Norderende. Tim Herden
Institution auf der Insel. Seit über vierzig Jahren betrieb sie zwischen Mai und Oktober das Zeltkino auf Hiddensee. Rieder selbst konnte sich noch erinnern, wie er Ende der sechziger Jahre als Kind mit seinen Eltern und seinen Brüdern auf der Insel Urlaub gemacht hatte. Schon damals verkaufte Dora die Karten für das Kino an dem kleinen Holzschalter vor dem großen halbrunden Zelt. Rieder wusste sogar noch den Titel des Films, den er mit seinem Bruder gesehen hatte: „Husaren in Berlin“. Mit Manfred Krug. Doras Gesicht hatte sich ihm eingeprägt. Er hatte sie deshalb sofort wiedererkannt, als er sie das erste Mal als Polizist auf der Insel wiedertraf. Einige der Urlauber in den Ferienwohnungen in der Nähe des Zeltkinos hatten sich bei der Polizei über den Lärm der Filmvorführungen bei den Spätvorstellungen beschwert. Dora war wütend geworden. „Dann sollen sie doch im Atombunker Urlaub machen. Da ist es hübsch still. Oder soll ich vielleicht Stummfilme zeigen, damit diese Typen ihre Ruhe haben?“ So war sie. Direkt und geradeheraus.
Sie bogen am Rathaus auf die Hauptstraße ein. Hier am nördlichen Ende des Ortes hieß sie Norderende. Das südliche nannten die Hiddenseer dementsprechend Süderende. An der Bernsteinwerkstatt fuhren sie nach links. Ein schmaler Pfad führte zwischen dünnen Bäumchen und Gestrüpp zum Kino. Im Dunkeln wirkte der Weg auf Rieder unheimlich. Auf dem kleinen Vorplatz standen einige Grüppchen herum. Sie diskutierten heftig miteinander. Gleichzeitig mit Rieder und Dora kam auch Damp mit dem Streifenwagen der Inselpolizei an. Das rotierende Blaulicht sorgte für neue Aufregung. Damp sprang aus dem Auto und stürmte auf Rieder zu: „Gibt’s schon was Neues?“
„Wir sind auch gerade erst angekommen.“
„Haben Sie schon Durk angerufen?“, fragte der Inselpolizist beinahe ängstlich. Michael Durk war der Inselbürgermeister.
„Noch nicht. Wir sollten erstmal die Lage klären.“ Rieder wandte sich an Dora Ekkehard. „Gehen Sie doch mal voraus zum Kino. Sie kennen sich ja aus.“
„Er liegt nicht im Kino.“ Dora zeigte in Richtung Strand. „Er liegt hinten im Dünenwäldchen.“
Gemeinsam bahnten sie sich den Weg durch die Menschen. Die ersten Gerüchte machten bereits die Runde.
„Die sollen einen erschossen haben.“
„Ich hab’ gehört, die haben ein altes Gerippe gefunden. Soll wohl noch ’ne Uniform anhaben.“
„Nee, das ist ein angetriebener Schwarzer, wahrscheinlich ein Asylant.“
„Na das hat uns gerade noch gefehlt, dass das jetzt hier so anfängt wie im Mittelmeer ...“
Vor dem Pfad zum Dünenwäldchen blockierte der Krankenwagen den Weg. Der Fahrer saß rauchend im Auto. Als er Rieder, Damp und Ekkehard kommen sah, winkte er kurz, startete das Auto, damit die drei vorbeikonnten auf den Pfad.
Damp hatte eine Taschenlampe aus dem Polizeiwagen mitgebracht, doch als er sie nun anschalten wollte, um in der Dunkelheit den Weg zu beleuchten, blieb sie dunkel. Immer wieder schob er fluchend den Schalter vor und zurück. Nichts tat sich.
„Kein Wunder, wenn Sie nachts immer so viele Bußgeldbescheide ausstellen“, meinte Rieder lakonisch Er spielte auf die Lieblingsbeschäftigung seines Kollegen an. Mit Übereifer sorgte er sich um die Verkehrssicherheit der Fahrräder. Das Hauptverkehrsmittel auf der Insel. Dazu legte er sich besonders gern nachts am Rande der Straßen zwischen Neuendorf, Vitte und Kloster auf die Lauer, um uneinsichtige Insulaner und überraschte Urlauber zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie auf ihren Rädern ohne Licht über die Insel fuhren. Rieder war zu Ohren gekommen, dass er es in einer der letzten Nächte besonders arg getrieben haben musste. Vierzig Bußgeldbescheide sollte Damp bei seiner nächtlichen Kontrolle ausgestellt haben. Wahrscheinlich war deshalb die Batterie der Taschenlampe leer. Damp widersprach: „Ach Quatsch, das mache ich doch im Auto. Die Batterie muss feucht geworden sein.“
„Dann wird auch bald die Batterie vom Steifenwagen leer sein“, prophezeite Rieder. Auch wenn Damp täglich den etwas altersschwachen Passat benutzte, um die wenigen Kilometer zwischen seiner Wohnung in Neuendorf und dem Revier in Vitte zu fahren, reichte das bestimmt nicht aus, um die Autobatterie wieder aufzuladen.
Damp begann die Taschenlampe im Dunkeln auseinanderzuschrauben. „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, dass Sie hier anfangen, die Lampe zu reparieren“, empörte sich Rieder.
„Ich will mir doch nicht den Hals brechen.“
„Das ist jetzt Schicksal. Wir müssen weiter. Möselbeck wartet auf uns. Frau Ekkehard kennt hier doch jeden Stein. Oder?“
„Ich denke schon“, antwortete Dora.
Vorsichtig gingen sie Schritt für Schritt auf dem Weg weiter. Nach fünfzig Metern tauchte die leuchtend rote Jacke des zweiten Sanitäters auf. Hinter ihm standen auch schon mehrere Leute, die von der Strandseite neugierig schauten, was passiert sei. Der Sanitäter strahlte mit einer Taschenlampe die Polizisten an und wies dann mit seinem Arm ins Wäldchen. „Hier entlang. Passen Sie auf die Wurzeln auf.“ Sie folgten dem Pfad und sahen bald ein Glühen. Es war Möselbeck, der Inselarzt. Er saß auf dem umgekippten Kahn und rauchte seine Pfeife.
„Tach zusammen, oder besser: Gute Nacht!“ Er stand auf. „Dann wollen wir mal.“
In Berlin hätte die Spurensicherung mit großen Scheinwerfern den Tatort taghell erleuchtet. Hier auf Hiddensee musste das flaue Licht der alten DDR-Stabtaschenlampe, Typ „Artas“, reichen, um den Toten in Augenschein zu nehmen.
Der Mann lag neben einem Angelkahn. Rieder erschien der kahle Schädel des Toten riesig. Die Augen waren weit aufgerissen, der Mund leicht geöffnet, als sei er über etwas sehr erstaunt. Die Kleidung wirkte eher schäbig, zur Insel passend. Rieder erinnerte sich, den Mann ab und zu auf der Insel und auch im Rathaus gesehen zu haben.
„Peter Stein. Siebenundfünfzig Jahre alt, achtzig Kilo schwer, einsachtzig groß“, stellte Möselbeck den Toten vor. „Vielleicht wäre es mir gar nicht so unnormal erschienen, dass er hier liegt. In seinem Alter ist ein Herzinfarkt nicht unüblich. Und Stein war ein Arbeitstier. Bluthochdruck ist eine Erbkrankheit in der Familie.“
Möselbeck machte eine kurze Pause. „Aber?“, fragte Rieder.
„Stein hat sich gerade durchchecken lassen in der Uniklinik Greifswald. Gestern habe ich ihm den Befund mitgeteilt“, erklärte der Inselarzt. „Alles okay. Herz, Lunge, Magen. Keine stillen Infarkte. Kein Magengeschwür. Nicht mal das Cholesterin war zu hoch. Wenn, dann hatte er nur ein, aus Männersicht würde ich sagen, das kleine Problem.“ Er sah Rieder und Damp vielsagend an und krümmte seinen ausgestreckten Zeigefinger.
„Impotent!“, rief Damp laut und hielt sich gleich die Hand vor den Mund.
„Zeugungsunfähig.“
„Na und? Seine Frau ist doch auch nicht mehr die Jüngste. Wollte die etwa noch Kinder?“
Möselbecks Blick zu Damp machte, selbst im schwachen Licht der Taschenlampe deutlich, was er von Damps Bemerkung hielt. Er hockte sich hin und winkte den Polizisten, es ihm gleich zu tun.
„Dann habe ich das hier entdeckt.“ Möselbeck beleuchtete die linke Gesichtshälfte des Opfers. „Sehen Sie die kleine Blutung?“
Der Arzt hielt den Strahl der Lampe auf die Schläfe. „Dort muss er einen Schlag abbekommen haben. Ziemlich heftig. Wahrscheinlich war er nicht gleich tot, aber bald.“
Sie standen wieder auf. „Ich will jetzt hier in der Dunkelheit auch nicht groß rummachen an dem Toten, Temperatur messen und so. Aber gefühlt ist er höchstens eine Stunde tot. Wie gesagt, der Schlag muss ihn nicht gleich erledigt haben.“
„Das bedeutet, Tatzeit und Todeszeit sind nicht identisch“, wandte Rieder ein. „Können Sie vielleicht in etwa sagen, wie viel Zeit zwischen dem Schlag und seinem Tod vergangen ist?“
Möselbeck schüttelte den Kopf. „Das kann nur eine Obduktion klären.“ Er stand auf. „Also Ihr Fall, meine Herren.“
„Aber was machen wir jetzt?“, fragte Damp in die Runde. Rieder nahm sein Telefon. „Ich rufe Behm an.“