Norderende. Tim Herden

Norderende - Tim Herden


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II

      Sie müssen sofort kommen. Am Kino liegt ein Toter!“, rief Dora völlig außer Atem.

      Rieder kratzte sich am Kopf und wiegte den Kopf hin und her. „Ich bin eigentlich nicht zuständig. Ich habe frei. Sie müssten sich bitte an Herrn Damp wenden.“

      „Zuständig, zuständig ... Wo sind wir denn hier? Da liegt ein Toter, und Sie erklären sich als Polizist für nicht zuständig. Wir sind hier doch nicht auf dem Finanzamt!“ Die Augen von Dora Ekkehard blitzten vor Zorn. Sie stemmte ihre Arme in die Hüften des kompakten Körpers.

      „Haben Sie schon versucht, Damp zu erreichen?“

      „Habe ich! Mailbox!“

      Ole Damp war wie Rieder Inselpolizist auf Hiddensee und seit kurzem Revierleiter. Beide verband eine innige Hassliebe. Rieder hatte keine Lust, die schwelenden Machtkämpfe im kleinen Inselrevier neu anzufachen. Damp hatte Bereitschaft, und er würde es Rieder sehr übel nehmen, wenn er sich in seine Kompetenzen einmischte. Andererseits war Rieder klar, bei einem ungeklärten Todesfall konnte man nicht einfach Dienst nach Vorschrift machen.

      „Haben Sie schon Dr. Möselbeck angerufen?“

      „Der schickt mich doch! Möselbeck hat gesagt, Peter Stein ist nicht eines natürlichen Todes gestorben. Da muss die Polizei her.“

      Rieder nickte und war aber zugleich verwirrt. Er ging davon aus, dass es sich um einen Zuschauer aus dem Kinopublikum handelte. Woher kannte Dora Ekkehard den Namen des Toten? „Ein Herr Stein?“, fragte Rieder.

      Dora Ekkehard starrte Rieder an, als wäre er ein Außerirdischer. „Mensch, da liegt Peter Stein! Der Bauunternehmer!“

      Rieder zuckte mit den Schultern. In sechs Monaten konnte man selbst auf einer kleinen Insel wie Hiddensee nicht jeden Insulaner kennen. Mit einem Peter Stein hatte er jedenfalls noch nichts zu tun gehabt. Aber wenn Möselbeck ein Verbrechen vermutete, musste er jetzt wohl handeln.

      „Warten Sie einen Moment ...“ Er ging in sein Haus, um seine Sachen zu holen. Drinnen versuchte er, Damp zu erreichen. Er tippte die Nummer seines Kollegen in sein Telefon. Es klingelte. Dann meldete sich aber nur die Mailbox. Jetzt gab es nur noch eine Chance.

      Rieder wählte die Nummer von seiner Freundin Charlotte Dobbert. Sie betrieb im südlichen Inselort Neuendorf das Strandcafé. Dort war Damp Stammgast. Nachdem es dreimal geklingelt hatte, ging Charlotte ans Telefon. „Hallo, kommst du bald?“, säuselte Charlotte ins Telefon. „Ich habe schon fast alle Gäste abgefüttert.“

      „Sieht schlecht aus“, bemerkte Rieder.

      „Warum?“ fragte Charlotte, und Rieder spürte körperlich ihre Enttäuschung.

      „Kann ich dir jetzt leider nicht erklären. Sag mal, sitzt Damp bei dir?“

      „Ph, komm doch her und schau selbst nach ...“, antwortete sie zickig.

      „Charlotte! Es ist wichtig!“

      „Okay. Er sitzt genau vor mir und ertränkt gerade seinen Frust im zweiten Bier.“

      „Na prima. Kannst du ihn mir mal geben?“

      „Was ist denn eigentlich los?“

      „Charlotte, ich brauch’ mal Damp. Dringend!“

      Er hörte, wie das Telefon über die Theke gereicht wurde. Charlotte Dobbert bemerkte spitz: „Hey, Damp, Mister Wichtig aus Vitte!“

      „Sie haben frei“, begrüßte Damp seinen Kollegen.

      „Und Sie haben Bereitschaft!“, gab Rieder zurück.

      „Wollen Sie mich kontrollieren?“, brauste sein Kollege auf.

      „Wieso sollte ich? Wenn Sie mal einen Blick auf Ihr Telefon werfen, werden Sie sehen, dass schon andere nach Ihnen verlangt haben. In Vitte liegt ein Toter am Zeltkino. Ein gewisser Peter Stein. Möselbeck meint, Sie sollten sich das mal ansehen.“

      „Was? Wer?“, brüllte Damp ins Telefon. Dann hörte Rieder das Rascheln von Damps Uniform. Irgendetwas fiel zu Boden. Vermutlich das Diensthandy. Der Hörer von Charlottes Telefon flog auf die Theke und aus der Ferne drang ein „Ach, Scheiße!“ an Rieders Ohr.

      „Damp! Damp!“, rief Rieder ins Telefon, aber es antwortete ihm Charlotte. „Der ist mit seinem Handy beschäftigt.“

      „Sag ihm, er soll nach Vitte fahren. Wir treffen uns am Zeltkino.“ Da war aber schon wieder Damp am Telefon. „Ich hab’ das völlig überhört“, stotterte Damp, „und es gibt keinen Zweifel? Es handelt sich um Peter Stein?“

      Rieder bestätigte es. „So sagt es die Kinobesitzerin, Frau Ekkehard. Sie steht hier bei mir im Garten.“

      „Das gibt Ärger!“

      „Warum? Wer ist denn dieser Peter Stein?“

      „Na, der Bauunternehmer!“

      „Und?“

      „Er ist der beste Freund des Bürgermeisters.“

      Da klingelten auch bei Rieder die Alarmglocken.

       III

      Die Neugierde hatte Malte Fittkau zu Rieders Haus getrieben. „Mensch, Dora, was machste hier schon wieder für einen Krach?“

      „Kümmer dich um deinen eigenen Kram!“, raunzte sie Fittkau an.

      Fittkau und Ekkehard waren ebenfalls Nachbarn. Ihre Grundstücke stießen hinter Rieders Haus aneinander. Sie verstanden sich aber nicht besonders gut. Immer wieder gab es Streit. Jetzt ging es um einen umgestürzten Baum. Ein Frühjahrssturm hatte eine Erle auf Doras Grundstück umgeknickt. Der Baum war aber auf Maltes Wiese gekracht und hatte seine Äste in die Wiese gebohrt. Wochenlang war nichts passiert. Dora hatte behauptet, keine Säge zu besitzen, um den Baum zu zerkleinern. Malte hätte eine gehabt, aber sie war zu stolz, ihn zu fragen.

      Irgendwann hatte es Malte Fittkau gereicht. Er hatte den Baum zersägt und das Holz in einen seiner zahlreichen Holzschober gestapelt. Das hatte wiederum Dora auf die Palme gebracht. Sie hatte Fittkau wegen Diebstahls angezeigt. Es war Rieder äußerst peinlich gewesen, Malte Fittkau vorzuladen und zu vernehmen. Sein Nachbar hatte geltend gemacht, dass er nach altem Hiddenseer Strandrecht gehandelt hätte. Immerhin wäre der Baum auf seinem Grundstück gestrandet, wie ein Schiff am Strand, und damit sei das Holz nun sein Eigentum. Er würde es auf keinen Fall zurückgeben. Rieder unternahm nun eine Art Pendeldiplomatie zwischen den Grundstücken seiner beiden Nachbarn. Er versuchte einen Kompromiss zu finden. Aber Dora wollte das Holz zurück, und Malte wollte es behalten. Die Fronten waren verhärtet. Beide gingen sich auf der Insel aus dem Weg. Malte benutzte nicht mehr seine Gartenpforte am Wiesenweg, wenn er zum Supermarkt oder zum Strand wollte. Er nahm nun immer den zweiten Ausgang seines Grundstücks an der Sprenge, auch wenn das ein Umweg war. Dora Ekkehard tat es ihm gleich. Auch ihr Grundstück hatte einen Ausgang zum Wiesenweg und zur Sprenge. Eigentlich war es über die Sprenge kürzer, die neu ankommenden Filme bei der Insellogistik im Vitter Hafen abzuholen. Doch nun fuhr sie mit ihrem Fahrrad immer durch den Wiesenweg. Passierte es, dass sie sich an der Kreuzung Wallweg und Wiesenweg begegneten, dann schaute jeder in die entgegengesetzte Richtung. So war ihr Gespräch das erste, das beide seit Monaten miteinander führten.

      Rieder kam gerade aus dem Haus, als sich die beiden angifteten. „Ich hoffe, du erstickst an deinen stinkenden Aalen!“, stichelte Dora. Fittkau nahm das Erlenholz zum Räuchern, und Rieder hatte den Verdacht, so ganz ungelegen war ihm der umgestürzte Baum nicht gekommen.

      „Da kannst du lange warten. Ich warte immer noch, dass du mir den Schaden auf meiner Wiese bezahlst. Kannst ja die Kinopreise erhöhen, wenn du nicht flüssig bist.“

      Rieder ging dazwischen. „Immer mit der Ruhe!“, rief er. Malte und Dora starrten ihn an.

      „Können wir los?“, fragte er die Kinofrau.


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