Vom Geheimnis der schönsten Liebe. Charles H. Spurgeon
vor welchem noch für geistlich unreif Wirkende der Vorhang hängt. Es sind nicht alles Heilige, die hier eintreten können, denn sie sind noch nicht zu dem heiligen Vertrauen des Glaubens und zu der innigen Vertrautheit der Liebe gelangt, die es ihnen ermöglicht, in ehelicher Liebe mit dem großen Bräutigam zu verkehren.
Man sagt uns, dass die Juden es den jungen Studenten nicht gestatteten, dies Hohelied zu lesen, dass man die Jahre voller Reife für erforderlich hielt, ehe der Mann aus dem geheimnisvollen Liebesgesang den rechten Nutzen ziehen könne; vielleicht waren sie weise, auf jeden Fall aber schattete das Verbot eine große Wahrheit ab. Das Hohelied ist in Wahrheit ein Buch für ausgewachsene Christen; es bedarf eines Mannes von völligerem Wachstum, der sein Haupt an den Busen seines Meisters legt, um die erhabenen Berge der Liebe zu ersteigen, auf denen die Braut mit ihrem Geliebten steht. Das Hohelied wird vom ersten bis zum letzten Vers denen klar sein, die die Salbung empfangen haben von dem, der heilig ist, und dies alles wissen (1.Joh. 2.20).
Sie sind so von dem Geist der Liebe durchtränkt, der aus diesem Buch heraus duftet, dass die, welche in der Schule der Gemeinschaft nicht gelehrt sind, ausrufen: „Wir können es nicht lesen, denn es ist versiegelt.“ Dieses Hohelied ist ein goldenes Kästchen, zu welchem mehr die Liebe als die Gelehrsamkeit der Schlüssel ist. Möchte es Gott gefallen, uns in der Gnade wachsen zu lassen und uns viel von dem Heiligen Geist zu gehen, dass wir mit Füßen gleich denen der Gazellen auf den Höhen der Schrift stehen und innigen Umgang mit Jesus Christus haben können.
Lasst uns hinsichtlich unseres Textes sehr einfach handeln und zuerst bemerken, dass Christus den Gläubigen sehr köstlich ist; zweitens, dass guter Grund dafür vorhanden ist; drittens, dass gemischt mit dem Gefühl der Köstlichkeit hier das freudige Bewusstsein seines Besitzes ist und dass darum viertens sich ein ernstes Verlangen nach beständiger Gemeinschaft mit ihm zeigt. Wenn ihr noch einmal auf den Text blickt, werdet ihr diese Dinge darin finden.
I.
Zunächst: Christus Jesus ist den Gläubigen unaussprechlich köstlich. Die Worte schließen das offenbar in sich: „Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhen.“ Sie nennt ihn ihren „Geliebten“ und drückt so ihre Liebe auf das nachdrücklichste aus; er ist nicht nur der Geliebte, sondern der Vielgeliebte. Dann blickt sie sich um, um etwas zu finden, das an sich wertvoll und zugleich nützlich in seinen Eigenschaften ist, und Myrrhen erblickend sagt sie: „Mein Vielgeliebter ist mir ein Bündel Myrrhen.“ Ohne jetzt das Bild näher anzusehen, halten wir uns an den Ausspruch, dass Christus dem Gläubigen köstlich ist.
Beachtet zunächst, dass dem Gläubigen nichts soviel Freude macht als die Gemeinschaft mit Christus. Fragt euch ihr, die ihr an seinem Tisch gesessen, wo solche Freude zu finden, wie ihr sie in Gemeinschaft mit Jesus genossen habt. Der Christ hat in den gewöhnlichen Gnadenerweisungen ebenso gut Freude wie andere Leute. Er kann sich an Gottes Gaben und Werken der Schöpfung freuen wie jeder andere. Er ist nicht tot für häusliche Freuden; er findet an seinem eigenen Herd glückliche Verbindungen, ohne welche das Leben wirklich traurig wäre. Seine Kinder erfüllen sein Heim mit Frohsinn, seine Frau ist sein Trost und seine Wonne, und seine Freunde sind seine Erfrischung; aber er wird euch sagen, dass er in all diesem nicht so wesentliche Wonne findet als in der Person seines Herrn Jesus. Brüder, hier ist ein Wein, wie ihn kein Weinberg auf Erden jemals liefert; hier ist ein Brot, das selbst die Kornfelder Ägyptens nicht hervorbringen könnten. Wo wir sahen, dass andere ihren Gott in irdischen Annehmlichkeiten fanden, da sagten wir: „Ihr mögt euch des Goldes, des Silbers und der Kleidung rühmen; ich will mich freuen in dem Gott meines Heils.“
Nach unserer Überzeugung sind die Freuden der Erde im Vergleich zu Jesus, dem Himmelsmanna, wenig besser als die Treber für das Vieh. Ich wollte lieber ein wenig von Christi Liebe und von seiner Gemeinschaft als eine ganze Welt voll fleischlicher Wonnen. Was ist die Spreu gegen den Weizen? Was ein Traum gegen die herrliche Wirklichkeit? Was ist dieser Zeit Freude in ihrem besten Schmuck im Vergleich zu unserem Herrn in seinem verachtetsten Zustand? Wenn ihr etwas von dem inneren Leben wisst, werdet ihr alle bekennen, dass unsere höchsten, reinsten und beständigsten Freuden die Frucht von dem Baum des Lebens gewährt, der im Paradies Gottes wächst. Wie der Prediger sagte, so sagen wir: „Ich sprach zum Lachen: Du bist toll! und zur Freude: Was machst du?“ „Eitelkeit der Eitelkeiten; es ist alles eitel.“ Alle irdische Seligkeit ist von der Erde und irdisch, aber die Tröstungen der Gegenwart Christi sind gleich ihm himmlisch. Wir können unsere Gemeinschaft mit Jesus überschauen und finden keine Leere darin; in diesem Wein ist kein Bodensatz, in dieser Salbe keine tote Fliege. Die Freude am Herrn ist wirklich und fortwährend, und sie ist in Zeit und Ewigkeit wert, genannt zu werden „die einzige wahre Wonne“.
Wir können deutlich sehen, dass dem Gläubigen Christus so köstlich ist, weil es außer Christus für ihn nichts Gutes gibt. Gläubige Seele, hast du nicht inmitten der Fülle einen schmerzlichen Hunger empfunden, wenn dir dein Herr fehlte? Die Sonne schien, aber Christus hatte sich verborgen, und die ganze Welt war dir dunkel. O welche heulende Wüste ist diese Welt ohne meinen Herrn! Wenn er sich in seinem Zorn nur einen Augenblick vor mir verbarg, verdorrten die Blumen meines Gartens, meine schönen Früchte verfaulten, die Vögel ließen ihren Gesang verstummen und schwarze Nacht senkte sich auf alle meine Hoffnungen hernieder. Nichts kann die Gemeinschaft des Heiles ersetzen; alle Kerzen der Erde können keinen Tag machen, wenn die Sonne der Gerechtigkeit untergegangen ist.
Als andererseits dir alle irdischen Tröstungen versagt blieben, hast du da nicht Genüge in deinem Herrn gefunden? Sind deine schlechtesten Zeiten nicht deine besten gewesen? Dein Krankenbett machte Jesus zu einem königlichen Thron, auf welchem du mit ihm regiertest. Jene dunklen Nächte waren nicht dunkel. Denkst du daran, als du arm warst? Wie nahe war dir Christus, und wie reich machte er dich! Du bist von Menschen verachtet und verworfen worden, und niemand gab dir ein gutes Wort; aber seine Gemeinschaft war dir süß, und es war wonnig, ihn sagen zu hören: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott!“ Als du des Leidens viel hattest, wurdest du auch reichlich getröstet durch Christus. Ja. wir können in stiller Ergebung auf Armut, Krankheit und selbst auf den Tod blicken; denn wenn alle Tröstungen uns genommen werden sollten, würden wir doch gesegnet sein, solange wir die Gegenwart des Herrn, unseres Heilands, genießen dürfen.
Ich tue auch der Wahrheit keinen Zwang an, wenn ich sage, dass der Christ lieber alles andere aufgeben, als seinen Meister verlassen würde. Ich habe etliche gekannt, welche sich fürchteten, dem Wort ins Auge zu sehen, der da sagte: „Wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“ Ja, ich habe gefunden, dass gerade die, die sich am meisten fürchteten, es am häufigsten bewiesen, dass sie aufrichtige Liebe zu Jesus hatten. Vielleicht ist es die beste Art, nicht ruhig dazusitzen und unsere Liebe zu wägen, denn sie lässt sich nicht mit kühlem Urteil messen, sondern deine Liebe praktisch auf die Probe zu stellen. Wenn es nun dahin kommt, dass du Christus verleugnen oder das Liebste, das du hast, aufgeben sollst, würdest du erst überlegen? Aber auch, wenn es sich darum handeln sollte: „Willst du deine Augen verlieren oder Christus aufgeben?“ würde ich gern blind werden. Oder wenn es heißen sollte: „Willst du von heute ab stumm sein und nie mehr vor der Menge reden?“
Es ist besser, stumm zu sein, als ihn verlieren. Tatsächlich kommt es mir wie eine Beleidigung meines Herrn vor, Hände und Augen und Zunge mit ihm vergleichen zu wollen. Wenn ich gefragt werden sollte: „Willst du ohne Christus leben oder mit Christus sterben?“ so würde ich nicht erst überlegen, denn mit Christus sterben heißt, mit Christus ewiglich zu leben; aber ohne Christus leben hieße, des anderen Todes, des schrecklichen Todes, des ewigen Verderbens der Seele zu sterben. Nein, hier gibt es keine Wahl. Ich denke, wir könnten weitergehen und, wenn die Liebe inbrünstig ist und das Fleisch unterdrückt wird, sagen, dass wir irgendetwas mit Christus erdulden würden. Es liegt etwas Himmlisches in dem Leiden für Christus. In seinem Kreuz liegt eine solche Majestät und geheimnisvolle Wonne, die, je schwerer es wird, desto leichter auf den Schultern der Gläubigen liegt.
II.
Aber zweitens: die Seele hängt an Christus, und sie hat guten Grund da-zu, denn ihre Worte lauten: „Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhen.“ Wir wollen zuerst die Myrrhen nehmen und dann das Bündel betrachten.
Jesus Christus ist gleich Myrrhen. Diese sind wegen ihrer Köstlichkeit