Eine ganze Welt. Goldie Goldbloom

Eine ganze Welt - Goldie Goldbloom


Скачать книгу
das Gesicht ihres Kindes sehen wollen, und sie erinnerte sich, wie ihre Schwiegermutter ihr das neue Kind in die Arme legte und sie küsste und das Kind den Kopf drehte und zu saugen begann. Sie erinnerte sich daran, als würde es genau jetzt passieren, und sie weinte die gleichen Tränen wie damals, Tränen des Staunens und der Angst und der Schmerzen und von etwas Kaltem, Dünnem, Glitschigem, für das sie keinen Namen hatte, und sie hob die Hand, um ihre Brüste zu berühren, aber der Krebs hatte ihr beide genommen, und ihre Finger fuhren die dicken gewundenen Narben entlang.

      Ihre Brust fühlte sich seit Monaten wund und kribblig an. Sie hatte sich gegen eine Rekonstruktion entschieden. Selbst wenn sie die Brüste hätte rekonstruieren lassen, würde sie die neuen Babys nicht stillen können, aber der Chirurg musste etwas übersehen haben, ein paar Zellen, die wussten, dass sie schwanger war. Sie erinnerte sich, wie sie an der Ecke Kent und Division Avenue mit ihren fünf Kindern auf den Schulbus gewartet hatte. Sie trug einen schweren Wollmantel, den sie um ihre Kinder hüllte, um sie zu schützen, sie erinnerte sich an den Druck ihrer kleinen Köpfe gegen ihre Schenkel und ihren Bauch, an die roten Pflastersteine, den Wind. Die Kinder sangen: »Die rojte Godeh! Die rojte Godeh!« Die Straße aus roten Steinen. Sie hatte gedacht, dass sie sich diesen Moment einprägen sollte. Hatte gewusst, dass er es wert war, sich daran zu erinnern.

      Die Leere des Hauses, wenn sie alle in der Schule waren, das unerträgliche Ticken der Uhr, ihre nahezu explosiven Schläge. Sie erinnerte sich, wie sie mitten in der Nacht auf dem Badewannenrand saß und die Dusche laufen ließ, ihr Sohn Lipa, der Krupp hatte, blau und hustend, an den Dampf, der nach verschimmelten Socken roch, und an die Angst, die an ihr nagte wie eine Ratte an einer Mülltonne. Sie erinnerte sich an die Reihen Windeln, die auf dem Dach im Wind flatterten, an ihre Kinder, die in den leeren Wäschekörben »Schiff« spielten, und sie, wieder schwanger, streckte und beugte sich vor und klammerte eine endlose Reihe nasser Bettlaken an die Leine.

      Sie schwang die Beine aus dem Bett und stand im Halbdunkel auf. Sie war so müde. Sogar schon früh am Morgen waren ihre Fußknöchel geschwollen und brannten ihre Beine. Es regnete noch immer. Tropfen verfingen sich im Fliegengitter und glitzerten. Durchs Fenster drang fast ununterbrochen ein Geräusch ähnlich dem Kratzen von Stuhlbeinen. Hin und wieder ein metallischer Knall, wenn etwas fallen gelassen wurde. Wer wusste, was sie dieser Tage in der Marinewerft taten? Einst war es der Autoschrottplatz der Stadt gewesen. Jetzt hatten sich dort Unternehmen eingemietet, über die sie nichts wusste. Ein Filmstudio, wurde beim Metzger geflüstert. In der Küche setzte sie den Wasserkessel auf und toastete Brot für ihre jüngsten Söhne. Sie waren noch nicht verheiratet, lebten zu Hause, siebzehn, fünfzehn, dreizehn, sie hatte sie in ihren Vierzigern bekommen, das größte Risiko, das sie je eingehen würde, hatte sie damals geglaubt.

      Wie soll ich es schaffen?, fragte sie den Toaster und den Wasserkessel und die Spüle aus rostfreiem Stahl.

      Morgen in der Früh, erwiderten sie, wirst du es Yidel sagen, und er wird überrascht und glücklich sein. Er wird nicht wütend oder gekränkt oder betrübt reagieren. Er wird kochen, damit die Babys in dir gut wachsen, und er wird dafür sorgen, dass du an Salzpflaumen saugst, damit du dich nicht so oft übergeben musst. Er wird Tzila Ruchel bitten, ihre Mädchen heraufzuschicken, um im Haushalt zu helfen, zu putzen, zu fegen. Dead Onyu wird morgens mit den Jungen auf den Cheder-Bus warten. Yidel wird dir für deine müden Beine Stützstrümpfe kaufen, und wenn du dich ausruhst, wird er dir die Füße massieren und dir Kalzium gegen die Krämpfe geben.

      »Die Krämpfe«, sagte sie und schauderte.

      Sie wollte sich nicht an die letzte Geburt erinnern, die schrecklich gewesen war, sehr schrecklich, und mehrere Tage gedauert hatte. Sie wollte sich nicht daran erinnern, wie sie die Hände um den Hals der Hebamme gelegt und geschrien hatte, dass sie ins Krankenhaus wolle. Ein Blizzard hatte gewütet, und die Hebamme war mit Schnee bedeckt und einer Sauerstoffflasche im Schlepptau hereingekommen. Sie hatte schmale, schwarze nasse Striche auf dem Holzboden hinterlassen, die lange nicht getrocknet waren.

      Die Arbeit, die erforderlich war, um das Leben auf der Welt zu erhalten! War es mit Zwillingen die doppelte Arbeit? Sie hatte nicht einmal die Kraft für ein Neugeborenes. Wie sehr sie auch versuchte, sich abzulenken, ihre Gedanken drehten sich immer wieder im Kreis.

      In Rumänien gab es am Ufer der Theiß Höhlen, und wenn man sich traute, mit einer Taschenlampe in die Höhlen zu klettern, fand man darin Zeichnungen aus Ocker von Kühen, Löwen und Bären. Dead Onyu war als fünfzehnjähriges Mädchen mit ihrer Schwester in eine Höhle gestiegen, und während alle in ihrer Stadt zusammengetrieben wurden, blieben sie verschont. Die Zeichnungen waren nicht alt. Sie waren das Werk örtlicher Schüler, Dead Opa einer von ihnen. Auch er hatte sich in einer Höhle versteckt. Jetzt waren beide blind, weil aus ihrem tragbaren Gasofen eine Flamme herausgeschossen war, als Yidel und Surie in Kalifornien gewesen waren. Die alten Leutchen wären beinahe an Kohlenmonoxidvergiftung gestorben. Als wäre der Verlust von Lipa nicht schon Strafe genug.

      Um sechs kamen Suries drei jüngsten Söhne zurück von der Mikwe und zogen ihre langen Jacken aus. Sie wuschen sich schweigend die Hände und setzten sich zu Toast, Eiern und Kaffee. Ihre Jacken waren nass vom Regen. Über ihre Biberpelzhüte hatten sie Plastiktüten gestülpt. Sie rochen nach feuchter Wolle und Wäschestärke. Durch das geschlossene Fenster hörte sie den Wind, der sich zwischen den Gebäuden fing und durch die schmalen Gassen vom Wallabout Channel und davor vom East River heraufheulte. Möwen trieben kreischend durch den Wind.

      Irgendwo in der Zukunft waren zwei neue Kinder, vielleicht Jungen wie diese. Statt fast sechzig, wäre sie fast achtzig. Die neuen Kinder würden sich für sie schämen, für ihr schreckliches Alter, für ihre Gebrechlichkeit, dafür, dass sie noch gelegentlich ungarische Wörter benutzte, während die Eltern ihrer Freunde reines Jiddisch sprachen. Sie würden ihre Schulfreunde nicht mit nach Hause bringen, um ihre Babka mit Schokoladenfüllung zu probieren. Sie würde aussehen, klingen und denken wie Dead Onyu und Dead Opa. Um sich von diesem Bild abzulenken, stand sie still und versuchte sich an alles zu erinnern, was die Hebamme über Schwangerschaft und Geburt gesagt hatte. Vals heisere Raucherstimme, die vergebens versuchte, freundlich zu klingen:

      Sie wissen es schon, aber die meisten Babys kommen mit dem Kopf zuerst auf die Welt, Mrs Eckstein. Kommen sie mit den Füßen zuerst, nennt man das eine Steißgeburt. Das kommt bei Zwillingen häufiger vor. Wissen Sie noch, was bei Ihrem dritten Kind passiert ist? Ich muss Ihnen nicht sagen, wie sich Wehen anfühlen. Das wissen Sie besser als ich! Auch wenn die Kontraktionen erträglich sind, wenn das Köpfchen herauskommt, fühlen sie sich normalerweise sehr intensiv an. Brennend. Damit werden Sie keine großen Probleme haben. Sie wissen ja, wie Sie pressen müssen. Beim letzten Mal haben Sie geschrien. Es ist besser, nicht zu schreien. Stöhnen ist okay. Meine Ohren, ich werde alt, Sie wissen, was ich meine?

      Vor der Geburt ihres jüngsten Sohns, Chaim Tzvi, hatte Surie bei keiner Geburt geschrien oder auch nur gestöhnt. Sie hatte sie erduldet, das war das Beste, das man über die Erfahrung sagen konnte. In Gedanken war sie zu dem Ort geflogen, wo Dead Onyu im Fluss gespielt hatte, ein Fluss, ganz anders als der East River. Die Theiß war sauber, seicht am Ufer, und außer während der Schneeschmelze im Frühjahr konnten die Kinder mit den Füßen im Wasser stehen, ein kleines Netz in den Händen, mit dem sie kleine Fische fingen, die gleich unter der Oberfläche schwammen. Winzige gelbe Schnecken krochen über ihre Füße, und langes blassgrünes Gras schlängelte sich um ihre Knöchel. Als nach drei Tagen Wehen Chaim Tzvis Köpfchen endlich herauskam, sprang Surie in das eisige Wasser der Theiß und stieß einen Siegesschrei aus, als sie ein Netz voller Fische in die Höhe hielt.

      Mit sechzehn war die frisch verheiratete Surie in das Haus mit den drei Wohnungen gezogen, das Dead Onyu und Dead Opa gehörte. Und mit sechzehn hatte sie auch ihr erstes Kind, einen Sohn auf die Welt gebracht. Dead Onyu, mit siebenunddreißig noch jung und schick, war ein paar Tage zuvor gerade mit ihrem siebzehnten Kind niedergekommen und konnte nicht helfen. »Ihre Familie hält mich auf Trab«, hatte Val zu Dead Onyu gesagt. Es war Vals erstes Jahr in Williamsburg gewesen, und sie hatte die Gemeinde überhaupt nicht im Griff. »Man sollte meinen, ein alter Profi wie Sie wüsste es mittlerweile zu verhindern«, hatte sie gesagt. »Finden Sie nicht, dass Sie aufhören sollten? Haben Sie Hitler nicht oft genug bewiesen, dass ihr euch nicht umbringen lasst?«

      Während


Скачать книгу