Führerin. Gregor Eisenhauer

Führerin - Gregor Eisenhauer


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dachte sie, ‹bei dieser Beleuchtung hier könntest du Rotkäppchen nicht vom bösen Wolf unterscheiden.› Aber ein Kompliment war ein Kompliment und allzu viele hatte sie davon in letzter Zeit nicht bekommen. So schien es ihr in dem Moment zumindest. Ralf hatte den besten Tisch am Fenster gewählt, saß bereits da, als sie mit fünfminütiger Verspätung eintraf, half ihr aus dem Mantel, rückte den Stuhl zurecht.

      Er war perfekt.

      Sein Anzug saß gut wie immer, die Fingernägel waren frisch manikürt und ein kaum wahrnehmbarer Duft nach Herrenseife ließ sie insgeheim wohlig aufseufzen. Er war auf eine sehr altmodische Weise männlich, zumindest was sein Äußeres betraf. Vermutlich hätte er sogar eine Krawatte getragen, wenn dieses Date ihr erstes gewesen wäre.

      «Wie waren die letzten Monate so?», fragte er verlegen.

      «Super! Ich weiß nicht, was ich mehr vermisse, Strahlentherapie oder Chemo, beides shocking amusing! Von den feinfühligen Ärzten ganz zu schweigen.»

      Sie konnte es sich nicht verkneifen, ihm ein wenig sein Versagen vorzurechnen. Zwölf Monate hatte er sich nicht gemeldet. Exakt zwölf Monate. Gerade mal ein Jahr. Kein Mensch hatte je behauptet, dass man ewig in der Hölle schmoren muss, wenn man erfahren will, was Verdammnis ist. Zwölf Monate reichen, ein Tag hätte gereicht.

      «Ich musste oft an dich denken.»

      Sie schluckte, denn wenn dieser Blick geschauspielert war, dann war er ein verdammt guter Schauspieler. So viel treuherziges Bedauern hätte sie in seiner Fitness-First-Brust nie vermutet.

      «Martina, du weißt, ich bin kein sonderlich mutiger Mensch … Ich, ich wäre dir keine große Hilfe gewesen.»

      «Das weiß ich!»

      Fast war sie versucht, tröstend seine Hand zu tätscheln. Sie blickte sich Hilfe suchend um. Was, wenn er ohnmächtig wurde. Ihr schossen noch eine Reihe anderer dummer Gedanken durch den Kopf. Mentaler Selbstschutz. Wann immer die Rührung oder das Selbstmitleid oder die Verzweiflung von ihrem Denken Besitz ergreifen wollten, suchte sie nach Scherzen. Die billigsten waren die besten. Da blieb ihr das Lachen wenigstens nicht im Halse stecken.

      Sie hielt seinem mitleidigen Blick tapfer stand. Was nicht leicht war. Sie wusste noch gut, wie er sie das erste Mal angesehen hatte. Gierig. Davon war nicht mehr viel zu spüren. Er wirkte verkrampft, fast ein wenig ängstlich. Das musste er nicht sein.

      Er ahnte gar nicht, wie gut sie seine Feigheit nachvollziehen konnte. Er hatte Angst vor dieser Krankheit. Genau wie sie. Sie hatte immer noch eine furchtbare Angst. Anders als alle anderen, die so taten, als wäre das alles nur eine Frage der Zeit, der Therapie, der Einstellung. Das war es nicht. Wer einmal vom Blitz getroffen wurde, vertraut keinem Regenschirm mehr. Sie grinste bemüht burschikos.

      «Das weiß ich, Ralf, das weiß ich nur zu gut.»

      Hätte sie damals fliehen können, sie wäre bis ans Ende der Welt geflohen und hätte die Krankheit einfach daheim gelassen. Wie einen zu schweren Koffer, den man nicht braucht. Sollte sich doch ein anderer damit abschleppen! Was ging sie das an? Aber nein, es war ihre Krankheit. Ihr verdammter Krebs. Ihr ganz persönlicher. Danke sehr auch! Ihr Krebs! Vor dem sie höllische Angst hatte. Immer noch. Genau wie er. Dafür liebte sie ihn. Nein, dafür liebte sie ihn nicht. Dafür respektierte sie ihn. Er schien ihr ehrlicher als alle anderen, die so taten, als wäre sie gesund, geheilt, auf dem besten Weg zurück ins alte Leben, das es nicht mehr gab. Dafür war er der beste Zeuge. Wann immer er sie ansah, war ein Vorbehalt in seinem Blick zu spüren. Als hätte die hübsche Porzellanpuppe einen Riss. Den Riss gab es. Aber er konnte ihn unmöglich sehen. Das wollte sie ihm beweisen. Es gab nichts mehr zu sehen, was an ihre Krankheit erinnerte. Deswegen würde sie mit ihm schlafen. Vielleicht verschwand dieses verdammte Mitleid dann. Wenn auch nur für einen Moment.

      «Und jetzt lass uns bitte nicht mehr darüber reden! Vorbei und vergessen! Wie ist es dir denn so ergangen? Erstickst du nicht langsam am eigenen Erfolg?!»

      «Du wirst lachen», er wand sich kokett, «die Geschäfte gehen selbst für einen wie mich nicht mehr so gut. Kosten senken, Kosten senken, Kosten senken. Dass selbst Trash Geld kostet und guter Trash gutes Geld kostet, will den Controllern nicht in ihr kleines Buchhalterhirn.»

      Ralf war ein Genie des Billigformats. Mit Gerichtsserien hatte er angefangen, dann Nannys auf Erziehungsreise durch Unterklasse-Gettos geschickt, dann war er in den Zoo gewechselt, Tierpflegerfilmchen drehen, Löwe, Fledermaus und Co., das alles war billig und traf den Nerv der Zuschauer. Ohne Geld auf Ibiza, Kochen mit Promis, das Modell und der Freak. So war sie sich auch immer vorgekommen an seiner Seite. Als Freak. Denn noch harmloser als er konnte man nicht auf andere wirken. Er sah nicht aus wie ein Nerd, im Gegenteil, aber von seinem Charakter her war er ein kleiner Junge, der immer nur das tat, was ihm Spaß machte. Natürlich musste auch was dabei herausspringen. Aber den eiskalten Geschäftsmann ließ er sich nicht anmerken. Das war eindeutig seine Stärke: perfekt inszenierte Naivität.

      Die Steaks kamen. Sie mochten sie beide blutig. Das war ihr schon beim ersten Mal aufgefallen, damals waren sie auch hier im Grill Royal gewesen. Freunde hatten ihn dazugeladen, damals, sie wusste gar nicht mehr, warum, irgendein Termin wegen der Berlinale, und sie beide waren die Einzigen gewesen, auf deren Tellern Blutspuren zu sehen waren. «Blue rare! Klingt wie ein Jazzstandard», hatte er gescherzt, als er die angewiderten Blicke der anderen am Tisch sah. Fleisch war schon okay, aber es musste durchgebraten sein.

      «Ich versteh nicht, wie man so etwas runterkriegt. Das ist rohes Fleisch von einem lebenden Tier», hatte sich seine damalige Begleitung mokiert. Eine Nachrichtensprecherin aus dem Vormittagsprogramm, die vor allem durch ihr feuchtes Lispeln auffiel. Martina hatte sie danach noch einige Male zufällig im Nachmittagsfernsehen gesehen und sich jedes Mal aufs Neue gewundert, wieso die Sender bevorzugt Nachrichtensprecherinnen mit Sprachfehlern einstellten.

      Ansonsten war sie nett und hübsch – und strohdoof.

      «Süße, jede Form von Kalorienverbrauch ist Kannibalismus», hatte er nur trocken entgegnet und Martina komplizenhaft zugeblinzelt. «Aber verrate das nicht deinen Zuschauern!»

      Natürlich war eine Riesendiskussion über Trennkost, Schonkost, Fleischvermeidungskost entbrannt, eins dieser kommunikativen Strohfeuer, die nur dazu dienten, den Beteiligten kurzzeitig so etwas wie wärmende Aufgeregtheit zu verschaffen. Ernsthaft interessiert war keiner.

      Auch Mrs. Daisy, so hatte sie die Nachrichtensprecherin insgeheim getauft, ging es nicht um die armen Tiere, sondern um ihren schönen Teint, den sie auf rein pflanzlicher Basis besser erhalten zu können glaubte. Ab und an ein wenig Koks schien auch nicht zu schaden, dachte sie wohl, denn sie verschwand einige Male, um ihr designerdesigntes Näschen zu pudern.

      Martina verkniff sich die Frage, was aus ihr geworden war. Ralf wärmte keine alten Liebschaften auf, das war nicht seine Art. Außerdem, Mrs. Daisys gab es im Fernsehen und beim Film Hunderte, und jede von ihnen hätte ihm liebend gern dabei assistiert, wenn er sein T-Bone-Steak sezierte. Vegetarierin hin oder her.

      Das Dessert kam. Er schwieg eine Weile, sah ruhig aus dem Fenster, hinaus auf die Spree, die so dunkel wirkte und ihr immer ein wenig Angst machte, als trieben Selbstmörder darin. Jetzt würde er sie gleich fragen, ob er ihr nach dem Nachtisch noch einen Espresso bei sich zu Hause anbieten könne. Damit wollte er ihr Zeit geben, sich innerlich aufzuwärmen. Kommunikatives Vorspiel. Was gar nicht nötig war. Sie wollte raus hier. Sie wollte zu ihm.

      Ralf räusperte sich ein wenig verlegen. So schüchtern kannte sie ihn gar nicht.

      «Ich hab gehört, du und dein Vater, ihr seid an dem Klimt-Fall dran?!»

      Freitag, 9. März, 7 Uhr

       Claasens Wohnung

      Die Tage begannen immer gleich. Er wachte auf, starrte an die Decke und wünschte sich einen Hund. Einen kleinen, niedrig gewachsenen Collie, der pflegeleicht war und intelligent, und ihm einen Grund gab, aufzustehen und vor die Tür zu gehen.

      Es gab keinen. Es gab keinen Hund. Und es gab keinen


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