Führerin. Gregor Eisenhauer

Führerin - Gregor Eisenhauer


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hielt er sich natürlich nicht daran. Es fehlte wenig und er hätte vor ihrer Wohnung campiert. Sie lebte allein, das wusste er, sie hatte eine Beziehung, auch das wusste er, nicht den Tiroler Triathleten, das war schon lange aus, nein, irgendeinen Langweiler aus der Rechtsabteilung des Senders, für den sie seit einigen Jahren arbeitete.

      Sie war eine gute Redakteurin, sie sah besser aus denn je, sie hatte Erfolg, Freunde, warum sollte sie ihn sehen wollen?

      «Warum sollte Mum dich sehen wollen», das hatte Martina auch immer gefragt und natürlich wusste sie, welche Antwort die richtige Antwort gewesen wäre.

      «Glaubst du, sie würde dir je glauben, dass du ein anderer geworden bist. Das wird sie dir niemals glauben, Paps. Das wird dir niemand glauben, nie. Ich auch nicht.»

      Das meinte sie nicht böse. Das meinte sie einfach nur ehrlich. Martina hatte diesen Willen zur absoluten Ehrlichkeit. Deshalb war sie auch Reporterin geworden, was er ihr immer hatte ausreden wollen.

      «Das ist ein Scheißjob, wenn du ihn ernst nimmst, und es ist erst recht ein Scheißjob, wenn du ihn nicht ernst nimmst. Niemand liebt dich dafür, aber alle werden dich hassen!»

      Sie hatte nicht auf ihn gehört. Sie hatte es sich geradezu zum Prinzip gemacht, niemals auf ihn zu hören. Sie war eine treue, liebende, perfekte Tochter gewesen in all den Jahren, als er unzurechnungsfähig gewesen war, und auch in der Zeit danach, hatte sie sich regelmäßig um ihn gekümmert. Obwohl kein Anlass mehr zum Mitleid gegeben war. Aus Liebe tat sie es nicht. Sie tat es aus Pflichtgefühl. Sie sah in ihm den Vater, den es zu umsorgen galt, weil er ihr Vater war. Ein Pflicht der Natur, keine Sache des Herzens.

      Was seine Arbeit anbelangte – da hielt sie sich ganz und gar fern. «Du machst dein Ding, ich mach meins.»

      Immer wieder hatte er ihr vorgeschlagen zusammenzuarbeiten, ein gemeinsames Buch zu schreiben, gemeinsam Reportagen zu recherchieren, was auch immer, Hauptsache gemeinsam. Aber sie wollte es allein schaffen. Zwei Jahre ging sie nach Amerika, dann kam sie zu «Online». Er hatte längst keine Aussicht mehr auf einen neuen Vertrag, aber einfach so ignorieren konnte man seine Empfehlung auch nicht. Es war kein Liebesdienst, sie zu empfehlen, er hätte sie jederzeit angestellt, auch wenn sie die Tochter des Tiroler Triathleten gewesen wäre.

      Das sah sein Chef auch so. Kehrtmann war gar nicht so verkehrt. Er hüstelte verlegen über seinen schlechten Kalauer. Jedenfalls hatte er ihrer Einstellung sofort zugestimmt.

      Ihre Art zu schreiben war einzigartig. Truman Capote hatte das anfangs gekonnt, als ihn der Suff und der Größenwahn noch nicht in die Knie gezwungen hatten. Fakt und Fiktion verschmelzen. Poesie denken, aber Prosa schreiben. Nüchtern, sachlich näherte sie sich den Themen, aber mit einem so großen Einfühlungsvermögen, dass selbst ein Serienmörder menschliche Züge bekam – wenn sie es nur wollte.

      Aber dafür hatte sie einen hohen Preis zahlen müssen. Er war sich sicher, dass ihre Krankheit die Folge ihres Hangs zu kranken Themen war. Bosnische Vergewaltiger, albanische Mädchenhändler, deutsch-italienische Mafiosi, sie ließ ja nichts aus. Kein noch so krankes Thema. Aus Ekel war sie krank geworden. Aber wer wollte ihr das sagen, jetzt, da sie es schon wieder sich und ihm und Gott und der Welt beweisen musste, dass sie die Beste war. Es gab nur eine Chance, sie vor sich selbst zu retten, er musste ihr zuvorkommen. Und diesmal hatte er ein paar mehr Trümpfe in der Hand als gewöhnlich.

      Freitag, 9. März, 8 Uhr

       Lottas Schulweg

      Lotta hasste ihre Lehrer. Sie hasste ihre Mitschüler, sie hasste Berlin, sie hasste ihre Mutter, immer dann, wenn sie Fleisch aß. Sie hasste ihre Sportlehrerin, weil sie eine verdammte Sklaventreiberin war und nicht einsah, dass sie keine Lust auf Schwitzen hatte. Das war eklig. Sie hasste ihre Freundin Rena, weil sie immer dicker wurde und nur von Jungs erzählte. Sie hasste Vampire, sie hasste Amy Winehouse, weil sie sich so zugrunde gerichtet hatte. Sie hasste Drogen, Alkohol, Zigaretten, Hundescheiße auf der Straße, Fahrradfahrer auf dem Gehweg, bettelnde Penner und alle Politiker, weil sie nichts unternahmen gegen die Geldgier der Reichen.

      Sie hatte sich eine kleine Kladde angelegt, «Mein Hassbuch», in das sie alles eintrug, was sie verabscheute. Das war eine Menge, stellte sie befriedigt fest, nachdem sie über fünfzig Einträge gezählt hatte. «Du kannst stolz sein auf jeden Feind, denn nur die Starken suchen sich Gegner, nur die Schwachen Freunde!»

      Sie hatte lange über den Satz nachdenken müssen, und über die Menschen, die sie kannte, die alle viel zu feige waren und keinen einzigen Gegner hatten, nur Freunde.

      Ihre Freundin Rena wollte sich überall nur beliebt machen, und genau das Gegenteil war der Fall und aus Kummer wurde sie immer fetter und fetter.

      Ihre Mutter war auch nicht sehr stark, obwohl sie immer so tat. Klar, sie wusste, dass sie eine Menge am Hut hatte und dass es nicht einfach war für eine alleinerziehende Mutter, aber es hatte sie ja keiner dazu gezwungen.

      «Warum hast du mich denn damals bekommen, obwohl du ihn gar nicht mehr geliebt hast?»

      Becky war total baff gewesen, als sie ihr die Frage gestellt hatte. Das hätte sie nicht erwartet, dass ihre Tochter so plötzlich erwachsen wurde. Viel zu schnell erwachsen.

      «Was für eine Frage!», wich sie aus.

      «Warum denn, warum denn?», blaffte Lotta böse zurück. Sie wusste, sie hatte das Recht auf eine Antwort.

      Ohne den Orden hätte sie sich das allerdings nie getraut, ihrer Mutter so zuzusetzen. «I’ve got the power!», summte sie. Ein ziemlich gutes Gefühl, das sie bis dahin nicht gekannt hatte. Als sie das erste Mal in die Community kam, dachte sie, was für ein abgedrehter Film: «New Virgins.»

      Den Link hatte ihr eine Veganerin zugeschickt. «Wenn du wirklich ernst machen willst mit dem Kampf gegen die Fleischfresser, Kannibalen und Blutsaufer, geh da mal hin.»

      Erst war es gar nicht so leicht, Zutritt zu bekommen. Sie brauchte eine Patin und nachdem die sie empfohlen hatte, musste sie eine lange Liste mit ziemlich direkten Fragen beantworten.

      Worüber sie gern nachdachte, was sie gern las, was ihre Eltern gern lasen, wann sie das erste Mal gelacht hatte, wann sie das erste Mal geweint hatte. Da waren schwierige Fragen darunter und ganz einfache und es war total spannend gewesen, darüber nachzudenken. Sie wusste noch genau, wann sie das erste Mal gelacht hatte, aus vollem Hals und so laut, dass ihre Mutter schon Angst bekam, sie würde an dem Lachen ersticken.

      Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren war Becky mit einem kleinen süßen Kater angekommen, Karl-Heinz hatte sie ihn getauft, was natürlich total süß war, weil kein Kater hieß Karl-Heinz, der aber schon, denn er sah aus wie Karl-Heinz. Ein rot gestreifter kleiner Tiger, gar nicht so billig eingekauft bei einer ziemlich armen Frau in Hellersdorf, die sich das Katzenfutter nicht mehr leisten konnte.

      Sie hatte ihre Mutter damals mitleidig angesehen. Becky fiel immer auf solche Geschichten rein. Sie gab jedem Penner einen Euro, jedem Musikanten zwei und jeder alten Frau, die nach Alkohol stank, einen lieben Blick. Sie war schwach. Sie fand für alles und jeden eine Entschuldigung.

      «Entschuldige dich niemals!», war eine Ordensregel, die ihr sofort eingeleuchtet hatte, weil sie an ihre Mutter denken musste. Die entschuldigte sich für alles und jeden.

      «Was sollen wir denn mit einer Katze?», hatte sie damals gefragt. «Na, was wohl? Wir wollen sie knuddeln und lieben und in Ehren aufwachsen sehen. Ist er nicht total süß!» Genau in dem Moment, als sie das sagte, hatte sich Karl-Heinz seltsam breitbeinig auf Beckys Lesesessel gesetzt, war einmal mit dem Hintern hin und her geschrubbt und hatte dann gepieselt und gepieselt. Becky war schockstarr und Lotta hatte lauthals lachen müssen, sie konnte gar kein Ende mehr finden. Das war so typisch für ihre Mutter, so was von typisch. Sie hatte einfach immer Pech. Aber das konnte sie keinem anderen ankreiden als sich selbst. Sie war einfach zu schwach. Die Schwester Oberin hatte es ganz einfach und klar formuliert: «Versager versagen nicht weil die anderen es wollen, sondern weil sie es selbst wollen. Sie wollen versagen, sie wollen ihr Versagen eintauschen gegen Mitleid.» So wie ihre Mutter ihren Kummer eintauschen wollte


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