Führerin. Gregor Eisenhauer
Risiko-Job wie diesen würde sie nie wieder zu ihrer alten Stärke zurückfinden, sondern einfach nur Dienst nach Vorschrift leisten. Allerdings gab es im Fall Klimt so viele Risiken, dass er es fast schon wieder bereute, ihr den Fall übertragen zu haben.
Er kannte von Hausen, den Mafia-Anwalt, er war ihm mehrfach persönlich begegnet, und er hatte noch seine Ankündigung im Ohr, dass er ihn in nicht allzu ferner Zeit mit brisantem Material über einige Prominente der A-Liga versorgen würde. Von Hausen war ein rationaler Mensch. Ein Mord war ihm ohne Weiteres zuzutrauen, er hätte wie Abraham seinen eigenen Sohn geopfert, wenn die Organisation es verlangt hätte. Er nannte den Verein dieser Nazispinner immer nur die «Organisation», weil er einen professionellen Abstand wahren wollte. Aber diese Organisation hatte seit jeher ein oberstes Gesetz: im Hintergrund agieren. Sie würden niemals in den Verdacht kommen wollen, für den Mord an einer Unschuldigen verantwortlich zu sein.
Dennoch wusste er seit genau drei Stunden, dass Martina bereits observiert wurde. Das musste kein schlechtes Zeichen sein, es konnte auch eine Schutzwache sein. Was ihn nervös machte, war, dass diese Schutzwache nicht auf seiner Gehaltsliste stand. Er hatte keine Ahnung, wer dahintersteckte. Es konnte Klimt sein. Es konnte aber auch diese hochgradig verrückte Ayn Goldhouse sein. Die ging ihm allmählich wirklich auf die Nerven.
Das oberste Gesetz ihres Ordens war es von Anfang an gewesen, für Öffentlichkeit zu sorgen. Skandale zu initialisieren, wo immer es ging. Das war bislang ohne Blutvergießen vonstattengegangen – aber wie lange noch? Ayn Goldhouse hatte ein halbes Dutzend amerikanischer Politiker kaltgestellt, indem sie die Kerle mit herabgelassenen Hosen bloßstellte. Sie bediente die Presse mit Skandalgeschichten in Serie. Sein Verdacht war, sie produzierte die Skandale in eigener Regie. Das war für die Betroffenen peinlich, aber nicht tödlich. Zumindest hatte keiner den Mut gehabt, sich nach diesen Enthüllungsstorys selbst die Kugel zu geben. Klimt war da von einem anderen Format. Ihm traute er durchaus so einen Ehrentod von eigener Hand zu. Fragte sich nur, welche Leiche er im Keller liegen hatte. Dass da eine lag, dessen war er sich sicher.
Ayn Goldhouse wollte Klimt mit aller Gewalt zur Strecke bringen. Den Grund kannte er nicht. Aber ihr Jagdinstinkt hatte sie bislang noch nie in die Irre geführt. Das musste er anerkennen, auch wenn ihm diese Art von Fanatismus fremd war. Er spürte, dass sie es absolut ernst meinte. Und dass sie jeden liquidieren würde, der sich ihr bei diesem Vorhaben in den Weg stellte.
Kehrtmann kannte Martina, wenn sie einmal einen Fall übernahm, dann tat sie alles, um ihren Mandanten zu schützen, und zwar genau so lange, bis die Geschichte unter Dach und Fach war. Das konnte in diesem Fall verdammt viel zu lange sein. So jedenfalls würde sie sich ausdrücken. Und stur an der Sache weiterarbeiten.
Und er? Er würde alles tun, sie zu schützen. Das musste sie doch spüren: Dass all seine Bemühungen einen ganz einfachen Grund hatten. Ihr das Fluchen abzugewöhnen. Denn so konnte er sie doch nicht vor den Traualtar führen, fluchend. Er musste lächeln. Wie oft hatte er sich schon ihr Gesicht vorgestellt, wenn er vor ihr auf die Knie gehen würde: «Willst du meine Frau werden?» Sie mochte diese altmodische Art, dessen war er sich sicher. Er war sich nur unsicher, ob sie lachen oder weinen würde. Seinetwegen konnte sie auch beides tun, Hauptsache, sie nahm seinen Antrag an.
Er nahm den dünnen Sommermantel vom Hacken, warf ihn über den Arm und eilte zum Aufzug. Er hatte es plötzlich sehr eilig, an die frische Luft zu kommen. Sein Appetit war verschwunden, aber er verspürte plötzlich einen so heftigen Bewegungsdrang, dass er fast in den Laufschritt verfiel, als er die Friedrichstraße Richtung Checkpoint Charlie hinuntereilte. Sein Verfolger, ein dicker, asthmatisch schnaufender Mann, hatte Mühe, unauffällig nachzukommen.
Freitag, 9. März, 12 Uhr
von Hausens Villa im Grunewald
Er hasste seinen Vater. Er hasste seinen Vater auf eine so leidenschaftliche Weise, dass er manchmal selbst davor erschrak. Wenn er zurückdachte, war da nie ein anderes Gefühl gewesen. Seine früheste Erinnerung war, wie sein Vater ihm das Gesicht mit Schnee wusch. Er hatte geweint, weil ihm so kalt auf dem Schlitten war. Jahr für Jahr fuhren sie im Winter in den Schwarzwald. Sie wohnten in einem muffigen Holzhaus in einem finsteren Tal mit endlosen Tannenwäldern, durch die sie stundenlang wandern mussten. Sein Vater zog den Schlitten und abwechselnd durften sich er, seine Schwester oder sein Bruder darauf setzen. Das tat er allerdings nicht ihnen zuliebe. Das tat er der Kräftigung seines Organismus wegen. So drückte er sich aus. Kräftigung des Organismus. Stärkung des Lebenswillens. Unangreifbarkeit der Psyche. Hörte man ihm zu, befand man sich automatisch im Kriegszustand mit Gott und der Welt. Wobei, Gott gab es im Universum seines Vaters nicht, wie er schon bald herausfand. Er wäre nämlich gern in den Religionsunterricht gegangen. Aber er war nicht getauft.
«Warum bin ich nicht getauft?», hatte er seine Mutter gefragt.
«Wende dich an deinen Vater!», hatte sie nur entgegnet.
«Wende dich an deinen Vater», hatte er höhnisch ihre Worte wiederholt, wieder und wieder, «wende dich an deinen Vater!»
Er hatte tatsächlich all seinen Mut zusammengenommen, war – nachdem er pflichtschuldigst angeklopft hatte – ins Arbeitszimmer seines Vaters getreten und hatte ihn gefragt: «Warum bin ich nicht getauft?»
Sein Vater thronte hinter dem Schreibtisch und musterte ihn kalt. Er trug einen dunklen Anzug, wie immer, eine dunkle Krawatte und schnippte sich eine imaginäre Fluse vom Jackettärmel.
Im Laufe der Jahre verstand Helmar, was diese Geste wirklich bedeutete. Dieser Reinigungsimpuls galt ihm. Wann immer sein Vater ihn sah, wischte er irgendeinen unsichtbaren Partikel von seinem Anzug. Als wollte er ihn zum Verschwinden bringen.
Anfangs war er über die Frage fast verzweifelt, was genau sein Vater nicht an ihm mochte. Er tat alles, was ein kleiner Junge tun konnte, um seinem Vater zu imponieren.
Er trug eine ernste Miene zur Schau, benahm sich schon im Kindergarten wie ein Erwachsener, lachte so gut wie nie, redete altklug daher, erwog ein Jurastudium – und hörte doch nie ein gutes Wort. Seine Mutter war ihm gleichgültig. Sie war einfach eine Unperson. Vielleicht äffte er auch da schon seit Kindheitstagen seinen Vater nach. Bewusst war es ihm nicht. Seine Mutter zu verachten, schien ihm ein so natürliches, ein so zwingendes Gefühl, dass er nicht weiter darüber nachdachte.
Als er dann mitbekam, wie absichtsvoll und publikumsgeil sie seinen Vater betrog, war sie vollends für ihn gestorben. Seinen Geschwistern erging es ähnlich. Es war verrückt. Anstatt auf sie als Beistand zu hoffen, verfluchten sie gemeinsam ihre Anwesenheit in diesem Haus. Obwohl sie immer gut zu ihnen gewesen war. Sie umsorgt hatte. Sich um ihre Liebe bemühte. Die sie nie bekam. Weil sie ihr alle diesen Vater verübelten.
Was für ein Elternhaus! Außenstehende konnten nicht ahnen, welche Hölle ihr Leben war. Eine kalte Hölle.
Er hatte angefangen, täglich in der Bibel zu lesen. Das einzige Buch, in dem er eine Antwort finden konnte. Er wusste nicht, warum er sich da so sicher war. Vielleicht weil er jede Nacht gebetet hatte, dass da einer sein möge, der mächtiger war als sein Vater. Mächtiger und ein wenig gütiger.
«Gott ist gütig», hatte ihm ein Zeuge Jehovas vor dem Bahnhof Zoo anvertraut, «Gott ist gütig.»
Er hielt diese Broschüre wie eine Mahntafel weit von sich gestreckt und murmelte immer nur den gleichen Satz: «Gott ist gütig.» Helmar hatte lachen müssen über diesen seltsamen Mann mit seiner schlichten Botschaft, aber die Botschaft blieb in seinem Hirn, mehr noch, es war die einzige Botschaft, die je bis zu seinem Herzen vorgedrungen war.
«Gott ist gütig!»
Mit fünfzehn Jahren hatte er die Bibel von der ersten bis zur letzten Zeile durchgelesen. Er verstand nicht alles, aber er war sich sicher, es irgendwann verstehen zu können.
Was er sehr genau verstand war, dass sein Vater ins Alte Testament gehörte. Für ihn war Jesus nicht gestorben. Für ihn war er nicht geboren worden.
«Warum bin ich nicht getauft worden?»
Es war selten, dass sein Vater Erstaunen zeigte. Als er ihm damals