Führerin. Gregor Eisenhauer
Verachtung.
«Warum du nicht getauft worden bist?» Sein Vater musste die Frage offensichtlich wiederholen, um sich ihren Sinn verständlich zu machen.
Helmar stand und wartete. Es war klar, dass sein Vater ihm keinen Stuhl anbot. Die beiden Stühle, die da vor dem Schreibtisch standen, waren nur für Klienten. Es war auch absehbar, dass er ihn wie einen rückfälligen Straftäter einige Minuten stumm vor dem Schreibtisch stehen lassen wollte, damit er sich seiner Schuld bewusst wurde.
Der Schuld, seinen Vater gestört zu haben, der Schuld, sich eine unaussprechlich dumme Frage ausgedacht zu haben, der niemals zu tilgenden Schuld, diese Frage auch noch laut gestellt zu haben. Vor allem aber: der Schuld der Anwesenheit.
Er blickte sich Hilfe suchend im Zimmer um, während sein Vater ihn kalt fixierte. Er war selten in diesem Raum. Sein Vater schloss ihn nie ab, aber es verstand sich von selbst, dass die Kinder darin nichts verloren hatten.
Es war ein gewaltiger Schreibtisch, hinter dem er thronte, ein Erbstück des Großvaters, von dem Helmar nur wusste, dass er ein Nazi gewesen war. Geredet wurde nie darüber, aber es gab diesen kurzen Artikel in Wikipedia, der wenig mehr als seinen damaligen Rang mitteilte. Auf dem Schreibtisch standen eine massive gusseiserne Lampe und ein Briefbeschwerer aus Marmor, wohl auch ein Erbstück, denn er wirkte sehr klobig und sehr bedrohlich. Helmar mochte diesen Briefbeschwerer aus einem ganz einfachen Grund, er hatte sich schon oft vorgestellt, seinem Vater damit den Schädel einzuschlagen, und es war jedes Mal ein gutes Gefühl gewesen, dass es da etwas Härteres gab als den Dickkopf seines Vaters.
Sein Vater klappte den Laptop zu, er hatte immer das neueste Modell, immer einen Toshiba, die Marke der Samurais!, und dennoch hatte man das Gefühl, dass er sich bei jedem Auf- und Zuklappen darüber ärgerte, dass es keinen deutschen Computerhersteller gab.
Von sich aus wäre Helmar nie auf die Idee gekommen, heimlich in dieses Arbeitszimmer einzutreten, obwohl es der einzige Raum im Haus war, in dem Bücher standen. Seine Schwester las nicht, sein Bruder blickte nie von seinem Laptop hoch, so kam es ihm zumindest vor. Und er selbst las nur in der Bibel, die er in seinem Sportrucksack verbarg. Aber er wollte wissen, was sein Vater las, was er dachte, was er fühlte. «Unser Vater?» – sein Bruder hatte ihn bei der Frage angesehen, als wäre er irrsinnig. «Was unser Vater denkt oder fühlt oder macht oder kackt, ist mir scheißegal. Wenn du es unbedingt wissen willst, dann würde ich nicht auf seine Bücherwand starren, sondern seinen Laptop klauen!»
Als sein Vater auf einer seiner Auslandsreisen war, hatte er systematisch das Arbeitszimmer untersucht. Er wusste, es gab einen Safe hinter dem absurd kitschigen Heidebild links an der Wand, aber da war kein Rankommen. Er nahm alle Bände der Bücherwand rechts einzeln aus dem Regal, aber da war nichts, kein Kuvert, keine versteckten Zeitungsausschnitte, keine heimlichen Andenken. Nichts. Sauber aufgereiht standen die deutschen Klassiker in einer edlen blauen Leinenausgabe, unberührt. Er hätte schwören können, dass sein Vater nie einen Band davon in der Hand gehabt hatte. Das Gleiche galt für die Lexika. Ein deutsches, ein englisches und ein französisches. Wunderbar schwere Bände, nie angefasst. Dann hatte er sich den Schreibtisch vorgenommen. Sein Vater hatte nichts abgeschlossen. Er war sich wohl sicher, dass seine Kinder es nie wagen würden, seine privaten Sachen zu durchstöbern. Als Helmar alles durchgesehen hatte, war er sich auch klar darüber, warum sein Vater sich so sicher sein konnte. Es gab nichts Privates. Kein Bild, kein privater Brief, keine Pistole, nichts. In der einen Schublade Briefumschläge, in der anderen diverse Schreibutensilien, mehr nicht. Dieser Mann legte es darauf an, keine Spuren zu hinterlassen, aber warum hatte er dann Kinder gezeugt?
«Gott ist eine Ausrede. Eine Ausrede der Schwachen für ihre Schwäche.»
Sie hatten sich eine Weile unverwandt angestarrt. Sein Vater mit der gelangweilten Gelassenheit eines Richters, der sein Urteil längst gefällt hatte, weil er den Delinquenten in- und auswendig kannte. Er selbst mit dem ängstlichen Willen, ihm einmal, nur ein einziges Mal standhalten zu können.
Er hatte den Blick senken müssen. Als er nach einer Weile wieder aufsah, mühsam die Tränen unterdrückend, sah er den höhnischen Gesichtsausdruck seines Vaters. ‹Schwächling!› Dieser Gesichtsausdruck war nicht schwer zu übersetzen. «Mein Sohn ist ein pickliger Schwächling!»
In diesem Moment schwor sich Helmar, seinem Vater zu schaden, wo und wann immer er konnte.
Freitag, 9. März, 12 Uhr
Hotel Four Seasons, Ayn Goldhouses Appartement
Ayn Goldhouse ging nervös in ihrem Hotelzimmer auf und ab. Sie hasste es, nicht rauchen zu dürfen. Einen Moment überlegte sie, sich im Bad eine Zigarette anzuzünden, heimlich, wie damals bei ihren Zieheltern, aber das erschien ihr schwach und kindlich. Außerdem waren die Feuermelder im Bad vermutlich noch empfindlicher als die im Living Room.
Sie trat ans Fenster und zog den Vorhang beiseite. Sie könnte aus dem Fenster rauchen, aber auch das hieße, vor einem Verbot kuschen. Aber das würde sie nie wieder tun, vor irgendwem, vor irgendetwas kuschen. Sie presste die geballten Fäuste fest auf das Fensterbrett. Vor ihr lag der Gendarmenmarkt, der schönste Platz der Stadt, mit dem Deutschen Dom, dem Französischen Dom, dazwischen das ehemalige Theater, jetzt Konzerthaus. Nicht dass sie etwas für die bürgerliche Kultur übriggehabt hätte, aber die machtvolle Bebauung des Platzes imponierte ihr. Faszinierend, sich vorzustellen, wie die Größen des Dritten Reiches die Stufen des Theaters hochgeschritten waren, in ihrem Schlepptau all die Kriecher und Speichellecker.
Sie hatte das Four Seasons gewählt, weil sie hier einen guten Blick auf das Hotel hatte, in dem Klimt untergebracht war, schräg gegenüber von ihr, ebenfalls fünfte Etage, sie konnte ihm direkt ins Zimmer sehen. Leider öffnete er niemals die Vorhänge.
Er hielt sich ebenfalls gerade in seiner Suite auf, hatte ihre persönliche Assistentin gerade gesimst; sie und eine weitere Mitarbeiterin teilten sich seine Überwachung, rund um die Uhr. Sie war über alles informiert, was er tat.
Seit drei Jahren überwachte sie ihn, seit dem Tag, als sie seinen Tod beschlossen hatte. Sie hatte es ihm damals persönlich mitgeteilt, und seine Gelassenheit war erstaunlich gewesen. Er hatte auf seinen Todesengel schon gewartet. Dass sie es war, schien ihn nicht sonderlich zu entsetzen. Im Gegenteil, sie spürte, dass er sie körperlich anziehend fand. Das war keine Neuigkeit für sie. Alte Männer mochten ihre kindliche Art, denn dafür hielten sie ihre zur Schau gestellte Naivität, für Kindlichkeit. Diese Kindlichkeit war schon immer ihr einziger Schutz gewesen, und ihre beste Waffe. Selbst mit einundfünfzig wirkte sie noch wie eine frühreife Ballerina, die arglos durchs Leben tanzt und ansonsten Schutz und Sicherheit in der Achselhöhle des Maestros sucht. Ihr war noch kein Mann begegnet, der diese Empfindung, sie schützend in die Arme nehmen zu müssen, nicht gehabt hatte. Bei Klimt war sie besonders deutlich zu spüren. Auch das verübelte sie ihm. Sie hätte ihn für klüger gehalten.
Was tat dieser Mann, wenn er allein im Hotelzimmer war? Sie konnte es sich vorstellen, sie konnte es sich nur allzu gut vorstellen. Er übte sich schon einmal im Spiel «Toter Mann». Nein, dazu brauchte sie keine Spitzelberichte, um sich in ihn hineinzudenken. Zuweilen sah sie Bilder, von denen sie überzeugt war, sie nicht zu halluzinieren. Sie richtete einfach ihr inneres Auge wie eine ferngesteuerte Kamera in andere Räume, auf andere Menschen.
Sie sah Klimt, wie er auf dem Bett lag. Er war gerade aus der Dusche gekommen, hatte sich frottiert, bis seine speckige Haut rosa glänzte. Er trug nur ein Unterhemd, eine Unterhose, in Weiß selbstredend, und warme Strümpfe, denn seine Füße waren schlecht durchblutet. Durch die Socken stachen seine Fußnägel, er legte keinen Wert auf Pediküre. Er legte überhaupt keinen Wert mehr auf seinen Körper. Schnaufend ließ er sich aufs Bett fallen, faltete die Hände über seinem Bauch und starrte an die Decke. In seinen Zimmern war es immer überhitzt. Er war zu alt, zu unsportlich, um seinen Körper selbst auf Betriebstemperatur zu bringen. Das mussten andere für ihn tun.
Wie oft hatte sie Männer wie ihn so daliegen sehen?! Es war ihr lieb gewesen, wenn sie das Unterhemd anbehielten, denn sie mochte diese haarigen Brustkörbe nicht, an die sie danach immer gepresst worden war. Dieses Schnaufen, das den Körper hob und senkte,