Führerin. Gregor Eisenhauer

Führerin - Gregor Eisenhauer


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des Nahen Ostens, vergegenwärtigen Sie sich die Größe des Staates Israel, seine Grenzziehungen, eingeschlossen vom Meer, von der Wüste, von feindlichen Nachbarn. Dieser Staat Israel ist ein ziviles Konzentrationslager, geleitet in eigener Regie, immerhin, aber nichtsdestotrotz ein großes, komfortables Gefängnis mit erschwertem Freigang.»

      Das feindselige Flüstern im Publikum wurde zum Raunen, empörte Zwischenrufe, einige drängten zum Ausgang, andere machten Anstalten, das Podium zu stürmen. Klimt, dem die Anstrengung des Vortrags inzwischen deutlich anzusehen war, richtete sich auf und schrie ins Mikrofon.

      «Stopp. Schluss mit Ihrem dummen Gezeter! Hören Sie mich zu Ende an! Fakten! Erster Fakt: Israel ist ein One-Bomb-Country, so die militärische Ausdrucksweise, die nichts anderes besagen will, als dass eine Atombombe genügt, den Staat der Juden vom Erdboden verschwinden zu lassen. Zweiter Fakt: Der Iran, da sind sich alle Geheimdienste dieser Welt einig, wird in spätestens fünf Jahren über die Bombe verfügen, und das nicht zuletzt dank der Beihilfe deutscher Wirtschaftsunternehmen, die jahrzehntelang enge Verbindungen zum Iran pflegten! Es versteht sich, dass die ‹Operation Barabbas› ihren Teil, den entscheidenden Teil, dazu beigetragen hat. Die Bombe, meine Damen und Herren, wird fallen! Israel wird vernichtet werden.»

      Klimt wischte sich mit einem Taschentuch die schweißnasse Stirn und fuhr mit erschöpfter Stimme fort.

      «In meinem nächsten Vortrag werden Sie erfahren, wer genau die Drahtzieher sind! Aber ich fürchte, dazu wird es leider nicht kommen … Denn meine Ermordung steht unmittelbar bevor!» Klimts letzte Worte gingen im allgemeinen Tumult fast unter. Die Ordner öffneten eilends die Türen. Der Sekretär zog Klimt zu einem der hinteren Ausgänge, seine Bodyguards stellten sich drohend davor.

      «Irrsinn, das ist der totale Irrsinn!» Die Stimmen im Journalistenraum gingen wild durcheinander. «Der Mann ist durchgeknallt.» – «Ganz Israel ein KZ – das ist immerhin eine hammergeile Schlagzeile.» – «Der hat sich um Kopf und Kragen geredet!»

      Es war keine Empörung zu spüren, eher Genugtuung, dass sich hier einer selbst hingerichtet hatte und die Story nun genüsslich ausgeschlachtet werden konnte.

      Kehrtmann hatte sich mit Martina Claasen in eine stillere Ecke des Raums zurückgezogen. Vor ihnen ein Monitor, auf dem das Standbild von Klimts Abgang eingefroren schien.

      «So was Irrsinniges hab ich lange nicht gehört!» Martina schüttelte verständnislos den Kopf.

      «Nun ja, diesen Vorwurf musste sich Kopernikus auch gefallen lassen.»

      «Sie wollen doch nicht andeuten, dass Sie auch nur ein Wort von diesem Merchandising-Gequatsche ernst nehmen! Der will sein Buch verkaufen, mehr nicht!»

      «Ich stelle zunächst einmal fest, dass Sie viel zu emotional reagieren, wie übrigens die meisten im Publikum. Ich stelle weiter fest, dass Klimt eine interessante Perspektivenverschiebung gelungen ist, er sieht die Dinge aus einem anderen Blickwinkel, was drittens, wenn ich Sie erinnern darf, genau unser Job ist. Fragen stellen, interessante Fragen stellen, die die Dinge durchaus auch mal auf den Kopf stellen dürfen.»

      Martina sah ihren Chef an, als wäre er ihr geradewegs vom Planet der Unwissenden direkt vor die Füße gefallen. Er seinerseits wirkte hingegen einfach nur amüsiert.

      «Klimt ist ein Unsympath der Sonderklasse, das gestehe ich Ihnen sofort zu, aber was sagt das über die Qualität seiner Argumente?»

      «Das kann ich Ihnen sagen.» Martina äffte Kehrtmanns Tonfall nach. «Weil ich Ihnen zuliebe den doch sehr vagen Begriff Unsympath präzisieren kann: Er ist ein egomanisches, hypercholerisches Superarschloch! Was sagt das über seine Argumentation? Ganz einfach, wenn er die Wahl hat, wird er immer das spektakulärere Faktum, das schillerndere Argument, den irrsinnigeren Beweis wählen, weil er sich selbst damit besser ins Scheinwerferlicht rücken kann. Er ist kein Wissenschaftler, sondern ein profitgeiler Hochstapler!» Martina Claasen fuhr sich gewohnheitsmäßig durch die Haare, Kehrtmann lächelte ein wenig seltsam. Sie hoffte für ihn, dass sich dieses Lächeln auf ihre Worte und nicht auf ihre Frisur bezog. Sie fand ihre kurzen Haare schrecklich hässlich, und obwohl sie selbst wusste, dass es völliger Unsinn war, glaubte sie, dass es allen anderen genauso ging.

      «Sie haben vollkommen recht. Aber was sagt das über die Qualität seiner Argumente?»

      «Haben Sie mir überhaupt zugehört?» Martina blinzelte ihn böse an. «Dieser absurde Verschwörungsquatsch über eine Bande seniler Altnazis bedient nur die Empörungslust und die Skandalgeilheit unserer lieben Kollegen. Sehen Sie sich doch um in diesem Irrenhaus hier!»

      Kehrtmann schlug die Beine übereinander und blickte gelangweilt auf die noch immer aufgeregt debattierende Schar der ihm altbekannten Hauptstadtjournalisten.

      «Liebe Kollegin, was ich sehe, gibt ihm recht! Punkt eins, sein Marketing-Coup, so er denn als solcher geplant war, ist gelungen. Dieses Buch wird sich millionenfach verkaufen. Punkt zwei, wo er recht hat, hat er recht, oder? Der weiblich harmonisierende Blick auf die Welt hat sich doch als ein wenig trügerisch erwiesen. Das Böse regiert. Weniger metaphysisch gesprochen: Das US-Verteidigungsministerium geht davon aus, dass der Iran in wenigen Jahren über Atomwaffen verfügt. Wir stehen kurz vor dem Abgrund, ein nuklearer Konflikt ungeahnten Ausmaßes droht, Israel plant bereits den Präventivschlag …»

      «Und Klein Adolf kehrt aus dem Kyffhäuser zurück und rüstet zum ultimativen Endsieg?! Tut mir leid, ich konnte mit Weltuntergangszenarien noch nie etwas anfangen. Alles heiße Luft.»

      Kehrtmanns Blick ruhte ruhig auf ihrem Gesicht. Er schätzte ihre Intelligenz, daran hatte er nie einen Zweifel gelassen, aber er vermisste zuweilen bei ihr den Mut, die Gesetze der beruflichen Logik außer Kraft zu setzen und das ganz andere zu denken. Martina wiederum spürte sehr genau, was er von ihr erwartete, aber sie hätte sich eher eine Pappnase aufgesetzt als zuzugeben, dass die Atombombendrohungen des Iran und die «Operation Barabbas» sie einen Dreck interessierten, solange sie die Ergebnisse ihrer ersten Nachuntersuchung noch nicht erhalten hatte. Ihr privater Krieg gegen den Krebs war das Einzige, was im Augenblick zählte. Vielleicht ahnte er das ja sogar, denn er wirkte für seine Art ungewohnt umgänglich.

      «Die Aktion Barabbas ein Fake?!»

      «Genau, ein Riesen-Fake!»

      «Gut, lassen wir vorläufig den Wahrheitsgehalt außer Acht und konzentrieren wir uns auf den Propagandawert und auf die Schlusspointe: Immerhin stellt Klimt uns ja seine Ermordung in Aussicht.»

      «Das glauben Sie doch selbst nicht!»

      «In sieben Tagen werden wir es wissen», entgegnete Kehrtmann lakonisch. «Aber um auf Ihre anfängliche Frage zurückzukommen, warum Sie eigentlich hier sind und nicht einer Ihrer historisch gebildeten Kollegen … Seinetwegen sind Sie hier.»

      Er ließ die Aufnahme der Rede ein wenig zurücklaufen, bis der Sekretär im Bild erschien.

      «Er ist unser Mann!»

      Ein schmaler Kopf, der habichtartig aus dem dunklen Anzug ragte. Schlanke Gestalt, durchtrainiert, Langstreckenläufer, vermutete Martina. Ein sehr agiler, ein sehr selbstbewusster Mann, der älter wirkte als er war und im Unterschied zu ihrem Chef trotz seiner arroganten Ausstrahlung etwas Anziehendes hatte, was genau, das konnte sie in ihrem Kurzscan seiner Person nicht herausfinden.

      «Klimt will sich umbringen lassen», fuhr Kehrtmann fort. «Gut für sein Buch, die Presse und das Boulevardfernsehen. Nur – er gibt keine Interviews vorab. Dieser Wilson schon. Er will uns ein Exklusivinterview geben. Jetzt fragen Sie mich nicht warum?! Alle anderen Blätter und Blogs sind jedenfalls außen vor. Und ich darf Ihnen versichern, diese Exklusivität hat uns keinen Cent gekostet. Die Pointe an der Sache», er setzte sein spöttischstes Grinsen auf, «hab ich Ihnen allerdings noch gar nicht verraten!»

      «Die wäre?» Martina rieb sich müde die Augen.

      «Er will dieses Interview nur mit Ihnen führen. Weiß der Teufel, warum.»

      «Mit mir?» Sie blickte Kehrtmann ungläubig an. «Er kennt mich doch gar nicht?!»

      «Fragen


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