Führerin. Gregor Eisenhauer
House hatte er an der Bar gelehnt. Sie war monatelang nicht mehr dort gewesen. Ihm zuliebe. Sie konnte ihm nicht seine zweite Heimat rauben. Als er sie hereinkommen sah, war er zusammengezuckt. Das schlechte Gewissen hatte sich in seinem kindlichen Gesicht so deutlich abgezeichnet, dass er ihr fast leidgetan hatte. Das war seine Masche. Die eigene Schuld bei anderen abladen. Die Masche wirkte immer.
«Wie geht es dir, mein Herz?!» Er hatte sie am Arm gefasst, als wäre da immer noch ein Eigentumsanspruch, obwohl er sie knapp ein Jahr zuvor offiziell zum Umtausch freigegeben hatte. «Gut», hatte sie entgegnet, «gut geht es mir», und war davongeeilt. Sie ertrug seine Naivität nicht. Sie konnte sie ihm aber auch nicht zum Vorwurf machen, denn genau dafür hatte sie ihn geliebt.
Sie erinnerte sich noch gut an seinen Blick, als sie ihm damals die Diagnose mitteilen wollte. Geradewegs vom Arzt war sie zum ihm geeilt.
«Süße, wenig Zeit jetzt, wir reden heute Abend, ja?!»
Er war in seinem Drehstuhl einmal rundherum gewirbelt und exakt vor dem Bildschirm seines Laptops wieder zum Halten gekommen.
«Doch, du hast Zeit, jetzt!»
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, und er sah erstaunt auf. Er war es nicht gewohnt, Widerworte zu hören. Schon gar nicht in seinem Büro.
Ralf Marquardt war der erfolgreichste Infotainer der Republik. News-Dealer, wie er sich selbst nannte, Schlagzeilenfabrikant der besseren Art. Seine Filmreportagen waren Publikumsbringer, weil er genau den Stoff lieferte, den die Leute liebten:
24-Stunden-Zuhälter, 30-Tage-Milliardär, Lebenslänglich-Looser. Es war der immer gleiche Mix aus Sex, Crime und Voyeurismus, der nur wirkte, weil nichts daran gefälscht war. Das Material war echt, seine Kontakte waren erstklassig und seine Konkurrenten hilflos. Ralf war in vielen Milieus zu Hause, aber nichts blieb an ihm haften. Als sie ihn das erste Mal traf, hatte sie so erstaunt die Augen aufgerissen, dass er aus dem Lachen gar nicht mehr herausgekommen war.
«Wen haben Sie erwartet? Al Pacino im Frack?»
«Das nicht. Aber auch nicht Leonardo DiCaprio in Turnhosen!»
Er hatte sie damals tatsächlich im Trainingsanzug empfangen. Das Haar verwuschelt, unrasiert. Vor sich ein großes Glas Orangensaft. ‹Was für ein Junge!›, dachte sie und war verliebt vom ersten Augenblick an. Endlich das, wonach sie sich von Kindesbeinen an gesehnt hatte: Ein unbeschwerter Mensch.
Nach und nach begriff sie, dass genau das das Geheimnis seines Erfolgs war, seine unbekümmerte Art. Er war der Typ, den jeder zum Freund haben wollte, dem keiner etwas neidete, der Männern wie Frauen gleichermaßen gefiel. Mehr als ein Sonnyboy, ein Liebling der Götter. Das hatte sie damals wirklich geglaubt, und auch wenn ihr von Anfang an Zweifel gekommen waren, sie wollte es nicht anders. Sie wollte ihn genau so, wie alle anderen ihn auch wollten, wie man selbst nie gewesen war: unbekümmert, glücklich. Rekord für ihn und für sie: Fast ein Jahr lang waren sie ein Paar. Ihr Vater hatte sie dafür verachtet. Absurd für einen, der morgens nicht wusste, aus welcher Kneipe er abends geflogen war. Als ihr Vater Ralf das erste Mal begegnete, verharrte er geradezu in einer Höflichkeitsstarre, so erstaunt war er über diese genetische Variante ‹Mann›. Natürlich verabscheute er Ralf vom ersten Augenblick an und selbstverständlich ließ er keine Gelegenheit aus, ihn schlechtzumachen. Eine Zeit lang hatte sie ihn sogar in Verdacht, dass er einen Privatdetektiv auf ihn angesetzt hatte, nur um ihr zu beweisen, was sie ohnehin schon wusste: Dass er ein mieser Karrierist war, der über Leichen ging, ach was, ging, er sprintete darüber hinweg.
Dass Ralf alles andere war als harmlos, begriff sie leider erst viel zu spät. Sie fühlte sich bei ihm an die Geschichte von Dorian Gray erinnert, ein so schöner Mensch, der es aber nie wagen durfte, einen Blick auf sein wirkliches Spiegelbild, das Spiegelbild seiner Seele zu werfen. «Da hab ich auch kein Interesse dran!», hätte er entgegnet. Sie war sich in den Wochen und Monaten ihres Zusammenseins nie klar darüber geworden, ob er tatsächlich ein so eiskalter Hund war oder ob er sein Herz nur mit Stahlplatten gepanzert hatte, weil er jede enge Beziehung aus Selbstschutz mied. Die klassische Liebesfalle. Auf die einfache Erklärung, dass er von der Nasenspitze bis zu den Fußsohlen zugekokst war, wäre sie damals nie gekommen. Sie hielt seine kranke Euphorie für Liebe. Natürlich hatte das ihren Ehrgeiz geweckt, endlich Herrin ihres Glücks zu sein, und alles hätte auch gut so weiterlaufen können, ein Wettbewerb um das bebende Herz, ausgetragen von zwei gleichstarken Konkurrenten, denn sie selbst hatte auch nie einen anderen Menschen nahe an sich herangelassen – wäre da nicht die Katastrophe eingetreten. Ihre ganz persönliche Katastrophe, die ihn völlig kaltließ.
«Doch, du hast Zeit, jetzt!»
Sie hatte ihn in den Sessel gedrückt. Da war er wieder, sein ängstlicher Blick, der Blick eines kleinen Jungen, der sich sorgt, dass ihm zu viele Hausaufgaben zugemutet werden, obwohl er doch nur eins will: spielen. Fast hätte sie lachen müssen.
«Ich war beim Arzt!»
«Bei welchem Arzt …?», fragte er erstaunt, als wäre ein Arztbesuch in ihrem Alter etwas völlig Abwegiges. Er legte die Stirn in Falten. «Du bist doch nicht etwa …»
«Schwanger? Nein, keine Sorge …»
«Das ist schön. Ich meine, das ist gut, dass nichts Ernstes …» Er geriet ins Stottern.
«Krebs. Brustkrebs. Bösartig.»
Er schüttelte sich.
«Was heißt das?»
Sie hatte es ihm sehr sachlich erklärt. Wann die OP stattfinden würde, die Chemo, die Strahlentherapie.
Er hatte sie in den Arm genommen, ganz eng an sich gedrückt und dann erklärt: «Tut mit leid, aber damit möchte ich nichts zu tun haben.»
Es war ein Satz ohne Ausrufezeichen, völlig emotionslos gesprochen. Was gut war, so konnte sie nicht einmal in Tränen ausbrechen. Er blieb einfach stehen und wartete, bis sie sein Büro verließ. In den Tagen und Wochen darauf ließ er nichts mehr von sich hören. Einfach so. Er hatte sich einfach so davongemacht.
Sie konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Er tat das, was sie auch am liebsten getan hätte. Wegrennen bis ans Ende der Welt und noch ein Stück weiter.
Jetzt plötzlich war er wieder da. Und sie würde mit ihm schlafen … Würde sie? Ja, das hatte sie fest vor, aus einem ganz einfachen Grund.
Donnerstag, 8. März, 11 Uhr
Auguststraße
«Was hältst du davon?»
Richard Claasen rührte nachdenklich in seinem grünen Tee. Es hatte Tage gegeben, da hätte er mit einer solchen Brühe nicht mal die Blumen gegossen, dachte Martina mit bitterer Belustigung, denn sie war froh, dass diese Tage lange zurücklagen. Fünf Jahre hatte er schon nichts mehr getrunken – aber eine gewisse Fahrigkeit in den Bewegungen war geblieben.
Sie saßen im Café der Kunstwerke in der Auguststraße. Sein Stammcafé, der vielen Zeitungen und Zeitschriften wegen. Sie vermutete eher der Touristinnen wegen, die in Scharen das nebenan gelegene Museum für moderne Kunst stürmten, hyperinteressiert die Treppen hoch- und runtertrippelten und dann erschöpft ihren Latte macchiato orderten.
«Klingt so verrückt, dass was dran sein könnte!»
Er musterte sie eindringlich.
«Aber wichtiger ist doch: Wie geht es dir? So allgemein und im Besonderen? Warum lässt du so wenig von dir hören?!» Da war es wieder, dieses Selbstmitleidige, Vorwurfsvolle. Sie sah angestrengt hinaus auf den Hof, weil sie ihn nicht ihren Unmut spüren lassen wollte. «Ich bin nicht hier, Paps, um dir aus meiner Krankenakte vorzulesen!»
Sie sah, dass er versucht war, ihre Hand zu tätscheln, aber ihr böser Blick brachte ihn schnell zurück zum eigentlichen Thema.
«Schon gut, mein Schatz. Schon gut. Reg dich nicht auf. Okay, der Typ will sich umbringen, du bekommst das Exklusivinterview mit seinem Todesengel, was gibt es da groß zu überlegen?»
«Die