Führerin. Gregor Eisenhauer

Führerin - Gregor Eisenhauer


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zu stehen, egal auf wessen Kosten. «Ichichich», das war die einzige Melodie gewesen, die er pfiff, weil, singen konnte er schon gar nicht. Sex erst recht nicht. Hätte sie damals nur ihr Augenmerk ein wenig mehr auf das gerichtet, was ihr heute als Erstes einfiel, wenn sie an ihn dachte. Seine Eitelkeit, seine penible Ordnungsliebe und – das Schlimmste von allem – sein Geiz.

      Wie viele unglaublich peinliche Situationen hatte sie mit ihm durchleben müssen! Wenn er keine zehn Cent Trinkgeld gab, wenn er mit ihr im Restaurant darüber stritt, wer die gemeinsame Flasche Mineralwasser zahlen sollte, wenn er am Kindergeld so lange herumrechnete, bis er drei Euro einsparen konnte. Diesen Mann hatte sie geliebt. Vermutlich weil sie gehofft hatte, dass er verlässlich wäre. Verlässlicher als ihr eigener Vater, der sich erst gekümmert hatte, als das Enkelkind da war.

      «Wie dumm bin ich eigentlich?» Sosehr sie über sich selbst lachen konnte – bei dieser Frage blieb ihr manchmal das Lachen im Halse stecken.

      Ich klingele jetzt! Sie ermahnte sich noch einmal zur Zurückhaltung. Bis siebzehn zählen. Fünf Passanten freundlich zunicken. Drei Fahrradfahrern auf dem Gehweg streng hinterhersehen. Sie wurde ihrer Mutter immer ähnlicher. Anfangs hatte sie dieser Gedanke noch erschreckt. Das war es genau, was sie immer gehasst hatte, diese selbstgerechte Art. Anderen Fehler vorzuwerfen und die eigenen partout nicht sehen zu wollen. Aber verdammt, so viele Fehler machte sie auch wieder nicht. Zumindest fuhr sie nicht auf dem Gehweg und nervte harmlose Fußgänger. Sie zahlte Steuern, obwohl sie kaum etwas verdiente. Versuchte ihr Kind gut zu erziehen, obwohl es störrischer war als ein alter Esel, und sie mühte sich, auch sonst ein guter Mensch zu sein. Auch wenn es schwerfiel. Gerade wenn sie an ihren Vater dachte. Da war noch dieser Brief, der seit Tagen auf ihrem Schreibtisch lag, und den sie nicht öffnen wollte, weil sie genau wusste, von wem er kam. Sie kannte diese herrischen Schriftzüge nur allzu gut, Hunderte Briefe hatte sie von ihm bekommen, ein Dutzend hatte sie gelesen, dann war sie es leid geworden, seine Vorwürfe und Versprechungen, die sich so durchschaubar abwechselten, nein, sie konnte es nicht mehr ertragen. Sie mochte nicht einmal daran denken.

      ‹Warum geht diese verdammte Tür nicht auf?!› Sie klingelte.

      Wo blieb Lotta?

      Sie klingelte und klingelte.

      Nichts tat sich. Sie ließ den Daumen auf der Klingel. Hörte das helle Bim-Bim-Bim im hinteren Raum. Endlich Schritte.

      Der Gitarrenlehrer trat an die Tür. Ein junger Mann von so schlaksiger Art, dass man wirklich Angst hatte, er könnte jeden Moment zusammenknicken und in seine Einzelteile zerfallen.

      «Frau Blumich! Hallo!»

      Er war immer so freundlich und fröhlich. Ohne Drogen eigentlich nicht machbar.

      «Hi, Sven!» Sie duzte ihn konsequent. Beim Siezen hätte sie lachen müssen.

      «Ich wollte eigentlich Lotta abholen!»

      «Die ist doch schon seit zehn Minuten weg! Die Stunde geht doch nur bis vier!»

      Er sah sie sehr altklug an. Als ob schon der Verdacht auf Alzheimer bestünde.

      «Das weiß ich, Sven!» Sie wusste auch, dass Lotta zuweilen den Hinterausgang benutzte, nur hatte sie diesmal nicht daran gedacht. «Lotta ist …» Sie nickte in Richtung Hof.

      «Yoh! Sie wollte noch ’ne Kleinigkeit einkaufen und dann direkt nach Hause. Da ist sie jetzt auch bestimmt, im Supermarkt!» Dieser kleine Kifferaffe dachte tatsächlich, er könnte sie beruhigen. Eine wahnsinnige Wut stieg plötzlich in ihr auf, und irgendwie spürte er das, denn er trat einen Schritt zurück.

      «Na, dann bis zum nächsten Mal», presste sie mühsam hervor und drehte ihm den Rücken zu. Die Tür fiel verdammt schnell ins Schloss.

      ‹Du leidest schon unter Verfolgungswahn›, flüsterte sie sich zu. ‹Ruhig jetzt und schimpf sie nicht aus, da gibt es keinen Grund zu.› Sie überlegte noch kurz in den Supermarkt zu gehen, um Kleinigkeiten für das Abendessen zu kaufen, aber sie traute Sven nicht so ganz. Sie wollte sicher sein, dass ihre Tochter zu Hause war. Jetzt, sofort. Lotta würde nie ohne sie in den Supermarkt gehen. Warum auch?

      Beim Überqueren der Straße fiel ihr auf, dass der dicke Mann gar nicht mehr im Wartehäuschen saß. Seltsam, dachte sie, er wirkte so, als gehörte er da für immer hin.

      Solche Menschen musste es auch geben, die immer wissen, wo sie hingehören.

      ‹Mensch, Mensch›, dachte sie, ‹Mensch, Mensch, du grübelst zu viel, das führt zu nix Gutem! Selbstgespräche auch nicht!›

      «Hallo, Süße!»

      Lotta saß am Tisch und studierte ihren Stundenplan.

      «Morgen hab ich fünf Stunden und Sport. Sport nervt. Frau Rüdiger nervt. Ich versteh nicht, warum sie mich immer anmeckert. Das ist so ungerecht. Ich will da nicht mehr hin. In der Zeit könnte ich genauso gut was anderes machen. Mathe, oder Ethik, oder Physik.»

      «Hallo!»

      Jetzt endlich hob Lotta den Kopf und sah ihre Mutter einen Moment verdutzt an, weil sie das zweite Hallo für nicht sehr logisch hielt. «Ich hab doch schon Hallo gesagt!»

      «Aber hast du mich dabei auch angesehen?»

      «Muss ich das? Gibt’s was Neues zu sehen?»

      «Werd nicht frech, Süße!»

      Lotta hatte schon wieder abgeschaltet und den Kopf über ihren Stundenplan gebeugt, als gäbe es nicht Wichtigeres auf der Welt. Becky sah auf den dünnen Nacken ihrer Tochter und eine Welle mütterlicher Fürsorge durchflutete ihren Körper. Sie schien manchmal so zerbrechlich, so blass, so ganz aus Porzellan. Dann wieder dieser Sturkopf. Diese Art, sich ganz und gar einzumauern und keinen an sich heranzulassen.

      Keine Ahnung, wie das weitergehen sollte.

      «Hast du schon gegessen?»

      Keine Regung. Sie schien die Frage einfach nicht gehört zu haben.

      «Süße, hast du schon gegessen?!»

      «Mannoh, jetzt nerv doch nicht dauernd!»

      Lotta blickte entrüstet auf. Ihr schmales Gesicht hatte sich zu einer wütenden Grimasse verzogen. Das konnte sie gut. In null Sekunden auf hundertachtzig. Genau wie ihr Vater. ‹Was hat meine kleine süße Tochter eigentlich von mir geerbt›, fragte Becky sich, als sie in die kindliche Fratze vor ihr sah. In diesen Momenten war ihr ihre eigene Tochter fremder als jedes andere Kind auf dieser Welt. ‹Irgendwas muss sie doch von mir haben!›

      «Essen! Es geht nur ums Essen. Und dass du groß und stark wirst. Also: Tofu oder Fisch?»

      Lotta sah schon wieder auf ihren Stundenplan. Die Arme hatte sie weit abgewinkelt, als könnte sie so die Woche in die Länge ziehen. ‹Was für dünne Arme!›, dachte Becky und stutzte plötzlich. Sie trat näher an den Tisch und fasste die rechte Hand ihrer Tochter. Lotta sah erbost auf und versuchte sich aus dem Griff ihrer Mutter zu lösen.

      «Lass meine Hand los!»

      Becky hielt die Hand ihrer Tochter fest. Zog sie ein wenig näher an sich heran.

      «Seit wann hast du ein Tattoo?»

      Donnerstag, 8. März, 20 Uhr

       Grill Royal

      Martina war sich klar, worauf das Ganze hinauslief. Wenn Ralf sie zum Essen in den Grill Royal lud, dann deshalb, weil es von da nur zehn Minuten zu ihm nach Hause waren. Er war in seinen Avancen nie sonderlich kompliziert gewesen, das hatte ihn auf Anhieb so sympathisch gemacht. Ralf war ein gradliniger Egoist. In dieser Beziehung konnte man sich absolut auf ihn verlassen. Wenn er sagte: «Blas mir bitte einen», dann meinte er das auch ernst. Das war viel Wert in der Hauptstadt der Heuchler. Zudem war er pünktlich, auch das eine Tugend, die sie sehr schätzte. Und er stellte sich beim Sex nicht allzu dumm an. Das war sie von Männern sonst nicht gewohnt gewesen.

      «Wie geht es dir?»

      «Gut!»


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