Führerin. Gregor Eisenhauer

Führerin - Gregor Eisenhauer


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vatikanische Bibliothek und ihr Archiv. Das Gedächtnis der Menschheit! Gut, ein wenig einseitig sortiert, aber was für ein Schatz an Geheimwissen! Annähernd zwei Jahrtausende spionierten Priester und Laien im Namen des Allmächtigen alles und jeden aus, der in den Ruch kam, der Kirche schaden zu können!»

      Klimt schien kurz vor einem Herzinfarkt, so heftig schnaufte er.

      «Ahnen Sie etwas? Ahnen Sie, wie umfangreich die Dossiers über all die Mächtigen der nationalsozialistischen Bewegung sind? Nein, Sie können es nicht ahnen, denn es übersteigt Ihre Vorstellungskraft. Ja, ich gebe es gern zu, selbst meine Erwartungen wurden übertroffen! Jeder weiß, dass der Vatikan sich mit Hitler einließ, weil er um die Zukunft der Kirche in einem Reich völkischen Glaubens bangte. Jeder weiß, wie wenig die Antisemiten in Soutane getan haben, um die Judenverfolgung zu verhindern. Alles bekannt, alles bekannt, wenn auch ungern gehört. Aber in welchem Ausmaß die vatikanischen Spitzel die Führungskräfte der NSDAP observiert haben, hat selbst mich überrascht. Allen voran – ja, Sie werden es nicht glauben, allen voran Alfred Rosenberg. Er, der Chefdenker der Nazis, war der ärgste Feind, die gefährlichste Bedrohung der vatikanischen Kamarilla. Er hielt nichts vom Christentum, nichts vom Papst, er wollte eine germanische Religion und war deshalb von Beginn an im Fadenkreuz der Inquisitoren. Jede Schrift von ihm, jedes Buch, jede wichtige Akte in Abschrift, findet sich im Vatikan, natürlich auch das Manuskript seiner Erinnerungen, kurz vor Kriegsende verfasst – und sein Tagebuch!»

      Im Saal wurde es mit einem Schlag dunkel. Auf der Leinwand hinter dem Stehpult wurde es blendend hell. Ein Raunen ging durch den Saal. Einzelne standen auf, Stühle fielen. Aber der Schock über das Bild, das auf die Leinwand projiziert wurde, bannte die Leute an ihre Plätze.

      Klimt blickte mit sichtlicher Genugtuung auf die erschrockenen Gesichter vor ihm. Er wies mit seinem Gehstock in die große Runde der Zuhörer.

      «Ich sehe, dieser Mann hinter mir ist Ihnen allen noch ein Begriff. Aber ich sehe an Ihren erstaunten Gesichtern auch, dass Sie den Zusammenhang mit dem bisher Gesagten noch nicht ganz nachvollziehen können?! Keine Sorge, das wird bald der Fall sein. Dieser hässliche und sehr böse Mensch hinter mir ist Charles Manson. Richtig, jener Charles Manson, der durch das Tate-LaBianca-Massaker seinen luziferischen Ruhm erlangte. Noch immer sitzt er in Haft, seine Gnadengesuche wurden selbstredend abgelehnt. Sein Mythos, die Verkörperung des Bösen schlechthin zu sein, der ist allerdings überlebensgroß. Nun, meine Damen und Herren, darf ich Sie bitten, Ihre Aufmerksamkeit auf ein Detail dieses fotografischen Porträts zu richten. Sehen Sie es, Sie sehen es! Zwischen den Augenbrauen: ein Hakenkreuz! Nein, keiner der Mithäftlinge hat es ihm eingeritzt. Das würde keiner wagen. Seine Herrschaft dort ist unbestritten. Also, woher kommt dieses Tattoo? Er hat es sich selbst tätowieren lassen. Charles Manson ließ sich ein Hakenkreuz auf die Stirn tätowieren?! Warum wohl? Ein Spinner, sagen Sie, ein Spinner. Sicher, ein Spinner! Das erklärt ja alles hierzulande.»

      Klimt verkostete die Worte mühsam mit den Kiefern mahlend, als wollte er bewusst ihren bitteren Nachgeschmack spüren. Müde stützte er sich auf seinen Gehstock. Sein herrischer Seitenblick wies den Sekretär an, das Licht im Saal wieder anzustellen. Mit einem kleinen, bösen Lächeln beobachtete er, wie einige sich die Hände vor die geblendeten Augen schlugen.

      «Keine Sorge, meine Damen und Herren, wir kommen zum Ende. Ich fasse mich kurz. In den Tagebuchaufzeichnung von Alfred Rosenberg finden sich detaillierte Angaben zum Unternehmen ‹Barabbas›, jenes Unterfangen, das den Fortbestand der nationalsozialistischen Ideologie und den Endsieg über das Judentum sichern sollte. Ein Dokument des Fanatismus, aber ein Geniestreich der Strategie. Geld war ausreichend außer Landes geschafft worden. Die Elite der SS konnte entweder im eigenen Land untertauchen oder fand – dank tätiger Mithilfe des Vatikans wie des italienischen Roten Kreuzes – eine neue Identität im Nahen Osten oder in Südamerika. Dieser lose Verbund alter Kameraden trug über Jahre, über Jahrzehnte hinweg. Historiker haben das immer bestritten, weil die Zeitzeugen es bestritten haben. Aber die Zeitzeugen waren mehrheitlich Komplizen der Nazis!»

      Klimts Stimme überschlug sich vor Empörung.

      «Ja, glauben Sie denn, ein Adolf Eichmann gibt offen und ehrlich Auskunft über die Pläne und Ziele der untergetauchten Nazis! Lachhaft! Wie naiv muss man sein? Wie gutgläubig? Halt, werden Sie einwenden, gut und schön, der Wahn lebte fort, die materiellen Mittel waren gegeben, aber ausrichten konnten diese Altnazis doch nichts mehr, waffen- und machtlos wie sie waren. Meine Damen und Herren, das ist leider ein Irrtum. Die Macht», Klimt tippte sich demonstrativ an den Kopf, «die Macht sitzt hier! Hier ist der Ursprung des Bösen. Die überlebenden Nazis wussten sehr genau, was sie wollten, und sie wussten sehr genau, wie sie es umsetzen mussten. Die Organisation ‹Barabbas› ist strukturiert wie ein Orden, Schweigepflicht, Eintrittsgelübde, sorgsame Selektion der Novizen. Rosenberg hatte die Fluchtwege so aufgefächert, dass nahezu weltweit in jedem Land eine kleine schlagkräftige Einheit operieren konnte. Ihr Ziel? Fanatiker heranzuziehen. Herrenmenschen, Instrukteure des Grauens. Glauben Sie mir eins: Krebszellen vermehrten sich schon immer schneller als gesunde Zellen!»

      Klimt musterte mit einem bösen Rundumblick all jene, die zweifelnd den Kopf schüttelten, und das waren nicht wenige. «Ich weiß, in der verkürzenden Überschau klingt das verwegen, wenn nicht gar ein wenig romanhaft: Instrukteure des Grauens. Nun ja, aus eigener Kraft, meine Damen und Herren, wird keiner zum Fanatiker. Es braucht immer einen Geburtshelfer des Wahnsinns. Wer, glauben Sie wohl, hat Charles Manson auf die Idee gebracht, Sharon Tate mitsamt ihrem ungeborenen Kind abschlachten zu lassen, diesen blonden Engel an der Seite des Juden Roman Polanski, dessen Mutter, im sechsten Monat schwanger, nach Auschwitz deportiert worden war. History repeats!»

      Bei den letzten Worten Klimts erlosch erneut das Licht. Auf der Leinwand hinter ihm wuchsen aus einem nebeligen Grau die Türme des World Trade Centers, bis sie im überscharfen Kontrast den Raum zu dominieren drohten. Klimt schien es gar nicht zu bemerken, sondern fuhr ungerührt in seinem Text fort.

      «Die einzig verlässliche Macht, das einzig Berechenbare und somit Beherrschbare im Menschen ist das Böse. Es geht um das Neue Testament, um das Neue Testament des Schreckens. Sie glauben mir nicht? Nur weil ich paranoid bin, heißt das nicht, dass mich keiner verfolgt.»

      Klimts Kichern blieb ohne Echo beim Publikum, aber darauf hatte er auch nicht gehofft. Er nahm einen Schluck Wasser, räusperte sich und fuhr in ruhigem Tonfall fort.

      «Die Zerstörung des World Trade Centers. Die Schleifung des Turms zu Babel. Meine Damen und Herren, was glauben Sie, wie viele Verschwörungstheorien sind derzeit im Umlauf? Unzählige, versteht sich, Unzählige. Eine abstruser als die andere, und doch haben sie eins gemein: den Zweifel an der Fähigkeit einer kleinen islamischen Terrorgruppe, einen solch genialen Anschlag zu planen und durchzuführen. Dieser Zweifel ist begründet! Die Terrorgruppe des Herrn Mohammed Atta hätte, auf sich allein gestellt, nicht einmal einen Supermarkt in Brand setzen können. Was mich so sicher macht? Sehen Sie in die Gesichter dieser Männer, studieren Sie ihre Lebensläufe, das waren Befehlsempfänger! Fragt sich zwangsläufig: Wer waren ihre Instrukteure? Das Pentagon, das Weiße Haus, das World Trade Center, die Trias der amerikanischen Macht, das politische, das wirtschaftliche, das militärische Haupt mit einem Schlag geköpft! Wir sind uns über die Schändlichkeit dieses Anschlags einig, sicher, aber was für ein genialer Plan. Ausgeheckt von kamelreitenden Islamisten – lächerlich!

      Das Böse ist vor Ort, sei es in Gestalt eines scheinbar geistig verwirrten Handlangers wie Charles Manson oder einer hocheffizienten Hamburger Terrororganisation, die eben nicht den Namen Osama Bin Ladens trägt. Ich kann verstehen, wenn Sie Beweise fordern – Sie werden mich verstehen, wenn ich im Interesse meiner ganz persönlichen Dramaturgie diese Beweise erst im nächsten Vortrag vorlege. Die finale Demütigung der Siegermacht Amerika, das war ein Ziel der ‹Operation Barabbas› – und es wäre ihnen beinah gelungen. Nun ja, den Rest erledigt die Gier der Wall Street, was Rosenberg übrigens schon in den Zwanzigerjahren vorhergesagt hat. Das zweite Ziel der ‹Operation Barabbas›: die Vernichtung des Staates Israel. Da stehen die Chancen schon besser. Ersparen Sie mir ihre Unmutsäußerungen, ich weiß, es klingt zynisch, was ich vorzutragen habe, aber Sie können mir nicht den Zynismus der Fakten anlasten.

      Fakt ist: Die Gründung des Staates Israel wurde von


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