ihn zu berühren. Die Jungen waren bereits zu den Jeschiwas aufgebrochen. Niemand konnte diese Intimität sehen.
Yidel zog seine Gummigaloschen an und stopfte die Schalenden in den Mantel. »Auf Wiedersehen«, sagte er. Er legte ihr die Hand auf die Wange, und sie nahm sie in die ihren. »Ich bringe Olivenöl mit.«
»Reichlich. Mindestens zwei große Kanister. Und jetzt beeil dich!«, sagte sie, und er nickte, blickte auf die große Uhr, entzog ihr die Hand und brach auf.
Er war so ein anständiger Mann, ein Ehemann, der besser als gut war. Er hatte ihre Babys immer geliebt, sie sich auf den Schoß gelegt und ihnen stundenlang in die granitblauen Augen geschaut. Er war es gewesen, der ihre Körper mit Galmeilotion betupft und ein Hafermehlbad nach dem anderen eingelassen hatte, als sie alle gleichzeitig Windpocken hatten; er hatte geholfen, die riesigen Körbe mit schmutziger Wäsche in den Keller zu tragen, zwanzig bis fünfundzwanzig Körbe in der Woche, und dann die schwere Last aufs Dach geschleppt, damit sie sie aufhängen konnte. Vor den Elternabenden in der Schule seiner Töchter hatte er eine Liste mit Fragen aufgesetzt und sich abends hinter das kleine Pult gezwängt, einer der wenigen Väter, die in die Mädchenschule kamen. Auf seinem Nachttisch, unter der Glasplatte, die das Holz schützte, lag sein liebstes Ding im ganzen Haus, ein Zettel von Tzila Ruchel, auf den sie mit sechs oder sieben geschrieben hatte, dass er der beste Vater der Welt sei. Ein kleiner Zettel, bedeckt mit Buntstift-Küssen. Warum machte sie sich Sorgen? Yidel wäre begeistert, wieder Vater zu werden. Da war es doch gleichgültig, dass er eigentlich in Pension gehen wollte. Er würde in die Luft springen wie ein Huhn, wenn sie es ihm erzählte. Er würde gackern und flattern. Seine Freudenschreie wären noch in Crown Heights zu hören. Es war nicht die Angst vor Yidels Reaktion, die sie zurückhielt. Es war etwas anderes. Aber was?
Während Yidel weg war, machte sich Surie an der alten silbernen Menora zu schaffen. Sie stammte aus Rumänien. Dead Onyus Schwester, die mit ihr als Einzige überlebt hatte, mittlerweile aber gestorben war, hatte sie Surie zur Hochzeit geschenkt. Surie, sechzehn, hatte ihr Haar in zwei langen Zöpfen auf dem Rücken getragen. Als sie Yidel ein paar Wochen zuvor kennengelernt hatte, trug sie ein dunkelgrünes, kunstseidenes Kleid aus den dreißiger Jahren. Sie hatte das schräg geschnittene Kleid in einem der mildtätigen Bündel gefunden, die die Leute vor ihrer Tür ablegten, weil ihre Mutter an Krebs erkrankt war und ihr Vater hatte aufhören müssen zu arbeiten. Es hatte eine kleine Schleife in der Taille und Plisseefalten über der Brust.
Yidel war sauber und präsentabel gewesen. Er trug neue Kleider, die nicht nach Mottenkugeln rochen. Soweit sie es bemerkt hatte, hatte er sie nicht angesehen. Manchmal scherzte sie mit ihm über das kurze Treffen. »Ich hab dich bei der Beschau ganz kurz angesehen«, erwiderte er immer lächelnd. »Oh, là, là.«
»Nein, hast du nicht«, sagte sie. »Du hast gedacht, dass ich rote Haare habe. Ich weiß es noch. Du hast geglaubt, dass ich ein rotes Kleid anhatte.«
Die Arme waren mit Schrauben befestigt, die ausgeleiert waren, und die Menora wackelte. Wie ich, dachte sie, während sie in Kreisen mit dem Silberputztuch darüberfuhr. Ihre Füße waren geschwollen, dunkellila gefärbt an den Knöcheln, die Haut voller Grübchen und rau. Dicke blaue Adern schlängelten sich an ihren Beinen hinunter. Für diese speziellen Schwangerschaftsstrumpfhosen war es schon viel zu spät. Hätte er davon gewusst, hätte Yidel dafür gesorgt, dass sie die Stützstrumpfhose vom ersten Tag an trug, nicht weil seine Frau schöne Beine haben sollte, sondern weil er ihre Schmerzen lindern wollte.
Sie putzte das Fenster mit Essig und Zeitungspapier. Als es sauber glänzte, bedeckte sie das Fensterbrett mit Aluminiumfolie, um es vor Wachstropfen und Feuer zu schützen, und reihte dann blecherne Kerzenständer darauf auf. In ganz Williamsburg gab es keinen schöneren Anblick als die von den Menora erleuchteten Fenster, während draußen sacht Schnee fiel. Und keinen schlimmeren Anblick als die blinkenden roten und blauen Lichter der Feuerwehrautos vor einer brennenden