Führerin. Gregor Eisenhauer

Führerin - Gregor Eisenhauer


Скачать книгу
das sagt nur etwas über seine Eitelkeit aus und nichts, gar nichts über das Wollen der nationalsozialistischen Elite, die sich ja – bis auf die wenigen Nürnberger Sündenböcke – unbeschadet ins neue Deutschland hinüberretten konnte. Oder nach Argentinien weiterzog, nach Chile, nach Paraguay, in den Nahen Osten.»

      Er schnaufte kurzatmig, als wäre er selbst auf der Flucht.

      «Wissen Sie, zuweilen kommt mir ein Bild in den Kopf. Adolf Eichmann, Sie kennen ihn, den Verantwortlichen für die Judentransporte in die Gasöfen, Eichmann, der eine neue Heimat in Argentinien gefunden hatte, wurde, lange vor seinem Prozess, von einem Interviewer gefragt, ob er etwas bedauere. ‹Ja, natürlich bedauere ich etwas›, antwortete Eichmann. ‹Ich bedauere, dass wir nur sechs und nicht zehn Millionen Juden vergast haben.›»

      Klimt legte erneut eine kurze Pause ein, ohne den Blick vom Pult zu heben. Ein Raunen ging durchs Publikum, als er mit einem kleinen Kichern in der Rede fortfuhr.

      «Wissen Sie, was an diesem Bedauern auffällig ist? Nicht das Ungeheuerliche der Tatsache, dass er weitermorden wollte. Das versteht sich, Eichmann war ein böser, böser Mensch, da werden Sie mir alle zustimmen. Auffällig, im moralischen Sinn, ist vielmehr dieses Bedauern Adolf Eichmanns. Dieses Bedauern war aufrichtig! Wie kann ein böser Mensch aufrichtig sein?!»

      Klimt stützte beide Hände breit aufs Pult und fixierte sein Publikum mit einem abschätzigen Blick, als traute er den hier Versammelten gar nicht zu, seine Worte in ihrer wirklichen Bedeutung zu verstehen.

      «Meine Damen und Herren, es gibt nichts Lebendigeres als unversöhnlichen Hass! Nichts Wahreres! Nichts Ehrlicheres! Glauben Sie mir, ich weiß das aus eigener Erfahrung. Was daraus folgt? Ganz einfach: Dieser Hass erledigt sich nicht einfach mit der Hinrichtung Eichmanns. Diese Bande von Verbrechern, die sich Nationalsozialisten nannten, hat Europa in den Abgrund gestürzt, Russland an den Rand der Niederlage gebracht, die Alliierten zur Aufbietung all ihrer Kräfte gezwungen und nebenbei sechs Millionen Menschen vernichtet, weil sie Juden waren. In nur zwölf Jahren! Was für eine logistische Meisterleistung! Das meine ich gänzlich ohne Ironie. In der Technologiegeschichte des Bösen nehmen die Deutschen den Spitzenrang ein, mit weitem Abstand. Maos Kulturrevolution, Stalins Liquidation der Kulaken, die Massaker der Roten Khmer, der Völkermord in Ruanda … all das erscheint dagegen wie das Werk von Amateuren. Und die Historiker wollen uns glauben machen, dass diese Elite des Bösen keinen Gedanken an eine Fortexistenz verschwendet hat?! Ich bitte Sie, das ist lächerlich!»

      Klimt schnaufte empört, als wäre er persönlich beleidigt worden. «Ungeheuerlicher noch als diese Verbrechen ist die Dummheit all derer, die glauben, mit der Kapitulation des Deutschen Reiches sei der Nationalsozialismus erledigt gewesen! Die Fluchtwege waren längst ausgekundschaftet, riesige Summen Geldes außer Landes geschafft, Scheinfirmen gegründet, und wozu das alles? Weil diese Funktionäre des Schreckens in sonnigeren Ländern beschaulich als Privatiers und Rentner ihr Leben zu fristen gedachten? Was für ein Unsinn, meine Damen und Herren, was für ein lächerlicher, was für ein gefährlicher Unsinn!»

      Klimt schüttelte müde den Kopf. Er zog ein Taschentuch aus seiner zerbeulten Jacketttasche und wischte sich wiederholt die schweißnasse Stirn, dann steckte er es achtlos wieder weg und holte tief Luft.

      «Lächerlich.»

      Das Publikum verharrte in angespannter Stille. Klimt wusste, dass er nun die Zuhörer in seinen Bann gezogen hatte – und er genoss es, indem er sich Zeit ließ mit dem Fortgang seiner Rede.

      «Meine zentrale Überlegung ist: Die Historiker haben bislang zwar zur Kenntnis genommen, dass die Nazielite früh die Niederlage ahnte, früh Asylmöglichkeiten suchte und fand – aber, so mein Einwand, doch nicht nur, um ihr Leben zu retten! Unsinn. Sie wollten den Fortbestand der nationalsozialistischen Ideologie sichern! Ihr vordringliches Ziel war nach wie vor … die Macht! Beweise? Beweise werde ich zuhauf bringen! Zuhauf, meine Damen und Herren, zuhauf! Aber lassen Sie mich zunächst einen Witz erzählen, damit Ihnen das alles nicht so verbissen erscheint, was ich Ihnen vortrage, einen jüdischen Witz selbstredend: Ein frommer Mann kommt verzweifelt zum Rabbi. ‹Rabbi, ich habe nur einen Sohn und der ist jetzt Christ geworden, was soll ich tun?› Der Rabbi bittet sich Bedenkzeit aus, er muss mit Gott darüber reden. Eine Woche später kommt der fromme Mann wieder: ‹Rabbi, was haben Sie erfahren?› Der Rabbi sagt: ‹Schau, mein Lieber, Gott hat gesagt, er hatte auch nur einen Sohn, und der ist auch Christ geworden!› – ‹Und was hat Gott gemacht?›, will der Mann wissen. ‹Ein neues Testament.›»

      Klimt lachte scheppernd.

      «Ein neues Testament! Das ‹Neue Testament›! Was für eine geniale Pointe. Vor allem – wie leicht zu übertragen. Hitler, meine Damen und Herren, hat kein politisches Testament hinterlassen. Er begnügte sich mit der Ordnung seiner privaten Hinterlassenschaft und dem Nerobefehl: ‹Möge Deutschland mit mir untergehen!› Wie gesagt, er war ein eitler Mann, der sich in seinem Tun erschöpft hatte. Er selbst war der größte Volksschädling. Ganz anders die ihm nachgeordneten Funktionäre, allen voran: Alfred Rosenberg. Der Name sagt Ihnen nichts oder nur wenig? Der ‹Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts› – sein Hauptwerk. Alfred Rosenberg war Hitlers Chefideologe und Ideengeber. Darüber hinaus war er ein williger und sehr geschickter Handlanger. Im Zweiten Weltkrieg ging er mit seinem Einsatzstab ‹Reichsleiter Rosenberg› auf Raubzug durch ganz Europa, als Leiter des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete trieb er deren Germanisierung voran, soll heißen, er war einer der Organisatoren der systematischen Judenvernichtung. Im Nürnberger Prozess wurde Rosenberg als Hauptschuldiger der NS-Kriegsverbrechen angeklagt, in allen vier Anklagepunkten für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. So viel zu den Fakten, die viele kennen. Nun zu den Fakten, die nur wenigen bekannt sind. Rosenberg führte zeitlebens Tagebuch, ein politisches Tagebuch, wie es sich bei seinem Charakter von selbst versteht. Diese Tagebücher, die zeitlich bis zum Ende des Krieges reichten, lagen dem alliierten Gericht, namentlich dem Ankläger Robert Kempner, in Auszügen vor. Aufgrund ihrer Brisanz wurden sie allerdings unter Verschluss gehalten – und verschwanden. Böse Zungen behaupteten, Kempner habe sie unterschlagen, was Blödsinn ist, er hat mehrfach darauf hingewiesen, dass er selbst zeitlebens auf der Suche nach diesem Tagebuch war. Im Übrigen» – Klimt kicherte – «alle, die glauben, hier würde ein Märchen ähnlich wie das von Hitlers Tagebüchern erzählt, mögen in die nächste Bibliothek gehen und sich kundig machen. Ich sehe ja an Ihrer Unruhe, dass Sie geneigt sind, meinen Ausführungen mit Misstrauen zu begegnen, Ihr gutes Recht. Mein Recht ist es, Ihnen und dieser Heerschar verblödeter Historiker die Kompetenz abzusprechen, die Fakten vorurteilsfrei zu deuten.»

      Klimts Sekretär trat an das Stehpult und schenkte Wasser in das halb volle Glas. Sein Chef winkte ihn unwirsch beiseite, aber die kleine Geste der Beruhigung, sei sie verabredet gewesen oder auf eigenen Einfall des Sekretärs hin erfolgt, brachte ihn wieder ein wenig zur Besinnung.

      «Zu den Fakten: Rosenbergs Aufzeichnungen galten und gelten als verschollen. Am dreißigsten Jahrestag der Machtergreifung erschien in einem deutschen Nachrichtenmagazin die Meldung, dass im sowjetischen Außenministerium geplant sei, zwei Bände der Rosenberg-Tagebücher zu veröffentlichen. Die Meldung war einfach von der sowjetischen Presse übernommen worden und erwies sich als falsch. Jede Nachfrage bei den russischen Behörden blieb ohne Antwort. Jede weitere Nachforschung schien aussichtslos.»

      Klimt klopfte wiederholt mit seinem Gehstock auf den Boden.

      «Vollkommen aussichtslos. So auch der Befund meiner lieben historischen Kollegen, die ich um Rat fragte. Von welcher Seite kam Hilfe? Meine Damen und Herren, zuweilen kann man die Ironie des Schicksals gar nicht genug belächeln! Eine Nachricht, die auch vielen Laien nicht entgangen sein dürfte: Die Verliese des vatikanischen Archivs öffneten sich vor einiger Zeit. Ahnen Sie, was das für einen Historiker bedeutet, meine Damen und Herren?! Stellen Sie sich vor, die Mafia hätte über Jahrzehnte hinweg penibel Buch geführt über all ihre Untaten, über all die Politiker, die von ihr geschmiert wurden, über all die Komplotte, die je mit den Mächtigen der Wirtschaft geschmiedet wurden, Band um Band eine Chronik des Grauens! Und nun erst die katholische Kirche! Nein, nein, ich weiß, Sie erwarten, dass mir Schaum vor den Mund tritt und ich nun eine meiner gewöhnlichen Brandreden gegen diese schlimmste aller spirituellen Verbrecherorganisationen


Скачать книгу