Führerin. Gregor Eisenhauer

Führerin - Gregor Eisenhauer


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ihr dazu nie Anlass gegeben hatte. ‹Ein eigenwilliges Ding›, dachte er spöttisch. Er war sich gar nicht mehr sicher, ob er sie selbst töten würde, eigenhändig, das wäre ein fast zu intimer Abschied.

      Er schritt langsam die Treppe hoch. Links lagen die Zimmer der Kinder. Helmars Tür stand wie immer offen. Ihm Ordnung beizubringen war völlig sinnlos. Eine Künstlernatur ohne jeden Funken von Disziplin, in einem so heruntergekommen Körper, dass es ihn jedes Mal anwiderte, seinen Sohn sehen zu müssen. Lisa war anders, sie war stolz auf ihre sportliche Gestalt, zu Recht. Sie machte immer eine gute Figur. Beim Tennis, beim Hockey, beim Reiten. Für seine Tochter empfand er so etwas wie Stolz, sie schien neben ihm der einzige Mann im Haus. Über Klaus und was aus ihm werden würde, geworden wäre, mochte er erst gar nicht nachdenken.

      Rechts lagen die zwei Schlafzimmer, getrennt durch das Ankleidezimmer. Ihre Tür stand offen. Das leise Lachen war nicht mehr zu überhören. Es stammte von einem Mann.

      Ludwig von Hausen ging langsam auf die leicht geöffnete Tür zu. Er war sich ziemlich sicher über das, was ihn erwarten würde. Diese Situation hatte er in den letzten Jahren schon einige Male erlebt. Sie schlief mit ihren jeweiligen Favoriten gern im Schlafzimmer, sofern die Tür offen stand. Sie tat es aber auch im Wohnzimmer, im Garten, in der Küche. Das erste Mal, als er sie ertappen sollte, hatte sie sich von einem in Berlin nicht unbekannten Preisboxer in der Garage penetrieren lassen. Er fand kein anderes Wort dafür. Denn genau so sah es auch aus, nach einem gewalttätigen Eingriff.

      Er sah das gutmütig erstaunte Gesicht des Mannes noch vor sich, der Sekunden zuvor voll Stolz die Gattin des bekanntesten Anwaltes der Stadt gegen die sorgsam aufgestapelten Winterreifen gepresst hatte, den Rock gehoben, ihre langen Beine in den schwarzfelligen Pumps mit den Knien auseinandergedrückt, die eine Hand fest in ihrem Nacken, die andere auf ihrem hochgestellten Hintern.

      Der Mann trug Jeans, daran erinnerte er sich noch genau, und blaue Shorts, die ihm zwischen den Beinen hingen. Er ruckelte sich mit der Besessenheit eines Spitzensportlers in sie hinein, und von Hausen war damals fast versucht gewesen zu applaudieren, so sportlich schien ihm diese Veranstaltung. Wäre da nicht der Blick seiner Frau gewesen, die ihn von unten her unverwandt anstarrte. Er erkannte in ihren Augen etwas, was er so nur von sich zu kennen glaubte, Hass, reinen Hass.

      Der keineswegs ihm galt, das begriff er in der Folge, er galt dem Schicksal, das sie beide zusammengeführt hatte.

      Donnerstag, 8. März, 16 Uhr

       Invalidenstraße

      Nun drückte sie doch die Klingel des kleinen Musikladens. Sie wollte Lotta vom Musikunterricht abholen, obwohl ihre Tochter das streng verboten hatte.

      «Ich bin fünfzehn!»

      Das klang sehr komisch aus dem Mund ihrer Tochter, ihres Kindes, das immer noch so zerbrechlich schien, aber sich sehr energisch jeden Erziehungsversuch verbat.

      Lotta! Sie hatte so gar nichts mit dem Namen gemein. Damals hatte Becky gehofft, sie könnte ihrem Kind mit dem Namen die Stärke, die Kraft und die Unbekümmertheit einer Pippi Langstrumpf geben. Aber sie war alles andere als unbekümmert, sie machte sich über alles Gedanken, sie vernarrte sich so in Bücher, wie sie selbst es nie getan hatte. Lotta las nicht. Sie verschlang Bücher. Lebte darin. Die wirkliche Welt existierte gar nicht. Sie selbst schien für sie zuweilen nicht zu existieren. Lotta konnte minutenlang den Blick in die Ferne richten, so in sich konzentriert, dass sie keinen Zuruf wahrnahm, nicht einmal den nassen Waschlappen, den sie ihr aus schierer Verzweiflung einmal in den Nacken gepresst hatte, nur um sie aus dieser Trance zu wecken.

      Becky machte das Angst.

      «Du musst dir keine Sorgen machen!», ermahnte Lotta sie dann immer. Ihre Tochter war sehr streng mit ihr in letzter Zeit. Körperkontakt war verboten, dazu zählte nicht nur jede Form von Zärtlichkeit, sondern auch unabsichtliches Anfassen. Fleisch war verboten, schon lange, inzwischen auch Fisch, und jegliche Nahrung, die nicht aus ökologisch zertifizierten Ursprungsländern stammte. Schlechte Filme waren verboten, amerikanische Serien, deutsche Quizshows … Die Pubertät war eine schwierige Zeit, aber dass sie in Tyrannei ausarten würde, hätte sie nicht vermutet. Anfangs hatte sie das alles noch von der komischen Seite nehmen können, aber inzwischen machte ihr der heilige Ernst ihrer Tochter Sorgen. Zudem wirkte sie zunehmend blasser und vergeistigter in einer Art, die sie an fanatische Klosterschülerinnen erinnerte.

      «Wie steht es mit den Jungs?»

      Lotta hatte sie völlig entgeistert angestarrt.

      «Mama, was für dumme Fragen stellst du mir immer!»

      Sie hatte sich empört abgewendet und war in ihr Zimmer gerauscht. Becky sah ihr nur verdutzt hinterher. Mit fünfzehn hatte sie anderes im Kopf gehabt als Bücher. Ihr erster richtiger Kuss. Zungenkuss! Holger, sie hatte ihn fast zwingen müssen. Was für ein Dummkopf! Schade, dass sie so lange bei ihm geblieben war. Der erste Kuss hätte sie eigentlich eines Besseren belehren müssen. Das erste Mal?! Sie musste laut lachen und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Aber es waren nicht viele Passanten unterwegs. Sie sah zur Tramhaltestelle hinüber. Da saß immer noch dieser dicke Mann, völlig in sich gekehrt, ein Buddha in Jogginghosen, der schon die zweite Straßenbahn hatte passieren lassen. Er schien nicht betrunken zu sein, nur völlig teilnahmslos. Irgendwie kam ihr das Gesicht bekannt vor. Aber dicke beschäftigungslose Männer in Jogginghosen gab es in Berlin jede Menge, sie war schon froh, dass er sich nicht eingepinkelt hatte. Sie schüttelte den Kopf.

      Es gab immer mehr Verrückte in der Stadt. Auch der Gedanke machte ihr Sorgen. Anfangs hatte sie darüber gelächelt. «Ich werd wohl spießig im Alter», hatte sie sich selbst ermahnt. Aber es fiel ihr immer schwerer, U-Bahn zu fahren oder S-Bahn. Sie mochte die Menschen nicht mehr, sie mochte den Dreck nicht mehr, die Gerüche, die Schmierereien an den Wänden. Am schlimmsten fand sie die falsche Toleranz alldem gegenüber. Sie konnte nicht einsehen, was hip daran war, mit einer Bierflasche durch die Gegend zu laufen und sie irgendwo abzustellen, wo Kinder gut rankamen, oder sie einfach auf den Boden zu werfen. Das war nicht mehr ihre Welt. Anfangs hatte sie noch versucht, den einen oder anderen zur Rede zu stellen. Es waren ja keine Penner. Es waren Jugendliche, chic aussehende, teuer ausgebildete, behütet aufgewachsene Jugendliche, die sie einfach nur auslachten. Sie wollte ihre Tochter hier nicht großwerden sehen. Dabei war das noch der gute Teil der Stadt, die alte Mitte, wo jetzt die jungen Erfolgreichen wohnten, young urban cannibals.

      All ihre Freunde schimpften auf die jungen Reichen, die hier ihre Geländewagen auf dem Fußgängerweg parkten, Gourmettüten durch die Gegend wuchteten und spätnachmittags ihre viersprachig parlierenden Kinder von den Privatschulen in die Penthouse-Wohnungen heimführten.

      «Eigentlich will ich nur noch weg!»

      Es hatte sie verdammt viel Anstrengung gekostet, diesen einfachen Gedanken offen auszusprechen. Zu viel hing daran. Eigentlich ihre ganze Vergangenheit.

      «Ich habe nicht versagt!» Das Mantra ihres neuen Selbstvertrauens. «Ich habe nicht versagt!»

      So ganz glaubte sie sich noch nicht. Aber sie war auf einem guten Weg. Gut, sie hatte keine Beziehung, sie hatte ein altkluges Kind, das kaum noch Respekt zeigte, sie hasste ihren Job als Altenpflegerin, sie hatte kein Geld für ein neues Leben, den Mut auch nicht, und keinen Mann. Aber anderen ging es verdammt viel schlechter. Ihrer Freundin Inge zum Beispiel, mit dem kranken Vater, oder Heinz, der sich noch einmal zu einem Kind hatte überreden lassen, vermutlich weil er einen altmodischen Namen trug und immer stärker seinem Vater ähnelte.

      Sie sah auf die Uhr. Zehn nach vier. Sie hätte längst draußen sein müssen. Lotta war nicht unpünktlich. Lotta war nie unpünktlich. Lotta war so ganggenau wie eine Schweizer Uhr. Morgens stand sie eine halbe Stunde früher auf als nötig, um nochmals ihre Hausaufgaben durchzugehen. Nie hatte sie auch nur eine Schulstunde geschwänzt, noch nicht einmal den Wunsch geäußert. Lotta war ihr unheimlich zuweilen. Sie hatte die Sorge, dass sich das Kind zu viel abverlangte. Vermutlich weil sie sich selbst die Schuld an der Scheidung gab. Das hatte die Analytikerin damals gesagt. Lehrbuchratschläge. Die Kinder geben sich die Schuld an der Trennung! Unsinn. Sie wollte die Trennung und Lotta hätte


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