Norderende. Tim Herden
„Danke, Damp, dass Sie mich gleich angerufen haben. Haben Sie schon eine Spur?“
Statt des Revierleiters antwortete Rieder. „Wir stehen erst ganz am Anfang. Wir müssen abwarten, ob die Spurensicherung vielleicht noch etwas entdeckt. Die Kollegen können aber erst morgen kommen. Das wird also sicher schwierig ...“
„Wo ist es denn passiert?“
Rieder zeigte in Richtung Strandwald: „Da hinten, an einem alten Kahn.“
Durk schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist sein Kahn. Peters Kahn. Früher sind wir damit oft rausgefahren, haben Heringe geangelt. Eimerweise haben wir sie aus der See geholt ... Das ist alles schon so lange her ... Kann ich mir den Tatort ansehen?“
„Das ist keine gute Idee“, erwiderte Rieder vorsichtig. „Wir würden unseren Kollegen die Arbeit noch weiter erschweren.“
„Ich verstehe ... Peter und ich ... wir waren Schulkameraden, haben in der gleichen Bank gesessen, von der ersten bis zur zehnten Klasse. Hier in der Inselschule.“ Durk schüttelte den Kopf, als könne er es immer noch nicht fassen.
„Hätten Sie denn einen Verdacht? Wenn Sie ihn so gut kannten ...“, fragte Rieder.
Schulterzucken. „Keine Ahnung. Ich kann mir so etwas auf unserer Insel immer gar nicht vorstellen. So ein schönes Fleckchen Erde. Er hat die Insel sehr geliebt.“ Durk sprach mehr zu sich selbst und schaute dabei in Richtung Tatort. „Tja ... ich versteh’ es nicht ... Er hat so viel Gutes für Hiddensee getan.“
‚Da übt wohl schon einer für die Trauerrede‘, dachte Rieder im Stillen. Dafür hatte er jetzt aber keine Zeit. Es ging bereits auf Mitternacht zu. Sie mussten noch das Pärchen befragen, das die Leiche entdeckt hatte, Dora Ekkehards Aussage aufnehmen und die Ehefrau über den Tod ihres Mannes informieren.
„Verzeihen Sie, aber wir müssten noch ein paar Dinge erledigen“, unterbrach er Durk.
„Ja, ja, machen Sie Ihre Arbeit. Wenn Sie Hilfe und Unterstützung brauchen, meine Tür steht Ihnen offen.“ Dabei schlug er Rieder kumpelhaft auf die Schulter. Dann drehte er sich um und ging schweren Schrittes davon.
„Der ist ganz schön getroffen.“
„Klar. Stein war die Stütze seines Systems“, meinte Damp leise.
IV
Dora Ekkehards kleines Reich hinter der Rückwand des Kinos bestand aus zwei Räumen. In der kleinen Kammer, die auch gleichzeitig als Verkaufsschalter diente, konnte man kaum treten. An der Wand gegenüber der Tür stand ein riesiger Kühlschrank, daneben die Kästen mit Bier und Erfrischungsgetränken. Unter dem großen Fenster rechts, an dem sie die Kinokarten verkaufte, waren Kartons mit Chipstüten und Süßigkeiten gestapelt. In der Mitte stand ein alter Drehstuhl. Damit konnte sie alle Zutaten für einen zünftigen Kinobesuch erreichen. Im Vorführraum standen drei große Projektoren. Die Schriftzüge und Namen der Firmen deuteten auf ein längst vergangenes Zeitalter. Obwohl die Vorführung nun schon seit fast zwei Stunden vorbei war, war es hier drinnen immer noch heiß und stickig. Auf einer kleinen Bank an der Wand saßen dicht gedrängt Birte und Markus. Er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Sie hielt krampfhaft eine Tasse in der Hand.
Rieder stellte Damp und sich vor. Damp war hinter Rieder in den engen Vorführraum getreten. Eigentlich war für ihn gar kein Platz mehr. Die Abluft der immer noch heißen Projektoren nahm ihm den Atem und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Außerdem bekam er Platzangst. Er quälte sich wieder zurück zur Tür. „Ich warte einfach draußen. Außerdem muss die Aussage von Frau Ekkehard noch aufgenommen werden.“ Damp drehte sich um und marschierte hinaus.
Rieder wandte sich den beiden Zeugen zu. „Sie haben also den Toten entdeckt?“
Birte und Markus berichteten, wie sie auf den Pfad abgebogen waren, sich auf den Kahn gesetzt hatten und Birte mit dem Fuß an den Toten gestoßen war. Danach waren sie zum Zeltkino gerannt. Dort hatten sie Dora Ekkehard von ihrem Fund erzählt. Die Kinofrau hatte dann gleich versucht, den Inselarzt zu erreichen.
„Als der Arzt da war, sollten wir hier warten. Und sie ist mit ihm zu dem ... Toten“, erzählte Birte. „Sie kam noch einmal zurück, um uns Bescheid zu sagen, dass sie die Polizei holen müsste. Seitdem sitzen wir hier.“
„Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen? Vor oder nach der Vorstellung?“
Beide sahen sich an und schüttelten dann den Kopf. „Wir wollen einfach nur nach Hause“, bat Birte ängstlich. „Das war so schrecklich. Wie er da lag.“ Die Frau war den Tränen nah.
„Ich kann Sie verstehen. Aber ich habe leider noch ein paar Fragen. Gab es einen Grund für Ihren Ausflug ins Strandwäldchen? Der Weg endet doch da einfach.“
Birte und Markus erröteten leicht und schauten betroffen auf den Fußboden. Markus fand zuerst die Sprache wieder. „Wir wollten noch ein bisschen allein sein.“ Er machte eine kurze Pause. „Nach dem Film!“
„Aber da hätten Sie doch auch an den Strand gehen können?“
„Ich meinte, völlig allein.“
„Mensch! Sind Sie so schwer von Verstand!“, platzte es aus Birte wütend heraus. „Warum will man allein sein? Im Dünenwald? Mondlicht. Sternenhimmel. Mein Gott!“
Rieder musste grinsen, ein wenig auch über seine eigene Begriffsstutzigkeit. „Schon klar. Und auf dem Weg dorthin? Ist Ihnen da jemand begegnet?“
Beide schüttelten den Kopf.
„Waren Sie davor schon mal dort?“
„Ja, ich“, antwortete Birte. „Im vergangenen Jahr habe ich dort ein paar Fotos von dem Boot gemacht. Es sah so schön aus, wie es von dem Efeu so langsam überwuchert wurde. Zwei Zweige rankten sich über den Kiel ...“
„Haben Sie die Fotos noch?“
„Klar.“
„Hier?“
„Ich müsste nur auf meinem Computer nachschauen. Den habe ich im Häuschen.“
„Ach, Sie wohnen hier auf der Insel?“
„Nein, wir sind im Urlaub bei Freunden, deren Familie hier auf der Insel ein kleines Ferienhäuschen besitzt. In der Dünenheide.“
„Das wäre nett. Bliebe noch die Frage: Kannten Sie den Toten?“
Markus schüttelte den Kopf. „Nein! Wir kennen hier auf der Insel niemanden außer unseren Freunden.“
„Und in der Dunkelheit haben wir doch auch gar nichts richtig gesehen“, ergänzte Birte.
„Woher wussten Sie denn, dass er tot ist?“
„Das wussten wir doch nicht! Wir sind einfach losgerannt. Hierher, um Hilfe zu holen. Das haben wir Ihnen doch schon gesagt“, erklärte Markus, der langsam ungeduldig wurde. „Könnten wir endlich nach Hause? Unsere Freunde werden sich schon Sorgen machen.“
„Klar. Wir bringen Sie hin. Dann weiß ich auch gleich, wo ich Sie finde, damit Sie die Aussage unterschreiben können und falls es noch ein paar Fragen gibt.“ Rieder notierte die Telefonnummern. Die beiden würden noch bis Ende der Woche auf der Insel bleiben.
Damp hatte inzwischen die Aussage von Dora Ekkehard aufgenommen. Die Polizisten verglichen kurz ihre Notizen. Sie stimmten überein.
Auch die Kinofrau drängte zum Aufbruch. „Ich würde dann auch gern die Bude zumachen. Wenn es nichts weiter gibt ...“
„Momentan nicht.“ Rieder und Damp verabschiedeten sich von ihr. Sie ließen Birte und Markus in den Polizeiwagen einsteigen und fuhren davon.
„Was nun?“, fragte Damp. Sie hatten das Pärchen bis zum Häuschen ihrer Freunde gebracht. Es lag versteckt hinter ein paar Bäumen am Beginn der Dünenheide, ziemlich nah am Strand. In dem Holzhäuschen hinter den schmalen